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ETHIK/777: Medizinethik - "Würde nicht zu eng auslegen" (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 91 - 3. Quartal 2009
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

"Würde nicht zu eng auslegen"

Gespräch mit Prof. Dr. med. Axel W. Bauer


An bioethischen Reizthemen herrscht kein Mangel: Ärztlich assistierter Suizid, Patientenverfügung, künstliche Befruchtung, Präimplantationsdiagnostik, Hirntod, Babyklappe - das sind nur einige der Themen, die derzeit heiß diskutiert werden. Über sie sprach für LebensForum Matthias Lochner mit dem Medizinethiker Professor Dr. med. Axel W. Bauer.


LebensForum: Herr Professor Bauer, in einem "Spiegel"-Interview Anfang März hat der Medizinrechtler Jochen Taupitz, wie Sie Mitglied des Deutschen Ethikrates, dafür plädiert, dass Ärzte künftig beim Suizid assistieren und diese Leistung über die Krankenkassen abrechnen sollten. In einem Beitrag für den "Rheinischen Merkur" sind Sie diesem Vorschlag entschieden entgegen getreten. Was spricht gegen die Zulassung des "assistierten Suizids"?

Prof. Dr. med. Axel W. Bauer: Zunächst einmal ist ja die Frage, ob es einer Zulassung des assistierten Suizids nach der jetzigen Rechtslage überhaupt bedarf oder ob Professor Taupitz Recht hat mit der Behauptung, dass diese Suizidassistenz eigentlich legal wäre und die Ärzte sie nur mit Rücksicht auf das Standesrecht zur Zeit nicht leisten. Obwohl ich kein Jurist bin, teile ich diese Auffassung von Herrn Taupitz weitgehend. Ich sehe, dass unser Strafrecht die Beihilfe zum Suizid nicht verbietet, weil ja schon der Suizid selbst nicht strafbar ist. Was die Ärzte momentan an der Beihilfe zum Suizid hindert, ist also nur das tradierte Standesrecht, das diese Beihilfe ja ausdrücklich ablehnt. Taupitz behauptet, dass der Arzt frei sei und sich vom Standesrecht nicht abschrecken lassen müsse, sondern jederzeit tätig werden könne. Rechtliche Gründe stehen also womöglich nicht gegen die ärztliche Suizidbeihilfe zur Verfügung. Wir hätten es dann hier eher mit einer moralischen Frage zu tun, nämlich mit dem Problem, ob wir diese Mitwirkung am Selbstmord zulassen dürfen oder nicht.

Sie lehnen den Suizid und die Mitwirkung daran grundsätzlich ab?

Der Suizid ist in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr strafbar. Diese Liberalisierung des Strafrechts galt damals als fortschrittlich, und dabei ist es bis heute nach herrschender Meinung geblieben. Nun kann man aber durchaus die Frage stellen, und ich stelle sie ausdrücklich, ob der Suizid als solcher tatsächlich eine philosophisch rechtfertigungsfähige Tat ist. Die Bestrafung in Deutschland erfolgt deshalb nicht, weil entweder eine solche Bestrafung nicht mehr möglich ist oder weil im Fall eines missglückten Suizids dieser schwerwiegende psychische Folgen nach sich zieht und der oder die Betroffene durch sein oder ihr Schicksal genügend "gestraft" ist. Das heißt aber noch nicht, dass der Suizid als solcher ethisch gerechtfertigt wäre, denn man beruft sich dabei meist auf das Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Dieses Selbstbestimmungsrecht gründet jedoch letztlich in der physischen Existenz des Menschen. Ohne physische Existenz wäre ein Selbstbestimmungsrecht sinnlos und undenkbar. Es kann aber schwerlich so sein, dass die Selbstbestimmung jene physische Grundlage delegitimiert, der sie überhaupt erst ihre Existenz verdankt, genauso wenig wie es nicht Aufgabe des Rauchs wäre, der vom Feuer abhängig ist, über das Löschen des Feuers zu entscheiden. Das heißt: Philosophisch kann der Suizid nicht mit Blick auf die Autonomie des Menschen gerechtfertigt werden.

In Ihrem Beitrag haben Sie ein strafrechtliches Verbot der Mitwirkung am Suizid als "einzig wirksames rechtliches Mittel" vorgeschlagen. Wie könnte so ein Verbot aussehen?

Bei der Mitwirkung am straffreien Suizid wird ja eine dritte Person tätig. Hier gilt nun formal, dass Anstiftung (§ 26 StGB) und Beihilfe (§ 27 StGB) nicht strafbar sein können, weil es eben an einer strafbaren Haupttat mangelt. Dies ist aber kein zwingendes Ergebnis, wie beispielsweise ein Blick nach Österreich zeigt. Hier gibt es nämlich den § 78 des dortigen Strafgesetzbuches, der die "Mitwirkung am Selbstmord" als einen eigenständigen Straftatbestand, nämlich als ein Delictum sui generis, unter Strafe stellt. Das heißt, ein solcher Straftatbestand ist grundsätzlich denkbar, und zwar auch für Deutschland, wenngleich ich bisher der einzige bin, der ihn gefordert hat. Dies fordere ich deshalb, weil ansonsten exakt das eintreten wird, was Professor Taupitz prognostiziert hat, nämlich dass Ärzte hierzulande zu Suizidhelfern werden. Wenn man möchte, dass er nicht Recht bekommen soll, dann muss man etwas tun und das Strafrecht verschärfen.

Nach jahrelangem Ringen hat der Deutsche Bundestag Mitte Juni ein neues Patientenverfügungsgesetz beschlossen. Wie beurteilen Sie die Entwürfe, die vorlagen, und das nun verabschiedete Gesetz?

Ich gehöre nach wie vor zu den Skeptikern in Bezug auf Patientenverfügungen. Ich glaube nicht, dass die Patientenverfügung ein Weg zum perfekten Sterben ist, sondern dass sie - vor allem in Kombination mit einer Vorsorgevollmacht - für das Leben eines Patienten höchst gefährlich werden kann. Denn diese Patientenverfügung wird von seinem Bevollmächtigten interpretiert, und das womöglich in einer Weise, die dem dann aktuellen Willen des Patienten nicht mehr entspricht. Wir reden sehr viel über Autonomie und Selbstbestimmung in der Medizin, aber merkwürdigerweise immer nur dann, wenn es um das Sterben geht. Wenn Sie heute eine Blinddarmoperation erhalten und nach drei Tagen wieder entlassen werden, Sie aber entgegnen, dass es Ihnen noch nicht so gut gehe und Sie gerne noch ein paar Tage bleiben würden, dann verweist Sie der Arzt darauf, dass der Betrag, den das Krankenhaus von der Krankenkasse erhält, schon ausgeschöpft ist, und schickt Sie nach Hause. Da fragt Sie niemand nach der Selbstbestimmung, obwohl Sie die tatsächlich wahrnehmen können und wollen. Wenn Sie aber komatös sind und sich nicht mehr äußern können, spricht die Medizin plötzlich von Selbstbestimmung und von Autonomie. Das finde ich sehr widersprüchlich und daher kommt mein Zweifel daran, dass es hier wirklich um Selbstbestimmung geht. Seit Jahren erleben wir eine massive Propaganda um die ganze Problematik der Sterbehilfe. Dass alte und kranke Menschen offensichtlich ihr Sterben beizeiten regeln sollen, in Zeiten der Rationierung im Gesundheitswesen und immer knapper werdender Kassen, ist schon problematisch.

In dem am 18. Juni beschlossenen Gesetzentwurf des SPD-Abgeordneten Joachim Stünker gibt es nun eine unbegrenzte Reichweite der Patientenverfügung, unabhängig von Krankheitsart und Krankheitsstadium. Der Betreuer oder der Bevollmächtigte hat den Auftrag, das, was der Patient in gesunden Tagen in Unkenntnis der Lage, in die er einmal geraten würde, aufgeschrieben hat, strikt zu exekutieren. Im Falle des Vorschlags von Faust und Zöller hätten wir eine ärztliche Beratung gehabt, die bei der Abfassung der Patientenverfügung erfolgen sollte. Und im Falle des Bosbach-Entwurfs hätten wir die Einschränkung auf Zustände gehabt, die irreversibel tödlich sind. Ich persönlich hätte, wenn ich Bundestagsabgeordneter wäre, den Vorschlag des Abgeordneten Hubert Hüppe, die jetzige rechtliche Situation beizubehalten, vorgezogen.

Inwiefern halten Sie es überhaupt für sinnvoll, mittels Patientenverfügungen im gesunden Zustand vorsorglich festzuhalten, welche Behandlungen im Falle einer bestimmten Krankheit durchgeführt und welche unterlassen werden sollen?

Das Problem ist immer, dass man in gesunden Tagen antizipieren soll, was man im Zustand der Nicht-Äußerungsfähigkeit wollen würde. Keiner von uns kann dies jedoch, weil keiner weiß, in welche Situation er einmal gelangen wird. Vor allem weiß man nicht, was man dann empfinden würde. Wir wissen ja, dass sich die subjektive Lebensqualität im Krankheitsfall sehr schlecht im Voraus beurteilen lässt. Es gibt also deutliche Grenzen der Antizipierungsfähigkeit, und diese Grenzen betreffen sowohl die Patientenverfügung als auch die Vorsorgevollmacht, mit der Sie sich von einer bestimmten Person Ihres Vertrauens vollkommen abhängig machen.

Gibt es Alternativen?

Ich bevorzuge selbst ein Instrument, das noch viel zu wenig bekannt ist: eine Betreuungsverfügung. In der Betreuungsverfügung wird dem Gericht im Falle einer Äußerungsunfähigkeit eine Person genannt, die zum gesetzlichen Betreuer ernannt wird, aber strikter als der Bevollmächtigte der gesetzlichen Kontrolle unterliegt. Selbstverständlich ist es gut, wenn das Umfeld des Patienten weiß, welches Wertebild der Patient hat. Aber eine zu genaue Festlegung birgt immer das Problem, dass die Situation entweder nicht eintritt oder aber, wenn man die Patientenverfügung zu global abfasst, jeder in die Verfügung hineininterpretieren kann, was er will. Ich möchte noch einmal festhalten, dass man auch ohne jegliche Verfügung leben und sterben kann. Ein idealisiertes Sterben nach den eigenen Vorstellungen ist letztlich unrealistisch.

Vor einiger Zeit ist die Debatte um den sogenannten Hirntod neu entbrannt. Während viele Mediziner am Hirntod als Todeskriterium festhalten, sehen andere im Hirntod keinesfalls den Tod des Menschen. Wie bewerten Sie diese Debatte und welche Position vertreten Sie als Medizinethiker?

Das ist eine schwierige Frage, denn man muss bei der Genese des Transplantationgesetzes von 1997 beachten, welche historische Situation damals vorlag. Die Transplantationsmediziner haben gesagt, wenn wir Organe entnehmen, der Patient aber noch lebt, dann töten wir ihn durch die Organentnahme. Da aber Ärzte eben nicht töten, muss der Patient folglich, wenn wir Organe entnehmen, schon vorher tot sein. Es bestand also ein enormer Druck auf die Politik, ein Kriterium zu finden - hier den vollständigen Ausfall der integrierenden Gehirnfunktion -, um sagen zu können: Dieser Patient ist tot, so dass der Arzt, der ihm jetzt Organe entnimmt, nicht mehr tötet. Egal, wie man zum Hirntodkriterium steht, muss man sehen, dass hierin eine gewisse ethische Problematik liegt, denn man musste den Tod der Patienten definieren, damit die Transplantationsmedizin weiter arbeiten konnte.

Nun hat jeder Mensch die Möglichkeit - und hier sehe ich es anders als bei der Patientenverfügung - eine Organspenderklärung auszufüllen. Ich fordere jeden auf, eine solche Erklärung auszufüllen, denn er hat fünf Möglichkeiten, sich hier zu entscheiden: Entweder er erklärt sich für eine Organspende bereit oder für eine Organspende mit Einschränkung einiger Organe oder für eine Organspende nur bestimmter Organe oder er überträgt die Verantwortung auf eine bestimmte Person oder er erklärt, ich bin kein Organspender. Das erleichtert im Falle des Falles den Angehörigen, die ja gefragt werden, die Entscheidung. Und diese Entscheidung kann man anders als bei der Patientenverfügung durchaus antizipieren, weil man ja sehr wohl weiß, in welcher Lage ein sogenannter Hirntoter ist. Das Risiko, dass man auf eine bestimmte Weise vielleicht doch noch lebt - das kommt darauf an, welche philosophische und religiöse Einstellung man zum Leben hat -, kann ja jeder a priori einschätzen. Insofern bin ich auch kein Gegner der Organspende. Man stirbt nicht deswegen schneller, weil man einen Organspenderausweis hat.

Nun hat das Thema Hirntod aber auch noch eine zweite Facette. Inzwischen gibt es eine neue Debatte um die sogenannten "Non heart-beating donors" (NHBD). In zahlreichen Ländern, etwa den USA, Schweiz, Türkei oder England, gibt es neuerdings die Möglichkeit der Organspende nach dein Herztod, wobei der Hirntod dann lediglich als dem Herztod folgend postuliert, aber nicht geprüft wird. Unmittelbar nach dem Herzstillstand, also nach wenigen Minuten, werden Organe entnommen unter der Voraussetzung, dass der Patient nicht mehr reanimiert werden möchte oder soll. Dann explantiert man die Organe, die den Vorteil haben, dass sie sozusagen wesentlich frischer sind, als wenn man erst eine länger dauernde Hirntoddiagnostik durchführen muss. Das kann aber schon zu teilweise paradoxen Fällen führen: In den USA beispielsweise hat man bei schwerbehinderten Säuglingen den Herzstillstand abgewartet, ohne sie zu reanimieren, weil dies von den Eltern nicht gewünscht wurde. Die Herzen hat man dann transplantiert, das heißt, diese Herzen wären durchaus reanimationsfähig gewesen!

Aber in diesem Fall läge doch eine unterlassene Hilfeleistung vor?

Tatsächlich kommen wir in diesen Fällen an problematische Grenzen, wenn ein Patient schon mit Blick auf die Fremdnützigkeit behandelt wird, und dies in einem Zustand, in dem er noch reanimierbar wäre, was man nur deshalb unterlässt, weil man seine Organe transplantieren möchte. Dies ist in zahlreichen Ländern legal, in Deutschland nicht, deswegen dürfen solche Organe auch nicht nach Deutschland importiert werden. Aber es wächst der Druck auf den Gesetzgeber, die "Non heart-beating donors" zuzulassen. Unter diesem Aspekt können wir um das Hirntodkriterium heute fast schon wieder dankbar sein, weil es immerhin sicherer ist als das klassische Herztodkriterium.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg Dietrich Hoppe, hat kürzlich vorgeschlagen, die finanziellen Engpässe im Gesundheitswesen durch eine Rationierung und Priorisierung medizinischer Leistungen zu lösen. Was halten Sie von diesem Vorstoß?

Zunächst einmal hat Professor Hoppe natürlich Recht, denn wir haben bereits heute eine zumindest verdeckte Rationierung im Gesundheitswesen, das heißt, es wird rationiert, aber es wird nicht transparent gemacht, an welchen Stellen. Das fängt bei langen Wartezeiten auf einen Termin beim Facharzt an, geht weiter über Budgetierungen beim niedergelassenen Arzt bis hin zum Ärztemangel in bestimmten Facharztrichtungen wie etwa Neurochirurgie oder Orthopädie. Das Gesundheitswesen ist dadurch geprägt, dass wir es über lohnbezogene Beiträge finanzieren - derzeit festgeschrieben auf 14,9 Prozent der - bei 3.675 Euro pro Monat gedeckelten - Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer. Damit ist klar, dass nicht alles finanzierbar ist, was vielleicht möglich und wünschenswert wäre. Die Politik, insbesondere die Bundesgesundheitsministerin, hat auf den Vorstoß von Herrn Hoppe empört reagiert und gesagt, die Rede von der Rationierung sei menschenverachtend. Dabei hatte Professor Hoppe nur etwas angesprochen, für das die Politik die Verantwortung trägt, nämlich für die einnahmenorientierte Ausgabenpolitik bei begrenzten Einnahmen.

Rationierung und Priorisierung sind zweierlei. Priorisierung heißt eigentlich, dass wir bestimmte medizinische Maßnahmen an erster Stelle vorschlagen, die zum Beispiel wirksamer sind als andere, die wir an zweiter Stelle vorschlagen. Eine richtig verstandene Priorisierung in der Medizin könnte demnach sogar zu Kostensteigerungen führen. Wenn von Priorisierung die Rede ist, ist aber de facto Rationierung gemeint, das heißt, bestimmte Leistungen, die an sich empfehlenswert wären, sollen gar nicht mehr durchgeführt werden. Die Frage ist nun, wie man eine solche Rationierung so bewerkstelligen könnte, dass sie nach transparenten ethischen Kriterien erfolgte, welche die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehen können. Da bin ich allerdings nicht sehr optimistisch. Entsprechende Versuche, sich über bestimmte Rangfolgen zu einigen, gibt es zum Beispiel in Skandinavien. Zunächst würden Patienten mit akuten Krankheiten versorgt, dann solche mit schweren chronischen Krankheiten, dann kämen Prävention und Prophylaxe zum Zuge und schließlich Krankheiten, bei denen elektive Eingriffe möglich sind, bei denen man noch warten kann, ganz zuletzt dann Versorgungen, die man als puren "Luxus" bezeichnen würde. Das setzt aber voraus, dass wir uns darüber politisch einigen könnten, sozusagen auf eine solidarisch organisierte Basisversorgung und auf einen individuell zu versichernden Rest. Ich bin ziemlich sicher, dass wir es nicht schaffen, so einen Leistungskatalog objektiv festzulegen, denn dafür sind die Interessen der betroffenen Menschen dann doch zu divergent.

Wie sollte Ihrer Ansicht nach ein zukunftsträchtiges Gesundheitswesen aussehen, das sowohl den ethischen Anforderungen als auch den finanziellen Engpässen gerecht wird?

Ich bin ein Anhänger einer Leistungsbeschränkung, die möglichst nicht vom Staat oder irgendwelchen Organisationen institutionell dem Einzelnen vorgegeben wird, sondern ich würde es vorziehen, wenn der einzelne Patient in die Lage versetzt würde, selbst mitzuentscheiden, wo er glaubt, die Solidarität der Gemeinschaft in Anspruch nehmen zu müssen und wo er womöglich auf medizinische Leistungen verzichtet oder zunächst einmal nach dem Subsidiaritätsprinzip bei der Finanzierung selbst einspringt.

Also ein Appell für mehr Selbstverantwortung?

Richtig, ein Appell für mehr Selbstverantwortung. Das könnte man unter Umständen über prozentuale, nach oben in absoluten Jahresbeträgen gedeckelte Selbstbeteiligungen regeln, die dem einzelnen Versicherten zumutbar sein müssen. Da gibt es natürlich Grenzen: Man darf das Ganze nicht so aufziehen, dass der Einzelne ein unkalkulierbares Gesundheitsrisiko eingeht, sich für bestimmte Dinge nicht mehr versichert und dann hinterher zum Sozialfall wird. Dass wir aber grundsätzlich für unsere Gesundheit eine gewisse Verantwortung tragen und an einigen Stellen schon entscheiden können, ob wir die Solidarität der Gemeinschaft in Anspruch nehmen müssen oder nicht, das wäre mir zumindest sympathischer. Zunächst einmal wäre es aber wichtig, dass die Politik ihre Verantwortung dafür begreift und sie nicht auf die Ärzteschaft oder auf andere Organisationen abschiebt. Wenn die Politik sagt, die Gesundheitskosten dürfen nicht höher sein als ein bestimmter Prozentsatz des Bruttoinlandsproduktes, dann folgt daraus zwangsläufig, dass Leistungsbegrenzungen nötig sind.

Ließen sich die finanziellen Probleme in unserem Gesundheitssystem nicht auch dadurch beheben, dass die Krankenkassen zukünftig nicht mehr für versicherungsfremde Leistungen wie etwa Abtreibungen oder künstliche Befruchtungen aufkommen?

Die Zahl der künstlichen Befruchtungen wird zukünftig noch weiter zunehmen. Das ist ein Punkt, den man sicher sehr kritisch sehen sollte. Ob allerdings der - grundsätzlich sehr erwägenswerte - Ausschluss der solidarischen Finanzierung der künstlichen Befruchtungen oder der Abtreibungen das Gesundheitswesen vor anderweitigen Rationierungen bewahren würde, ist wohl eher zu bezweifeln. Ein anderer Punkt, der sehr stark ins Gewicht fällt, sind jedoch die Medikamente. Wir geben in Deutschland mittlerweile mehr für Medikamente aus als für die Honorare der niedergelassenen Ärzte. Da sind auch die Ärzte gefordert: Es muss nicht jeder Arztbesuch mit der Verordnung einer Menge von Arzneimitteln enden. Deutschland ist zum Teil fehl- und mangelversorgt, zum Teil überversorgt, aber nicht unterversorgt mit Arzneimitteln. Dass in diesem Sektor gespart werden muss, ist auch notwendig, damit nicht jede Pseudo-Innovation der Pharmazeutischen Industrie zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden kann.

Vor gut einem Jahr wurde der Deutsche Ethikrat gebildet. Wie muss man sich die Arbeit in diesem Gremium vorstellen?

Der neue Ethikrat ist durch Gesetz begründet und wählt sich seine Aufgaben selbst. Es war in der Anfangsphase des Deutschen Ethikrates nicht ganz einfach, Themen zu finden, von denen wir glauben, dass sie wichtig und auch Zukunftsthemen sind, ohne dass sie uns diesmal von der Politik aufgegeben wurden. Das war eine Phase, die eine gewisse Zeit in Anspruch nahm. Seither haben wir uns mehrere Themen durch Expertenrunden vortragen lassen, im Mai 2009 eine öffentliche Jahrestagung zum Thema "Der steuerbare Mensch" organisiert, wo es um Interventionen in das menschliche Gehirn ging, und wir veranstalten alle vier Monate ein Bioethik-Forum, wo die Öffentlichkeit zu interessanten Themen eingeladen wird. Am 21. Oktober 2009 wird dies etwa das Thema Klonfleisch sein. Unsere Stellungnahmen, von denen die erste im Moment noch aussteht, bereiten wir in Arbeitsgruppen vor, die sich dazu bilden. Wenn die Arbeitsgruppe zu einem Ergebnis gekommen ist, trägt sie dieses Resultat dem gesamten, aus 26 Mitgliedern bestehenden Ethikrat vor. Daraus ergeben sich weitere Diskussionen, die in die Papiere einfließen, und am Schluss wird dann die entsprechende Stellungnahme veröffentlicht.

Was erhoffen Sie sich von Ihrer Mitarbeit?

Man erhofft sich natürlich, dass die eigenen Positionen sich in irgendeiner Form in den verabschiedeten Papieren widerspiegeln. Ich habe hier die Hoffnung, eine medizinethische, aber auch eine medizinhistorische und wissenschaftstheoretische Perspektive einbringen zu können. Der Ethikrat ist in weltanschaulicher Hinsicht heterogen zusammengesetzt. In der Ethik haben wir ja eine gewisse Polarität zwischen dem, was man einerseits als konservativ, andererseits als liberal bezeichnet. Und in diesem weiten Spektrum dominiert sicherlich die sogenannte liberale Position. Hier sehe ich meine Arbeit in gewisser Weise als ein Korrektiv an. In erster Linie sehe ich meine Aufgabe darin, dem Lebensschutz und der Menschenwürde eine starke Position in den schriftlichen Stellungnahmen des Ethikrates zu verschaffen. Wie weit mir das gelingt, muss sich erst noch herausstellen.

Welche Themen stehen derzeit auf der Tagesordnung im Deutschen Ethikrat?

Da ist zum einen das Thema der Biobanken. Das hat der Nationale Ethikrat schon einmal besprochen und eine Stellungnahme dazu herausgegeben, aber durch technische Weiterentwicklungen auf diesem Gebiet wird hier eine Neubearbeitung notwendig. Ein weiteres Thema ist die sogenannte Babyklappe und die Anonyme Geburt. Das ist ein Thema, das nicht so sehr im Licht der Öffentlichkeit steht, bei dem es aber um die Frage geht, ob diese Institutionen Babyklappe und Anonyme Geburt beibehalten werden können (die ja eigentlich nicht legal sind, sondern zur Zeit nur geduldet werden), oder ob man diese Einrichtungen, die es erst seit ungefähr zehn Jahren gibt, wieder abschaffen muss. Hier hatten wir eine Anhörung von Experten und beschäftigen uns auch schon seit dem Herbst 2008 in einer Arbeitsgruppe mit diesem Thema. Auf der einen Seite steht das Lebensrecht Ungeborener, und die Befürworter der Babyklappe postulieren, dass möglicherweise doch auch Leben gerettet wird, nämlich von Kindern, die andernfalls vielleicht zu Tode kämen. Nach meiner Einschätzung und der vieler anderer Kollegen ist es aber so, dass das Persönlichkeitsrecht der anonymisierten Kinder zweifellos in einem erheblichen Umfang verletzt wird, während es weder einen empirischen Beleg noch auch nur eine theoretische Plausibilität dafür gibt, dass wenigstens ein einziges Kind durch eine Babyklappe oder durch die Anonyme Geburt tatsächlich gerettet worden ist, dass es also ohne die Möglichkeit einer anonymen Abgabe getötet worden oder zu Tode gekommen wäre. Ich persönlich komme bei dieser Abwägung zu dem Ergebnis, dass die beiden Institutionen Babyklappe und Anonyme Geburt keine geeigneten Mittel zur Lebensrettung sind.

Darüber hinaus befassen wir uns mit Chimären und Hybriden und mit der Frage der gerechten Ressourcen-Allokation im Gesundheitswesen. Das sind aktuell die vier wichtigen Themen, zu denen in absehbarer Zeit auch Stellungnahmen zu erwarten sind.

Welche medizinethischen Debatten stehen uns Ihrer Ansicht nach in Deutschland künftig noch bevor?

Es ist immer schwierig, Prognosen abzugeben. Was wir mit dem Thema Ressourcen-Allokation aufgetan haben, darin sehe ich ein weites Feld. Bei dem Thema "Sterbehilfe" werden wir sicherlich immer wieder gefordert sein, denn ich denke nicht, dass mit dem beschlossenen Patientenverfügungsgesetz dieses Thema beendet ist. Die "liberale Fraktion" auch innerhalb des Deutschen Ethikrates beschäftigt sich ja jetzt schon mit dem "ärztlich assistierten Suizid". Dann bleibt natürlich das Embryonenschutzgesetz auf der Agenda, das durch zahlreiche medizinische Innovationen strafrechtlich sehr lückenhaft geworden ist.

Fällt das Embryonenschutzgesetz?

Ich fürchte - das ist allerdings nur eine Prognose -, dass das Stammzellgesetz und das Embryonenschutzgesetz in einem neuen Gesetz - das dann vielleicht "Biomedizingesetz" oder ähnlich heißen wird - aufgehen werden. Dieses Gesetz würde dann sicherlich nicht restriktiver, sondern noch "liberaler" als die beiden jetzigen Gesetze sein. Diese Debatte könnte uns schon in der nächsten Legislaturperiode bevorstehen.

Die Gewinnung embryonaler Stammzellen im eigenen Land und die Präimplantationsdiagnostik (PID) werden also kommen?

Was die Stammzellforschung angeht, so habe ich unter anderem auch medizinische Bedenken, weshalb ich glaube, dass sich hier zunächst einmal nichts Entscheidendes tun wird. Anatomisch vorhandener Zellersatz bedeutet nämlich keineswegs automatisch eine physiologisch korrekte Funktion dieser Zellen, ganz abgesehen vom enormen Tumorrisiko derartigen Zellersatzes. Was die PID angeht, wird sich sicherlich etwas ändern. Schon jetzt haben wir teilweise eine Rechtsprechung, die diese Art der lebensvernichtenden Diagnostik legal erscheinen lässt. Zudem werden künstliche Befruchtungen, wie schon gesagt, zunehmen und es werden Forderungen nach einer flächendeckenden Einführung der PID von der Fortpflanzungsmedizin kommen.

Eine letzte Frage, Herr Professor Bauer: Welche Maßnahmen müssten Ihrer Ansicht nach ergriffen werden, um dem umfassenden Lebensschutz in Deutschland wieder mehr Gewicht zu verleihen?

Der Lebensschutz kann nur dann gewährleistet werden, wenn wir die Würde des Menschen als den zentralen Dreh- und Angelpunkt unserer Verfassung nicht aus den Augen verlieren und wenn wir diese Menschenwürde nicht zu eng auslegen. Es kann nicht darum gehen, nur die Würde derjenigen Menschen zu schützen, die sich auf andere Weise vielleicht viel wirkungsvoller gegen Übergriffe wehren können, zum Beispiel mithilfe des Zivilrechts und des Strafrechts. Geschützt werden müssen vor allem diejenigen, die sich nicht selber schützen können. Dazu gehören aus Krankheits- oder Behinderungsgründen nicht einwilligungsfähige Menschen, aber eben auch Embryonen und Föten. Jede zielgerichtete Ausgrenzung "menschlicher Lebewesen", wie ein verräterischer Terminus im Wörterbuch der "liberalen" Bioethik lautet, aus dem Bereich der von der Würde des Menschen erfassten Individuen gefährdet den umfassenden Lebensschutz und verletzt die Menschenwürde gerade dadurch. Hier müssen wir äußerst wachsam sein.


IM PORTRAIT

Prof. Dr. med. Axel W. Bauer
Jahrgang 1955, Studium der Medizin in Freiburg, 1980 Promotion und Approbation als Arzt; 1981-1986 Hochschulassistent in Heidelberg; 1986 dort Habilitation und Privatdozent für Geschichte der Medizin; seit 2004 Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und Leiter des gleichnamigen Fachgebiets an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg; 2001-2005 Mitglied im Beirat "Bio- und Gentechnologie" der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, seit 2004 Vorsitzender des Klinischen Ethik-Komitees (KEK) der Universitätsmedizin Mannheim und seit 2008 Mitglied im Deutschen Ethikrat.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 91, 3. Quartal 2009, S. 8 - 12
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2010