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UMWELT/755: Natürliche Hintergrundstrahlung erhöht das Risiko für Kinderkrebs (Strahlentelex)


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Nr. 678-679 / 29. Jahrgang, 2. April 2015 - ISSN 0931-4288

Epidemiologie

Natürliche Hintergrundstrahlung erhöht das Risiko für Kinderkrebs

Eine neue Schweizer Kinderkrebsstudie bringt Gewissheit

von Thomas Dersee


Regionale Unterschiede der natürlichen Hintergrundstrahlung aus dem Boden und dem Weltall können bereits das Krebsrisiko bei Kindern erhöhen. Dies zeigt eine neue Studie der Universität Bern, die Ende Februar 2015 in der Zeitschrift Environmental Health Perspectives veröffentlicht wurde. [1] Die Wissenschaftler um Ben D. Spycher und Claudia E. Kuehni zeigen anhand der natürlichen Strahlenbelastung in den Schweizer Bergen, daß das Risiko für Krebserkrankungen bei Kindern bis 16 Jahren schon bei wenigen zusätzlichen Millisievert pro Jahr ansteigt.

In der Schweiz erkranken jährlich etwa 200 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahre an Krebs. Die häufigsten Krebsarten in diesem Alter sind Leukämien - etwa ein Drittel aller Fälle - und Hirntumore (etwa 20 Prozent). Die Ursachen für diese Erkrankungen sind weitgehend unbekannt. Unter möglichen Umwelteinflüssen ist einzig eine relativ hohe Dosis ionisierender Strahlung ein gesicherter Risikofaktor, insbesondere für Leukämien und Hirntumore. Dies zeigen Studien an Überlebenden der Atombombenabwürfe in Japan. Einer vergleichsweise geringen Dosisleistung (Dosis pro Zeiteinheit) durch die allgegenwärtige Strahlung aus Erdboden (terrestrische Gammastrahlung) und Weltall (kosmische Strahlung) ist die ganze Bevölkerung ausgesetzt.

Ob und wie sich diese geringe, kontinuierlich anfallende Dosis auf das Krebsrisiko bei Kindern auswirkt, war bislang ungewiss. Die Forschergruppe um Ben Spycher und Claudia Kuehni vom Institut für Sozial-und Präventivmedizin der Universität Bern fand in ihrer Studie nun Hinweise darauf, daß das Krebsrisiko bei Kindern in der Schweiz durch die regional unterschiedliche Intensität der Hintergrundstrahlung tatsächlich beeinflusst wird. Die Forschenden analysierten dazu Daten der Schweizerischen Nationalen Kohorte, welche alle Kinder einschließt, die in den Volkszählungen von 1990 und 2000 erfasst wurden - insgesamt über 2 Millionen Kinder unter 16 Jahren.

Der Einfluss des Wohnorts

Die Forscher verwendeten Strahlenkarten der Schweiz, um die örtliche Dosisleistung terrestrischer und kosmischer Strahlung am Wohnort der Kinder zum Zeitpunkt der Volkszählung abzuschätzen. Krebserkrankungen nach diesem Zeitpunkt konnten anhand von Daten des Schweizer Kinderkrebsregisters ermittelt werden, bis zum Jahr 2008. In diesem Zeitraum erkrankten insgesamt 1.782 Kinder an Krebs, davon 530 an Leukämien und 423 an Tumoren des Zentralnervensystems. Es wurden zwei Expositionen berechnet: die Dosisleistung am Wohnort zum Zeitpunkt der Volkszählung und die seit der Geburt anfallende totale Dosis unter der Annahme, daß das Kind immer den selben Wohnort hatte. Im Mittel waren die Kinder einer Dosisleistung von 109 Nanosievert pro Stunde (nSv/h; 1 = 1.000 nSv/h; 109 nSv/h = 0,109 ) ausgesetzt, was über ein Jahr gerechnet eine Dosis von etwa 0,96 Millisievert (mSv) ergibt.

In der Schweiz lebt etwa ein Prozent der Kinder in Gebieten mit einer Hintergrundstrahlung von mehr als 1,75 mSv pro Jahr. Unter diesen Kindern, die einer Dosisleistung von mehr als 200 nSv/h ausgesetzt waren, wurden elf Leukämien und acht Hirntumore beobachtet. "Im Vergleich zu Kindern mit einer Exposition von 100 nSv/h oder weniger entspricht dies etwa einer Verdoppelung des Risikos", erklärt Studienautor Ben Spycher. Aufgrund der seit der Geburt anfallenden Dosis schätzten die Forscher eine Risikozunahme um etwa 4 Prozent pro Millisievert (mSv) zusätzlicher Gesamtdosis, sowohl für Leukämien als auch für Hirntumore.

"Die Risikounterschiede lassen sich nicht durch andere berücksichtigte regionale Unterschiede erklären, wie sozio-ökonomischer Status, Urbanisierungsgrad, die Nähe zu Autobahnen, Hochspannungsleitungen oder Radio- und TV-Sendern", ergänzt Co-Autorin Claudia Kuehni.

Auch niedrige Dosen sind gefährlich

Terrestrische und kosmische Strahlung sind nur zwei Komponenten der gesamten Strahlenbelastung der Bevölkerung. In der Berner Studie war etwa 1 Prozent der Kinder erhöhten Belastungen von über 200 nSv aus Gestein oder Kosmos ausgesetzt. Grösser ist die Belastung durch Radongas, welches beim Zerfall von natürlich vorkommendem Uran im Erdreich entsteht und durch Ritzen in Gebäude eindringen kann.(1) Es erhöht vor allem das Risiko für Lungenkrebs. Eine wichtige Strahlungsquelle ist zudem die medizinische Diagnostik (Röntgendiagnostik) mit durchschnittlich 1,2 mSv pro Jahr und pro Person (2) sowie lange Flugreisen, bei denen man erhöhter kosmischer Strahlung ausgesetzt ist. Kuehni: "Insgesamt deuten unsere Resultate darauf hin, daß ionisierende Strahlung auch im Niedrigdosisbereich das Krebsrisiko bei Kindern erhöhen kann."

Kommentar

Das Schweizer Studienprojekt CANUPIS, das seit September 2008 die Häufigkeit von Krebserkrankungen und speziell von Leukämien bei Kindern in der Umgebung von schweizerischen Atomkraftwerken untersuchte, hatte kein Ergebnis erbracht. Angeregt worden war diese Untersuchung durch die Ergebnisse der Ende 2007 veröffentlichten deutschen Kinderkrebsstudie (KiKK-Studie), die eine Verdoppelung des Risikos von Blutkrebs (Leukämie) bei unter 5-jährigen Kindern ergeben hatte, die zum Zeitpunkt der Diagnose im Umkreis von 5 Kilometern eines Atomkraftwerkes wohnten. Die Schweizer Studie sollte die deutschen Resultate bei unter 5-jährigen Kindern sowohl für Blutkrebs als auch für Krebserkrankungen allgemein mit einer Kohortenstudie für die Jahre 1985 bis 2007 nachvollziehen. Zusätzlich untersuchte die CANUPIS-Studie auch bis zu 16-jährige Kinder. Die Erfolglosigkeit der CANUPIS-Studie war allerdings erwartet worden, weil die demographischen Voraussetzungen (Einwohnerzahl, Fallzahlen, Bevölkerungsdichte in der Nähe von AKWs) für die für solche Studien zu fordernde statistische Nachweiskraft (Power) nicht ausreichten. Die Atommeiler konzentrieren sich in der Schweiz nämlich auf lediglich zwei Standorte und nicht auf 16 wie in Deutschland. [2] Die neue Schweizer Kinderkrebsstudie von Spycher und Kollegen bringt nun jedoch Gewissheit und zeigt sogar viel mehr und macht es dringender, die Einschätzung der Risiken ionisierender Strahlung weiter zu korrigieren.

Die Angaben des Risikos in Form einer "Hazard Ratio" pro Nanosievert pro Stunde (nSv/h) ist besonders anschaulich. Denn die Angaben pro Millisievert (mSv) suggerieren bzw. verkürzen den Blick auf eine einmalige Applikation von 1 mSv. Die Hazard Ratio dagegen macht deutlich, was passiert, wenn man die Hintergrundstrahlung rechnerisch/gedanklich zum Beispiel verdoppelt. Darauf wies der Epidemiologe Hagen Scherb vom Helmholtz Zentrum München hin. [3]

Verdoppelt sich die Hintergrundstrahlung zum Beispiel von 100 nSv/h (= 0,876 mSv/ Jahr) auf 200 nSv/h (= 1,752 mSv/Jahr), dann sagt die Studie von Spycher et al. [1](3), daß sich die Krebsrate bei Kindern bis 16 Jahren dann um den Faktor 1,27, das heißt um 27 Prozent erhöht.

Obwohl man Totgeburtlichkeit und Krebserkrankungen nicht direkt vergleichen kann, so ist doch auffällig, daß der von Scherb und Weigelt bereits früher ermittelte Risikokoeffizient für Totgeburtlichkeit nach dem Tschernobyl-Fallout in Bayern und in der DDR mit 1,33 pro mSv/Jahr mit dem Risiko von Spycher et al. ziemlich genau übereinstimmt. [4]

Im Klartext heißt das: Verdoppelt man die Hintergrundstrahlung, dann erhöhen sich die Kinderkrebsrate und die Totgeburtlichkeit um circa 30 Prozent.

Wie Scherb ergänzend bemerkt, hatte John Gofman das in den 1990er Jahren qualitativ schon so ausgedrückt: "In our own view, it is quite possible that a permanent doubling of the 'background' dose of ionizing radiation, world-wide, would very gradually double mankind's burden of inherited afflictions - from mental handicaps to predispositions to emotional disorders, cardio-vascular diseases, cancers, immune-system disorders, and so forth." Wenn man bedenke, so Scherb, daß empirische Schätzer aufgrund vielfältiger Fehlermöglichkeiten die "wahren" Risiken im allgemeinen noch unterschätzen, könnte Gofman am Ende auch quantitativ sehr recht behalten.

Das von Spycher et al. ermittelte Risiko für "All cancers" von 1,028 (95% CI: 1,008-1,048)/mSv passt auch erstaunlich gut mit der australischen Studie über die Wirkung von Computertomographien (CT-Studie) von John D. Mathews et al. von der University of Melbourne aus dem Jahre 2013 zusammen: "From our study, we estimated the excess rate ratio to be 0.027 (0.017 to 0.037) per mSv for all solid cancers". [5]

Es bleibt zu fordern, daß eine Untersuchung nach Art der Kinderkrebsstudie von Spycher nun auch für Deutschland durchgeführt wird - zumal mit der Praxis der Freimessung von Atommüll die Hintergrundstrahlung absichtsvoll erhöht wird. Th.D.


[1] Ben D Spycher, Judith E Lupatsch, Marcel Zwahlen, Martin Röösli, Felix Niggli, Michael A Grotzer, Johannes Rischewski, Matthias Egger, Claudia E Kuehni, Background ionizing radiation and the risk of childhood cancer: a census-based nation-wide cohort study, Environmental Health Perspectives 123, Febr. 2015, DOI: 10.1289/ehp.1408548,
http://dx.doi.org/10.1289/ehp.1408548
http://ehp.niehs.nih.gov/1408548/

[2] Schweizer Kinderkrebsstudie ist ohne ausreichende statistische Nachweiskraft, Strahlentelex 550-551 v. 3.12.2009, S. 1-2,
www.strahlentelex.de/Stx_09_550_S01-02.pdf

[3] Hagen Scherb, priv. Mitteilung v. 26.02.2015; mit Dank für seine Hinweise.

[4] Hagen Scherb, Eveline Weigelt: Congenital Malformation and Stillbirth in Germany and Europe Before and After the Chernobyl Nuclear Power Plant Accident, ESPR - Environ Sci & Pollut Res, Special Issue 1 (2003): 117-125, S.120

[5] John D. Mathews, Anna V. Forsythe e al., Cancer risk in 680 000 people exposed to computed tomography scans in childhood or adolescence: data linkage study of 11 millions Australians, BMJ 2013;346:12360 doi: 10.1136/bmj.f2360, p. 1-18,
http://www.bmj.com/content/346/bmj.f2360

(1) Für Deutschland gibt das Bundesumweltministerium für das Jahr 2012 die mittlere effektive Jahresdosis pro Person durch Radon und seine Zerfallsprodukte mit 1,1 mSv an, bei einer Schwankungsbreite von 1 bis 10 mSv.
www.strahlentelex.de/Stx_14_654-655_S10-12.pdf

(2) So die Angaben für die Schweiz; in Deutschland sind es im Mittel sogar 1,8 mSv pro Person und Jahr, wobei zu beachten ist, daß die Belastungen durch Röntgenuntersuchungen im Einzelfall tatsächlich noch deutlich höher sind, weil bei dieser Zahlenangabe über die gesamte Bevölkerung gemittelt wurde, das heißt auch über alle diejenigen, die gar keine Röntgenuntersuchungen erhielten und damit keiner Belastung durch Röntgenstrahlen ausgesetzt waren. Um so höher ist die Belastung derjenigen mit Röntgenuntersuchung.

(3) Table 3, Zeile "All cancers"


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_15_678-679_S01-03.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, April 2015, Seite 1-3
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2015

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