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FORSCHUNG/2185: Gleichgewicht - auf Staub gebaut (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 3/2009

Gleichgewicht - auf Staub gebaut

Von Tim Schröder


Ob Knochen, Zähne oder Perlmutt - die Evolution hat für jede Aufgabe das passende Material erfunden. Davon zeugen auch die Otoconien: winzige Steinchen im Gleichgewichtsorgan, deren Struktur, Entstehung und Funktion Rüdiger Kniep, Direktor am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Desden, untersucht. Damit könnte er auch helfen, Störungen des Gleichgewichtssinns zu behandeln.


Dass Rüdiger Kniep zu den Otoconien kam, ist einer dieser seltenen Zufälle. 1985 klopfte ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt an seine Labortür in Düsseldorf. Er stellte Kniep ein Gläschen auf den Tisch. Ein wenig Staub war darin, Otoconien, nur wenige Mikrometer große Partikel aus dem Gleichgewichtsorgan eines Meerschweinchens. Kniep hatte noch nie davon gehört. Er ist Festkörperchemiker. Er erforscht, wie sich Atome zusammenfügen, wie sie aneinanderbinden oder wie sich neuartige Kristalle bilden. Kniep forscht an den Grundlagen der Chemie, weit weg vom Gleichgewichtsorgan der Säugetiere.

Doch Kniep hatte etwas, was es damals nur in wenigen Labors gab - ein Rasterelektronenmikroskop, eine jener mannshohen Apparaturen, die winzige Objekte mit einem Elektronenstrahl abtasten und damit kleine Strukturen sichtbar machen - die Oberfläche von Kristallen oder Borsten am Ameisenbein. Der HNO-Mediziner wollte damit Otoconien aufnehmen und enträtseln, wie sie aufgebaut sind und funktionieren. Kniep schlug ein. Sein Assistent machte einige Dutzend Bilder. Eigentlich wäre das alles gewesen. Doch als Kniep die Bilder sah, durchzuckte es ihn: Die staubkorngroßen Krümel entpuppten sich als perfekte geometrische Körper; dicke kleine Reiskörner, deren Spitzen auf drei Seiten abgeplattet sind.


Biomineralien stecken auch in Zähnen und Knochen

Gewöhnlich wachsen perfekte Kristalle in Gesteinen oder im Reagenzglas. Zucker und Salz bilden Kristalle. Und meist sind diese ausschließlich von ebenen Flächen begrenzt. Die Otoconien aber sind zugleich rundlich und an ihren Spitzen von ebenen Flächen begrenzt. Derart Ungewöhnliches entsteht im Ohr.

Ein Jahr lang grübelte Kniep, wie es der Organismus schafft, Otoconien wachsen zu lassen. Wie finden die biologischen Mineralien im Körper ihre Form? Er dachte über den inneren Aufbau nach, brütete stundenlang über den Bildern, er zeichnete - und packte den Aktenordner schließlich unverrichteter Dinge in den Schrank. Der Laboralltag musste weitergehen. Damals waren Halbleitermaterialien ein großes Thema und die waren nicht weniger spannend.

Wahrscheinlich wäre die Otoconien-Akte für immer im Archiv verschwunden, wenn es im Sommer 2006 nicht diesen einen Zufall gegeben hätte: Schon längere Zeit hatte Rüdiger Kniep nicht mehr nur die Eigenschaften von metallisch leitenden oder halbleitenden Materialien erforscht, sondern damit begonnen, Biominerale zu untersuchen, die harten Naturstoffe, aus denen Zähne oder Knochen wachsen. Vor allem mit Apatit hatte er experimentiert - einem Mineral, das in Gesteinen, aber auch in Knochen und Zähnen vorkommt. Es besteht vor allem aus Calcium und Phosphat. Wird es im Zahn verbaut, kommt noch ein wenig Kollagen hinzu - große Eiweißmoleküle, die als Gerüststruktur dienen, an die sich der Apatit anlagert. Komposite nennt man diese organisch-mineralischen Verbünde.


Rundliche Reiskörner mit abgeplatteten Spitzen

Tatsächlich gelang es dem Forscher, künstlichen Zahnschmelz zu erzeugen - und daraus eine Art Reparaturkitt für Zähne zu entwickeln. Doch Kniep genügte das nicht, denn der Apatit im Zahn enthält zusätzlich Carbonat. Wer naturgetreuen Apatit erhalten will, füge dem Experiment also eine Prise Carbonat hinzu, dachte sich Kniep. Tagelang ließ er in seiner Laborapparatur Calcium, Phosphat, Carbonat und andere Agenzien über Gelatine, die aus nichts anderem als Kollagen besteht, strömen. Als er schließlich die entstandenen Feststoffe untersuchte, traute er seinen Augen nicht. In der Apparatur fand er nicht nur Apatit-, sondern auch winzige Calcium-Carbonat-Kristalle. Und die hatten eine ihm sehr vertraute Form: rundliche Reiskörner mit abgeplatteten Spitzen! Ein Déjà-vu. 21 Jahre nach dem Besuch des HNO-Arztes hatte das Experiment künstliche Otoconien hervorgebracht - so präzise und schön wie ihre natürlichen Vettern. Kniep war elektrisiert.

Der Forscher schnappte sich den alten Aktenordner und schlug erneut das Kapitel Otoconien auf. Jetzt wollte er endgültig herausfinden, mit wem er es da zu tun hatte. Die Zutaten kannte er nun. Viel mehr aber wusste er nicht. Kniep arbeitete sich durch die Literatur. Das Ergebnis war erstaunlich. In 20 Jahren hatte sich kaum jemand mit dem Thema befasst. "Man wusste, wo Otoconien sitzen, wie sie aussehen, und hatte eine ungefähre Ahnung von ihren Inhaltsstoffen und ihrer Funktion - das war alles", sagt Kniep.

Schon lange war bekannt, dass Otoconien im Labyrinthorgan im Innenohr sitzen, dem Gleichgewichtsorgan der Säugetiere und des Menschen. Das Organ gleicht einer abstrakten Tuba mit mehreren Windungen. Die Otoconien ruhen in zwei wenige Millimeter kleinen mit Flüssigkeit gefüllten Kammern, den Maculae, auf einer Art Gelkissen. Winzige Halteseile, Fibrillen, halten die Otoconien in Position auf dem Kissen. Darunter ragen, durch eine dünne Schicht getrennt, feine Sinneshärchen auf. Bekannt war bereits, dass die Otoconien als Beschleunigungssensor arbeiten - als winzige Massen, die ihre Lage verändern, wenn sich Kopf und Körper bewegen. Diese Bewegung übertragen sie auf die Sinneshärchen. Wie die Mikrometerkrümel, die Otoconien - zu Deutsch der "Ohrenstaub" - wachsen oder wie sie im Detail arbeiten, blieb aber offen.

Kniep machte sich daran, den Ohrenstaub zu erkunden. Zunächst sah er den künstlichen Otoconien im Labor beim Wachsen zu. Kniep ist seit 1998 Direktor am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden. Sein Biomineral-Labor ist sauber, überschaubar und vor allem kostengünstig, sagt er. Denn weder die Apparate noch die Agenzien sind teuer - Calcium, Phosphat, Carbonat oder auch Fluor sind Allerweltschemikalien. Als Kollagen-Komponente nutzt der Forscher Gelatine, die er in Wasser auflöst.

Eines der wichtigsten Geräte ist das U-Rohr, in dem Kniep und seine Mitarbeiter Komposite züchten. Das besteht aus zwei L-förmigen Glasschenkeln, die zu einem U zusammengesteckt werden. In der Mitte sitzt das Gelatine-Gel. Die beiden Schenkel befüllen die Chemiker mit Chemikalienlösungen, deren Inhaltsstoffe ins Gel diffundieren und dort zum Feststoff reagieren. Auf diese Weise entstanden Knieps erste Otoconien, und ganz ähnlich ließ er auch die Nachfolger wachsen. Die Detailuntersuchungen sind dann allerdings aufwendig - und vor allem wegen der Analyseapparate recht teuer.


Wachstumsprozess im Labor entschlüsselt

Um die einzelnen Wachstumsstadien zu analysieren, stoppte Kniep die Kristallbildung zu verschiedenen Zeitpunkten. Dann legte er die Krümelchen unter das Elektronenmikroskop. Auch das brachte eine kleine Überraschung. Die Otoconien aus dem U-Rohr wachsen in unterschiedlichen Richtungen unterschiedlich schnell. Zuerst wachsen von einem zentralen Punkt aus sechs Kegel, die sich im Zentrum alle mit ihren Spitzen berühren. Jeweils drei orientieren sich zu einer Seite. Um das Zentrum entwickelt sich der Bauch, der langsamer wächst als die Kegel.

Zwar sind die künstlichen, der Natur nachempfundenen "biomimetischen" Otoconien etwas größer als die natürlichen "biogenen", sie wachsen aber ebenfalls innerhalb nur weniger Tage. "Natürliche Otoconien sind bereits etwa sieben Tage nach der Geburt zur vollen Größe herangewachsen", sagt Kniep. Danach finden keine Neubildungen oder Wachstumsveränderungen mehr statt. Für Kniep war das auch ein Hinweis darauf, dass seine gezüchteten Calcit-Körnchen durchaus mit dem natürlichen Vorbild vergleichbar sein könnten. Erkenntnisse aus dem Labor dürften sich damit am Ende vielleicht sogar auf die Natur übertragen lassen.

Kniep ist Grundlagenforscher und gesteht durchaus ein, dass Außenstehende seine Forschung auf dem Gebiet der Festkörperchemie meist als wenig spannend empfinden. Chalkogenide - Metallverbindungen mit Sauerstoff, Schwefel, Selen und Tellur -, Nitride und andere Verbindungen, oder Wachstumsbedingungen und Eigenschaften von kristallinen Stoffen liegen weit abseits des Alltags. Doch bei den Biomineralien ist das anders. "Ich habe mir damals mit dem System Apatit - Gelatine gezielt ein Thema herausgesucht, das nah am Menschen ist. Knochen- und Zahnbildung. Das ist spannend. Das ist mein Hobby", sagt Kniep. "Ich hoffe, etwas beizutragen, was dem Menschen unmittelbar nützen kann."


Minerale in der Nahrung bestimmen das Zahnmaterial

Letztlich war es sein Mineralogie-Professor, der Knieps Blick unbewusst auf die Biominerale lenkte, lange bevor das Thema größere Bedeutung erlangte. "In meiner Mineralogie-Diplom-Prüfung 1971 hat mich mein Professor gefragt, was denn wohl der Grund dafür sei, dass unsere Zähne aus dem Mineral Apatit bestünden und nicht aus Quarz, der ja viel härter sei", erzählt Kniep. "Ich habe damals irgendetwas von pH-Wert und Säure im Mund gemurmelt."

Natürlich gibt es eine plausible Erklärung. Calcium und Phosphat nimmt der Mensch permanent über die Nahrung auf, jene Elemente, aus denen der Apatit besteht. Gleiches gilt für Carbonat, den Baustoff des Calcits. Quarz hingegen besteht aus Siliziumdioxid, aus Sand, den der Mensch in gelöster Form eher selten zwischen die Zähne bekommt. Es liegt also nahe, dass der Organismus deshalb nicht Quarz, sondern Apatit synthetisiert. "Sicher ist, dass die Natur nichts ohne Grund macht. Die Wahl der Baumaterialien, die Form von Zähnen oder Otoconien sind das Ergebnis der Jahrmillionen langen Optimierungsprozesse der Evolution. Und wir versuchen die Frage zu beantworten, worin der Vorteil liegt", sagt der Forscher.

Nachdem die Wachstumsexperimente im Labor enthüllt hatten, dass die Otoconien aus zwei verschiedenen Strukturen bestehen, dem Bauch und sechs mit ihren Spitzen aufeinanderstehenden Kegeln, drang Kniep tiefer in ihre Struktur ein. Er zerschnitt die Körnchen direkt im Übergangsbereich zwischen dem Bauch und den Rhomboedern an den Enden der Otoconien. Im elektronenmikroskopischen Bild zeigte sich, dass das genau richtig war, denn Bauch und Rhomboeder besitzen eine gänzlich andere Feinstruktur.


Poröser Bauch wirkt als Schwimmreifen

Der Bauch ist porös, und die Kollagen-Fasern liegen in ihm nur schlecht geordnet. Die Rhomboeder aber, die sich aus den anfänglichen Kegeln an den Enden der Otoconien bilden, sind dicht von parallel ausgerichteten Biomolekülen durchzogen, die senkrecht durch die glatten Flächen stoßen. Kniep ahnte, welchen Grund das haben könnte. Der poröse Bauch nimmt vermutlich Macula-Flüssigkeit, also Endolymphe, auf und wirkt als eine Art Schwimmreifen. Die dichten und massereichen Rhomboeder an beiden Enden des Reiskorns hingegen könnten als Pendelgewichte wirken, die auf Beschleunigungen reagieren und die Otoconien entsprechend kippen oder rotieren lassen.

Kniep hat damit eine erste Erklärung für die unterschiedlichen Strukturen und Dichten im Bauch und in den Enden der Otoconien. Vor einiger Zeit hat er die Keimbildung von Apatit an Gelatine, dem Zahnbaustoff, simuliert. Darin lagern sich jeweils drei Proteinmoleküle zu einer Tripelhelix aneinander, einer länglichen Dreifachschraube. An diesen Dreifachschrauben bilden sich dann nur wenige Nanometer (millionstel Millimeter) große Apatit-Kerne. Ganz ähnlich, sagt Kniep, dürfte das beim Otoconien-Calcit ablaufen. Wie aber im Labor die unterschiedlichen Bereiche mit streng geordneten Kollagen-Fasern in den rhomboedrischen Enden und ungeordneten Fasern im Bauch der Otoconien entstehen, ist bislang noch unklar.

Mit seinen Untersuchungen hat Kniep die Tür zum tieferen Verständnis der Otoconien-Funktion ein gutes Stück aufgestoßen. Er vermutet, dass aus der Außenhülle der Otoconien, insbesondere aus den Rhomboederflächen, wohlgeordnet lang gestreckte Eiweißmoleküle herauswachsen, Molekülfibrillen. Sie verwachsen mit dem Gelkissen und dienen als Halteseile. Die Idee: Durch Bewegung des Kopfes und Beschleunigung der Maculae verändern die schwimmenden Otoconien ihre Lage. Wie Schiffe an der Kaimauer am Tampen, so ziehen die Otoconien an den Fibrillen. Dieser Zug setzt sich über die Gelkissen der Maculae bis zu den Sinneshärchen fort, die über Nervenbahnen die Beschleunigungsinformation an das Gehirn weiterleiten.


Beschädigte Otoconien können schwindelig machen

Möglicherweise kann Kniep inzwischen sogar das Versagen von Otoconien erklären. Bekannt ist, dass ältere Menschen häufiger unter Schwindel leiden, oder auch, dass sich gelöste Otoconien in den Labyrinthgängen verirren. Ein möglicher Grund: Die Otoconien lösen sich zum Teil aus der Fibrillenverankerung und leiten damit die Beschleunigungsinformation nicht korrekt weiter. Damit stellen sie den Beschleunigungssensor im Innenohr völlig auf den Kopf. Knieps Detailbeobachtungen liefern eine plausible Erklärung für den Fibrillenabriss.

Um die innere Struktur der Otoconien zu analysieren, hat er das CalcitGerüst schrittweise chemisch aufgelöst. Es zeigte sich, dass zunächst der poröse Bauch verschwindet. Dann werden nach und nach tiefe Löcher in die glatten Rhomboderflächen gefressen. Das gab Kniep einen Hinweis, warum die Otoconien im Alter den Halt verlieren: Löst sich der Calcit, so zerbröseln auch die Haltepunkte der Fibrillen. Je stärker das Körnchen degeneriert, umso haltloser sitzt es im Fibrillennetzwerk. Experten, denen Kniep seine Hypothese vortrug, fanden die Idee einleuchtend. "Dass sich die Untersuchungen an den biomimetischen Otoconien tatsächlich auf die Natur übertragen ließen, daran zweifelten sie allerdings", sagt Kniep.

Der nächste Schritt lag auf der Hand: der Vergleich mit biogenen, mit menschlichen Otoconien. Kniep fragte bei HNO-Kollegen vor Ort nach. Und die lieferten ihm Ohrenstaub älterer Patienten. Er landete einen Treffer. Die betagten Otoconien aus dem Ohr sahen genauso aus wie die decalzifizierten Kunst-Otoconien. Beide hatten ihren Bauch verloren, und die Rhomboeder waren von tiefen Furchen durchzogen. Kniep kann sich vorstellen, dass sich mit zunehmendem Alter der pH-Wert der Endolymphe in den Maculae ändern kann. Der Degenerationsprozess beginnt, und die Fibrillen reißen ab.


Schlankere Körnchen durch Zugabe von Zucker

Einen Reparaturkitt für Zahnschmelz hat Kniep zusammen mit seinen Mitarbeitern bereits entwickelt. Nicht auszuschließen, dass ihm in Zukunft gemeinsam mit den HNO-Experten Ähnliches für die Otoconien gelingen könnte. "Vielleicht lässt sich in Zukunft durch Gabe der nötigen Inhaltsstoffe auch der Otoconien-Calcit regenerieren. Doch davon sind wir heute noch weit entfernt", sagt Kniep.

Ein Grund für sein Zögern ist, dass die Otoconien aus dem U-Rohr den realen Gehörkörnchen eben doch noch nicht völlig gleichen. Sie sind ein wenig gedrungener. Doch auch das scheint Kniep langsam in den Griff zu bekommen. "Schon länger vermutet man, dass in dem biogenen Calcit auch Zuckerkomponenten eingebaut sind. Also haben wir das im Labor nachgespielt." Tatsächlich: Füllen die Forscher neben Gelatine auch Agarose oder andere Zucker ins U-Rohr, wachsen im Gel schlankere Otoconien heran. Derzeit probieren Knieps Mitarbeiter diverse Rezepte, in denen sie verschiedene Moleküle einsetzen und die Konzentrationen der Inhaltsstoffe verändern.

Wie echt die falschen Otoconien sind, ist eine der Fragen, die Kniep momentan beschäftigen. "Schon ziemlich nah dran", dürfte die Antwort lauten. Denn beide teilen eine zweite erstaunliche Eigenschaft. Gewöhnliche Kristalle wie etwa Quarz in der unbelebten Natur wachsen, indem sich Atome zu einem regelmäßigen Atomgitter zusammenlagern, das immer größer wird. Experten nennen derartige Kristalle Einkristalle. Bestrahlt man solche Kristalle mit Röntgenlicht, lässt sich aus dem Beugungsmuster herauslesen, ob sie tatsächlich nur aus einem einzigen Kristall bestehen.

Im Röntgenlicht präsentieren sich echte Otoconien auch als Einkristalle. Nur, im klassischen Sinne sind sie das nicht! Immerhin werden sie von Molekülfasern durchzogen und bestehen aus vielen einzelnen, nur wenige Nanometer großen Calcitblöckchen. Von einem Einkristall kann also keine Rede sein. Dennoch zeigt sich im Röntgenlicht eindeutig das Beugungsbild des Einkristalls. "Lebende Organismen sind auf faszinierende Weise in der Lage, nanostrukturierte Komposite zu bilden, die sich wie Einkristalle verhalten", sagt Kniep. Tatsächlich schafft das nicht nur die Natur: Denn die Otoconien aus Knieps U-Rohr verhalten sich im Röntgenlicht exakt genauso.

Kniep ist wahrlich nah dran am natürlichen Vorbild. Derzeit versucht er herauszufinden, wie das Wachstum der wundersam symmetrischen Otoconien beginnt. Er sucht nach der Keimzelle der Rhomboeder. Kniep kooperiert inzwischen mit der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Dresden. Ihr Direktor Thomas Zahnert hofft, dass sich das Wissen um das Otoconien-Wachstum irgendwann tatsächlich für Therapien einsetzen lässt. "Noch sind wir weit davon entfernt, aber es ist denkbar, dass biomimetische Otoconien künftig als eine Art Organersatz dienen könnten." Bis dahin müssen die Forscher die Otoconien-Synthese und die Funktion der Körnchen noch besser verstehen. Doch wer weiß, vielleicht liegt der Sprung in die Wirklichkeit gar nicht mehr in so weiter Ferne.


Glossar

Rhomboeder
AEin Polyeder, das ausschließlich von Rauten begrenzt wird. Gegenüberliegende Seiten und Winkel sind in Rauten gleich lang und gleich groß.

Macula-Organe
Strukturen im Innenohr, die die lineare Beschleunigung im Raum messen. Der Sacculus erfasst die vertikale Beschleu­nigung, der Utriculus die horizontale.

Kollagen
Ein sehr zugfestes und kaum dehnbares tierisches Protein, das den organischen Hauptbestandteil von Knochen, Zähnen und Knorpeln bildet. Bezogen auf das Gewicht macht es ein Drittel des gesamten Eiweißes im menschlichen Körper aus.

Apatit
Ein Mineral, das aus Calcium und Phosphat und einem weiteren Bestandteil (Fluorid, Chlorid oder Hydroxid) besteht.

Calcit
Eine Kristallform von Calciumcarbonat (Kalk).


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 3/2009, Seite 72-79
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2010