Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → FAKTEN

ETHIK/796: In immer mehr Ländern Europas schreitet die Euthanasie voran (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 93 - 1. Quartal 2010
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Europa vor der Rampe

Von Stefan Rehder


In immer mehr Ländern Europas schreitet die Euthanasie scheinbar unaufhaltsam voran. Dabei sind es oft juristische Hintertreppen, über die sich die Befürworter der Euthanasie voranarbeiten und über die sie an Boden gewinnen. Politische Bemühungen, sie aufzuhalten, fallen bislang eher halbherzig aus.


Der überhaupt nicht christlich motivierte Arzt, Freimaurer und Illuminat Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) hatte früh gewarnt. 1806 schreibt der Leibarzt des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III., der in Weimar auch schon Goethe, Schiller, Herder und Wieland zu seinen Patienten zählte, im "Neuen Journal der practischen Arzneykunde und Wundarztkunst", der Arzt "soll und darf nichts anderes thun, als Leben erhalten; ob es ein Glück oder ein Unglück sey, ob es Wert habe oder nicht, dies geht ihn nichts an. Und maßt er sich an, diese Rücksicht in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mann im Staat." Heute, gut 200 Jahre später, wird diese Gefahr geradezu fahrlässig unterschätzt. Dabei befindet sich die Euthanasie fast überall in Europa auf dem Vormarsch; in Gestalt der so genannten "Tötung auf Verlangen", als "ärztlich assistierter" sowie als anders begleiteter Suizid.

Auf die protestantischen Niederlande, wo im April 2002 ein Gesetz in Kraft trat, das Medizinern, welche die darin enthaltenen "Sorgfaltskriterien" beachten, sowohl die "Tötung auf Verlangen" als auch den "ärztlich assistierten Suizid" erlaubt, folgte rund sechs Monate später das ehemals katholische Belgien. Wie sein niederländisches Vorbild hob auch das belgische Gesetz die Strafbarkeit der "Tötung auf Verlangen" nicht völlig auf, sondern band die Straflosigkeit von Patiententötungen an gesetzliche Bedingungen, die teils restriktiver, teils liberaler als in den Niederlanden ausfielen. Im Frühjahr des vergangenen Jahres trat in Luxemburg ein ähnliches Gesetz in Kraft. Da sich Großherzog Henri von Luxemburg, ein praktizierender Katholik, jedoch weigerte, das Gesetz zu unterzeichnen, änderte das Parlament kurzerhand auch gleich die Verfassung und entmachtete das Staatsoberhaupt. Auf dass das Gewissen des Großherzogs künftig seine Ruhe habe, werden Gesetze durch seine Unterschrift seitdem nur noch "verkündet" und nicht mehr - wie es die alte Verfassung vorsah - vorab auch "gebilligt".

In der Schweiz, die zwar kein Mitglied der Europäischen Union ist, wohl aber in Europa liegt, schloss der Kanton Zürich vergangenen Herbst einen Vertrag mit der Organisation "Exit" über die Durchführung begleiteter Suizide. Beihilfe zum Selbstmord ist nach Artikel 115 des schweizerischen Strafgesetzbuches nur dann strafbar, wenn sie aufgrund "selbstsüchtiger Motive" erfolgt. Dass Organisationen für die Begleitung eines Suizids Geld verlangen, wird von der dortigen Justiz bislang nicht als hinreichend betrachtet, um Selbstsucht unterstellen zu können, Mittlerweile ist in der Schweiz jedoch ein Gesetzgebungsverfahren angelaufen, das eine Verschärfung der Umstände erreichen will, unter denen eine Suizidbegleitung als legal betrachtet werden soll. Bis Anfang März hatten Organisationen und Einzelpersonen Gelegenheit, sich im Rahmen der so genannten "Vernehmlassung" zu zwei Varianten eines Gesetzesentwurfes zu äußern. Wie diese aus der Vemehmlassung herauskommen, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Möglich ist allerdings auch, dass das geplante neue Gesetz auch durch einen Volksentscheid zu Fall gebracht wird, den Organisationen wie "Exit" und "Dignitas" anstreben.

In Deutschland gründete kürzlich Roger Kusch nach dem Vorbild von "Exit" einen neuen Verein, der Mitgliedern einen begleiteten Suizid anbietet. Beihilfe zum Suizid ist hierzulande bisher straffrei. Strafbar machen können sich Personen, die bei einem Suizid assistieren, jedoch durch Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz. Während die Politik kostbare Zeit mit einem Streit darüber verschwendet, was verboten werden soll, die "organisierte", die "geschäftsmäßige" oder gar nur die "gewerbliche" Vermittlung von Gelegenheiten zu Selbsttötung, schaffen die Euthanasie-Befürworter Fakten. So gut wie nie erfolgt der Vormarsch dabei offen und für alle sichtbar über die Vordertreppen der Parlamente. Fast immer sind es vielmehr zunächst die Hintertreppen der Justiz, die zuvorderst gestürmt werden.

Und das, obwohl Ärzte zu keinem Zeitpunkt der Geschichte mehr über die Entstehung und Linderung von Schmerzen wussten als heute. War in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Leben der Menschen noch durch eine niedrige Lebenserwartung und eine hohe Sterberate - vor allem bei Säuglingen und Kindern - geprägt, so steigt die Lebenserwartung der Europäer längst jedes Jahr um weitere drei Monate. Tödliche Epidemien wie Pocken, Cholera und Typhus, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts große Teile der Bevölkerung Europas hinwegrafften, gelten inzwischen als nahezu ausgerottet. Individuelle Krankheiten besitzen heute nicht nur ein viel geringeres Sterblichkeitsrisiko als zu Lebzeiten Hufelands, die Möglichkeiten der Medizin, ihnen entgegenzuwirken, haben in den vergangenen zwei Jahrhunderten geradezu sensationelle Fortschritte gemacht. Ganz anders scheint es dagegen um die Fähigkeiten des Menschen bestellt zu sein, sich der moralischen Qualität einer Handlung zu vergewissern sowie klug und vorausschauend zu agieren. Beide machen den Eindruck, als entwickelten sie sich - nahezu umgekehrt proportional zum technischen Fortschritt - zurück.

Jüngstes Beispiel: Mitte vergangener Woche stellte der britische Chefankläger Keir Starmer in London neue Leitlinien für den Umgang der Strafverfolgungsbehörden mit Personen vor, die im Verdacht stehen, Beihilfe zum Suizid geleistet zu haben. In dem zehn Seiten umfassenden Dokument werden die Staatsanwälte in England und Wales angewiesen, von einer Strafverfolgung der Beihilfe zum Suizid abzusehen, wenn etwa "das Opfer eine freie, klare, geregelte und informierte Entscheidung, Suizid zu begehen, erreicht" hatte, der der Beihilfe zum Suizid "Verdächtige vollständig von Mitleid motiviert wurde", seine "Handlung, obwohl ausreichend, um als Straftat definiert zu werden, nur eine geringe Unterstützung oder Hilfe" darstellte, der "Verdächtige den Suizid des Opfers der Polizei" meldete und bereit war, diese "in vollem Umfang bei der Aufklärung der Umstände" einschließlich seiner eigenen "Rolle" zu unterstützen.

Die vom britischen Chefankläger erlassenen neuen Richtlinien sind vor allem deshalb so brisant, weil im Vereinigten Königreich - ähnlich wie in Österreich, aber anders als in vielen anderen Ländern Europas - die Beihilfe zum Suizid offiziell immer noch strafbar ist. Laut dem "Suicide Act" von 1961 kann die Hilfe zur Selbsttötung in England und Wales mit einer Haftstrafe von bis zu 14 Jahren geahndet werden. In der Praxis wird von dieser Möglichkeit jedoch schon lange kein Gebrauch mehr gemacht. So haben britische Staatsanwälte in keinem einzigen der mehr als 100 dokumentierten Fälle, in denen britische Staatsbürger ihre Angehörigen zum Suizid in die Schweiz begleitet haben, nach deren Rückkehr Anklage erhoben.

Dabei wäre es wohl geblieben, hätten nicht im vergangenen Jahr fünf Lordrichter des Obersten britischen Gerichts, das mittlerweile in einem neu errichteten Verfassungsgerichtshof aufgegangen ist, zum Abschied ein spektakuläres Urteil erlassen, das den "Suicide Act" als hoffnungslos veraltet kritisiert und von der britischen Staatsanwaltschaft die Ausarbeitung eben jener Richtlinien verlangte, die offiziell lediglich gewährleisten sollen, dass jeder britische Staatsbürger, der Beihilfe zum Suizid leisten will, weiß, womit er rechnen muss und womit nicht.

Spektakulär war das Urteil der so genannten "Law Lords", das den Inselstaat in eine neuerliche Debatte über eine Liberalisierung der Suizidbeihilfe stürzte, aber auch aus einem weiteren Grund. Kurz zuvor hatte nämlich das "House of Lords" - eine der beiden Kammern des britischen Parlaments, der auch die fünf Richter angehörten - mehrheitlich zum wiederholten Mal einen Gesetzesentwurf abgelehnt, der zunächst nur den Verzicht auf eine Strafverfolgung der Beihilfe zum Suizid vorsah, sofern diese im Ausland erfolgt war. Weil das Urteil, mit dem sich die Lordrichter verabschiedeten, den im Parlament unterlegenen Mitgliedern des "House of Lords" beisprang, sprachen Kritiker denn auch von dem Versuch einer "Legalisierung der Sterbehilfe durch die Hintertür".

Auch die Kirchen sparten nicht mit Kritik. Knapp zwei Wochen vor der Veröffentlichung der neuen Richtlinien warnte der Erzbischof von Westminister und Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz von England und Wales, Vincent Gerard Nichols, vor einer Legalisierung der Sterbehilfe in Großbritannien. Laut der Sonntagszeitung "The Observer" warf Nichols, der als heißer Anwärter auf einen Kardinalshut gilt, dem britischen Gesundheitssystem gar einen "Mangel an Menschlichkeit" vor und kritisierte, die im staatlichen Gesundheitswesen Beschäftigten behandelten kranke Menschen allzu oft bloß wie eine "Ansammlung von Genen". Ähnlich äußerte sich auch der anglikanische Alt-Bischof von Rochester, Michael Nazir-Ali. In einem Beitrag für den "Sunday Telegraph" sprach sich Nazir-Ali, der einer muslimischen Familie schiitischen Glaubens entstammt, explizit gegen eine Lockerung der Richtlinien für die Strafverfolgungsbehörden aus. Man könne nie sicher sein, ob eine Person "gänzlich von Mitleid motiviert" gewesen sei.

Selbst Premierminister Gordon Brown bezog Position. Ein "Recht" zu sterben würde Druck auf "die Schwachen und Verletzten" ausüben, schrieb Brown in einem Beitrag für den "Daily Telegraph", indem er die neuen Richtlinien gleichwohl verteidigte. Es sei die Pflicht der britischen Gesellschaft, ihre bestehenden Gesetze gut zu nutzen, statt sie zu ändern, so Brown. Das mag weise Hingen, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in Großbritannien, wo erst kürzlich der Schriftsteller Martin Amis die Errichtung von Suizid-Häuschen an jeder Straßenecke forderte, die Euthanasie-Befürworter deutlich an Boden gewonnen haben. Bereits unmittelbar nach dem Urteil der Lordrichter frohlockte der frühere Justizminister und Initiator des im Parlament gescheiterten Gesetzesentwurfes Lord Charles Falconer: "Wenn sich die Staatsanwaltschaft einmal darauf festgelegt hat, dass Sterbehilfe aus Mitgefühl nicht mehr strafrechtlich verfolgt wird, ist das Gesetz in Wahrheit bereits grundlegend geändert worden." Durch den Umweg über die Justiz haben Falconer und seine Getreuen sogar mehr erreicht, als sie ursprünglich für durchsetzbar hielten. Denn die neuen Richtlinien beschränken die Straflosigkeit für den begleiteten Suizid nun nicht mehr auf Suizide im Ausland. Beihilfe zum "Mercy-Killing", wie aus vermeintlichem Mitleid erfolgte Patiententötungen in England und den USA auch genannt werden, zieht nun auch dann keine Strafverfolgung mehr nach sich, wenn die Tat im Inland begangen wird.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836)
- Gordon Brown
- Keir Starmer


*


Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 93, 1. Quartal 2010, S. 7 - 8
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
Tel: 0821/51 20 31, Fax: 0821/15 64 07
E-Mail: info@alfa-ev.de
Internet: www.alfa-ev.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2010