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FORSCHUNG/2337: AIDS - Spionage in der Virenfabrik (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 3/2010

Spionage in der Virenfabrik

Von Catarina Pietschmann


Affen leben mit ihrer Form des Immunodeficiency-Virus schon seit Tausenden von Jahren. Der Mensch mit HIV noch nicht einmal ein Jahrhundert. Wenig Zeit, sich aneinander anzupassen. Kein Wunder also, dass die Beziehung äußerst konfliktträchtig ist. Matthias Geyer vom Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund lernt von den gefährlichen Viren, wie sie ihre Wirtszellen für ihre Zwecke einspannen.


Die Bedrohung ist in den Hintergrund gerückt, erscheint heute nicht mehr so brisant. Und dennoch: Im vergangenen Jahr gab es allein in Deutschland rund 3000 Neuinfektionen mit HIV - weltweit 2,7 Millionen. Rund um den Globus, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation, tragen derzeit 33,4 Millionen Menschen das human immunodeficiency virus in sich. Zwei Millionen starben 2008 in Zusammenhang mit Aids, darunter 280 000 Kinder. Es sind die Zahlen einer Pandemie. Beruhigung klingt anders.

Auf Matthias Geyer vom Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund hat das zur Gruppe der Lentiviren gehörende Retrovirus aber auch eine ganz andere Wirkung: große Faszination. Als Wissenschaftler sieht er darin ein hochentwickeltes biologisches System, das eine ganz erstaunliche Fähigkeit besitzt: Es bringt menschliche sogenannte T-Immunzellen dazu, das Viruserbgut rund 100-mal häufiger zu vermehren als ihr eigenes. Wie schafft es das bloß?

Von der Lösung dieses Rätsels verspricht sich die Wissenschaft nicht nur neue Therapieansätze zur Behandlung von akuten HIV-Infektionen und Aids. Auf dem langen, steinigen Weg dahin werden auch viele neue Erkenntnisse über die molekularen Vorgänge in menschlichen Zellen gewonnen: Was macht den Unterschied zwischen gesund und krank, zwischen jung und alt?

Und deshalb ist das tödliche Virus für den 45-Jährigen auch nicht einfach "klein und gemein", sondern eher äußerst raffiniert und hocheffizient. "Es will seinen Wirt, den Menschen, ja nicht umbringen. Sieht man es darwinistisch, will es mit uns in gegenseitig stimulierender Koexistenz leben", sagt Geyer. Es hat auch keine andere Wahl, denn wie alle rund 4.000 bekannten Virenspezies ist das HI-Virus eigentlich arm dran: Ohne Wirt ist es weder in der Lage, seine Gene zu vervielfältigen, noch kann es lange in der widrigen Außenwelt überleben. Es besteht ja nur aus einer Hülle, dem Kapsid, und Erbgut - einer recht kleinen Einzelstrang-RNA aus knapp 9500 Basenpaaren. Lentiviren (von lat. lentus = langsam) verursachen meist langsam fortschreitende Erkrankungen. "Wirtsmord" wäre auf lange Sicht Selbstmord. Symbiose das einzig Mögliche.


Rohes Buschfleisch als Ansteckungsherd

"Die allermeisten Affenarten leben bereits seit einigen 10.000 Jahren mit dem Virus, haben also eine lange Co-Evolution mit ihm durchgemacht." Es mag zynisch klingen, aber man kann es schlicht als Pech für uns heute lebende Menschen ansehen, dass HIV ihn erst seit wenigen Jahrzehnten als neuen Wirt erkor. Und das wohl nicht mal mit Absicht. Früh im 20. Jahrhundert wurde es mehrfach unabhängig voneinander auf den Menschen übertragen. Zuerst vom Schimpansen (HIV-1), dann von einer Meerkatzenart (HIV-2). Beide Male vermutlich durch den Verzehr von rohem "Buschfleisch" oder bei Jagdunfällen. Kaum ein Affe stirbt noch an dem HIV-ähnlichen simian immunodeficiency virus (SIV, simian = affenartig). Tödlich endet es jedoch, wenn der Erreger eine andere Spezies kapert. Denn Wirtswechsel setzen immer Anpassungen an den Wirt voraus.

"Es ist ein dauernder Wettstreit: Das Immunsystem wehrt sich gegen den Eindringling - das Virus entwickelt Escape-Mutanten, um den Antikörpern zu entgehen. Dieser Prozess ist ein wichtiger Bestandteil der Evolution, mit Vorteilen für beide Seiten. Denn unser Immunsystem wird durch Viren, genau wie durch Bakterien, herausgefordert und entwickelt sich weiter." In der Tat wird vermutet, dass bis zu acht Prozent unseres Genoms aus Überbleibseln ehemals infektiöser Retroviren bestehen. Optimistische Schätzungen besagen, dass es beim Menschen noch 200 Jahre dauern wird - Pessimisten sprechen von 500 -, bis wir diesen Status quo mit dem Winzling erreicht haben. Dann wird er auf die Bedrohungsstufe eines Herpesvirus herabgesunken sein. 200 Jahre - für die Evolution nur ein Augenzwinkern. Für Wissenschaftler wie Matthias Geyer ist das kein Grund nachzulassen. Sie suchen fieberhaft nach Strategien, um die Virusvermehrung zu bremsen.


Wissenschaft mit dem Molekülbaukasten

Matthias Geyer stammt aus Ostfriesland, machte ein Abitur, mit dem er gut und gerne auch Zahnmedizin hätte studieren können. Doch er entschied sich für Physik und Musikwissenschaften in Kiel. Letzteres beendete er nach drei Semestern. "Was hätte daraus werden sollen? Musikkritiker oder Archivarbeit? Nichts für mich." Das Physikstudium war im Grunde auch ziemlich öde. Geyer wechselte zur Uni Bonn, später nach Heidelberg. Und dort hörte er eine Vorlesung über etwas damals noch ziemlich Neues - Biophysik! Genau das war es! Seine Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung schrieb er über NMR-Spektroskopie zur Analyse biologischer Reaktionsmechanismen. "Das Spielerische daran hat mich sehr gereizt. Ein Baukasten voll mit Molekülen - das war genau mein Ding!", sagt er schwärmend. Es ist nicht viel anders als früher mit seinem Fischertechnikbaukasten. Nur sind die Bausteine eben sehr viel kleiner und haben noch mehr Noppen. Was passt wie zusammen? Und wie wirkt sich das auf das große Ganze aus?

Der Biophysiker steht nun an der Tafel in seinem Büro und brennt darauf, seine Forschung zu skizzieren. Das, was das Virus heute noch so bedrohlich macht, ist seine Effizienz an einem ganz bestimmten Punkt. "Letztlich dreht sich alles um die Transkription, das Umschreiben der Virus-RNA in DNA durch das Enzym reverse Transkriptase und die anschließende Vermehrung der HIV-Gene, wenn sie erst mal in das Wirtsgenom eingebaut sind." Beim Menschen ist es im Prinzip das Gleiche, nur genau umgekehrt: Die DNA wird in die sogenannte Boten-RNA (mRNA) umgeschrieben. Die Transkription ist in drei Schritte gegliedert: die Initiation, also der Startschuss, die Elongation, bei der die Nukleotidsequenz aufgebaut wird, und die Termination, der Schlusspfiff.

Während die menschliche DNA die Baupläne für rund 24.000 verschiedene Proteine enthält, stecken in der HIVRNA lediglich Anweisungen für 15 Eiweiße. Manche kommen auch in anderen Viren vor. Aber fünf davon - die akzessorischen Proteine - sind hochspezifisch. "Accessoires", die verantwortlich für die raffinierte Vorgehensweise des Erregers sind. Und das macht sie für die Forschung besonders interessant. "Am HIV-Genom ist nichts zufällig", betont Geyer. "Wäre daran etwas überflüssig, hätte die Evolution es spätestens in der dritten Runde rausgeschmissen." Zu diesen heißen fünf gehört unter anderem der Negativ-Faktor Nef. Sobald das Virus in die T-Helferzelle eingedrungen ist, sorgt es mit diesem intrazellulären Protein dafür, dass die Zelle keine CD4-Rezeptoren an ihrer Oberfläche mehr "aufstellt". HIV dockt nämlich nur an Immunzellen an, die diese Rezeptoren tragen. Und würden weitere Viren eine bereits infizierte Zelle entern, käme es zur Superinfektion. Die wiederum würde die Zelle freiwillig in den Selbstmord treiben: Apoptose, und aus der Traum von der langjährigen "friedlichen" Symbiose mit dem Wirt - uns.

An Nef forscht Matthias Geyer zwar auch, aber das hier ist eine andere Geschichte. Im Scheinwerferlicht: Accessoire Tat - der Transkriptions-Aktivierungsfaktor. Mit ihm kurbelt das Virus seine Vermehrung mächtig an. Matthias Geyer erklärt den Prozess der Transkription an der menschlichen Zelle, um dann die Unterschiede zum HI-Virus herauszustellen.

Es ist ein Theaterstück mit vielen Nebenhandlungen und ganz großem Ensemble. Erster Akt: die Initiation. Zum Start des Umschreibens von DNA in mRNA kommen neben dem Enzym RNAPolymerase II - dem universalen "Lese- und Schreibgerät" - rund 100 verschiedene Proteine zusammen. Sie setzen sich huckepack auf bestimmte Erkennungsstellen (Promotoren) in der Gensequenz. Die DNA wird teilweise entrollt, die Polymerase fährt an, liest und knüpft die ersten etwa 30 Nukleotide der mRNA aneinander. Dann stoppt die Maschinerie. "Das ist ein Rückkopplungsmechanismus nach dem Motto: Wollen wir das jetzt wirklich machen?", erklärt Geyer.

Zweiter Akt: die Elongation. Ist die Antwort positiv, kommt das "Go on!" in Form des positiven Transkriptions-Elongationsfaktors P-TEFb. Er bestückt das eine Proteinkettenende der Polymerase (die sogenannte C-terminale Domäne, CTD) mit Phosphatgruppen, und weiter geht's: Die 100 Proteine des Initiationskomplexes fallen nun ab, die DNA wird weiter entrollt, die Polymerase setzt ihre Arbeit fort und vollendet ihr Transkript - die mRNA.

Dritter Akt: die Termination. Anschließend wird die noch "unreife" mRNA zurechtge schnitten und - voilà - fertig ist die Schablone für das gewünschte Protein.


Silvesterraketen im Juli und verbale Funkenschauer

Es ist einer dieser superheißen Julitage. Die Hitze steht in dem kleinen Büro und die Luft verdichtet sich von Minute zu Minute weiter. P-TEFb! Hexim! Nef! 7SK! Cdk9! Cdk2! Cyclin! Tat-Protein! TAR !Tat-TAR! Im Sekundentakt steigen Namen und Abkürzungen wie Silvesterraketen auf. Zerplatzen unter der Decke und tauchen den Raum in verbale Funkenschauer. Hier spricht einer, der für seine Forschung tatsächlich brennt. Matthias Geyer redet schnell, enthusiastisch und ohne jede Eitelkeit. Doch weiter im Text. Jetzt nur nicht schwächeln! Der "Go on!"-Faktor P-TEFb hat nämlich eine natürliche Bremse: ein kleines Protein namens Hexim1. Es sorgt normalerweise in der menschlichen Zelle dafür, dass dieser Faktor abgeschaltet wird, wenn keine Proteine mehr gebraucht werden - beispielsweise, weil die Zelle sich gerade nicht teilt. Geyer fand nun unter anderem heraus, worin die fatale Wirkung des Tat-Proteins von HIV besteht: Es ist ein Aktivator und verdrängt die Bremse Hexim1 von PTEFb. Die Folge: Die Zelle produziert nun die entsprechende Proteinsorte endlos weiter.


Ursprung von HIV

Man geht inzwischen von vier einzelnen Übertragungen aus, die möglicherweise mehrfach erfolgt sind. Die wichtigste ist vom Schimpansen und fand vermutlich zwischen 1910 und 1930 statt. Daraus ist die heute mit Abstand größte Gruppe der HIV-1-M-Allele entstanden. Auch die Gruppe der Outlier (HIV-1 O), zum Teil auch long term non-progressors, wurde vermutlich durch Schimpansen übertragen. Aus einer Übertragung von der Mangabe-Meerkatze aus Westafrika ist die HIV-2-Variante hervorgegangen.

Die neueste Variante ist HIV-1 P (HIV-3), die vermutlich vom Schimpansen auf den Gorilla und dann vom Gorilla auf den Menschen übertragen wurde. Sie stammt also ebenfalls ursprünglich vom Schimpansen. Diese Variante wurde erst 2009 identifiziert. Da das Virus ähnlich wie HIV-1 O nicht bzw. wenig pathogen ist, wurde es im Alphabet fortlaufend als HIV-1 P klassifiziert.


Im Detail ist das noch um einiges komplizierter. P-TEFb ist ein Komplex, bestehend aus zwei Untereinheiten: dem Protein Cyclin T1 und seinem Enzym, der Cyclin-abhängigen Kinase Cdk9. Tat bindet zunächst an einer bestimmten Sequenz der Virus-RNA-TAR. Und dieses fiese Doppel (Tat-TAR) krallt sich dann an Cyclin T1. Damit besetzt es die "Poleposition" - genau die Stelle, an der sonst die Bremse Hexim1 andockt. Und damit kurbelt das Virus die Transkription seiner Gene an - oder "verstärkt die Expressionslevel", wie Biochemiker sagen.

Dass (normalerweise) durch die Bindung von Hexim1 an Cyclin T1 letztlich Cdk9 schachmatt gesetzt und die Elongation abgebremst wird, entdeckte man erst 2003. "Fehlregulationen der Transkriptions-Elongation, wie durch HIV, treten interessanterweise auch bei anderen Erkrankungen auf, etwa bei Herzmuskelhypertrophie", erzählt Geyer. Die Herzmuskelzellen produzieren dadurch immer mehr Protein, was den großen Muskel extrem anwachsen lässt und tödlich endet.

Ebenso bei bestimmten Krebsarten. Etwa bei Eierstock-, Hoden- und Darmkrebs ist Hexim1 nachweislich mutiert. Dadurch kann die Zelle entweder nicht mehr genügend davon herstellen, oder es entstehen Punktmutationen, die dazu führen, dass das Protein fehlerhaft arbeitet. Stichwort Brustkrebs: Man weiß inzwischen, dass Hexim1 das Brustzellwachstum hemmt. Diese Hemmung wird durch Östrogene gesteuert, ist in den Tumoren jedoch abgeschwächt. Kürzlich fanden Forscher heraus, dass auch eine sehr aggressive Leukämieform bei Kindern von der Cdk9-Funktion abhängig ist. "Entdeckt wurde dieser zelluläre Regulationsmechanismus jedoch bei HIV", betont Geyer. Grund genug für ihn, sich alle beteiligten Moleküle - die "Guten" wie die "Bösen" - genauestens anzusehen.

Etwa die Bromodomäne4. Sie aktiviert den P-TEFb-Komplex - bevor dieser das "Go on!"-Signal gibt und die Polymerase II dann weiter liest und schreibt, bis das Transkript fertig ist. "Aber wie entsteht Spezifität?", wendet Matthias Geyer lächelnd ein und steht bereits wieder an der Tafel. Ja, wir hatten es geahnt, es gibt noch sehr viel mehr Fragen. Eine ganz zentrale ist: Warum wird das eine Gen ausgelesen und das andere nicht? Beim Virus sind es ja nicht viele Gene, aber bei uns: 24.000! "Die Zelle könnte unterschiedliche Markierungen verwenden, um jedes abzulesende Gen als solches zu identifizieren. Das wären dann allerdings 24.000 verschiedene Markierungen - viel zu viel für eine Zelle. Alternativ könnte sie einen kleinen Satz an Markierungen benutzen, aus dem sich immer wieder neue, eindeutige Muster kombinieren lassen."


Ein rätselhafter Code am Ende des Enzyms

Als heiße Kandidaten für solche Markierungsmuster gelten zwei Moleküle. Zum einen besagte Bromodomäne4. Sie aktiviert nicht nur P-TEFb. Sie interagiert auch mit den Histonen, jenen kleinen knubbeligen Proteinen, auf denen die DNA aufgewickelt ist, damit sie sich nicht verheddert. Jedes Histon hat seitlich kleine "Härchen" aus Aminosäureketten, auf denen in bestimmten Mustern Kohlenwasserstoffreste sitzen. Sind diese chemischen Modifikationen der Histone ein Erkennungsmuster zum Ablesen von Genen?

Der andere Kandidat ist die CTD, Sie erinnern sich? Das eine Ende der RNAPolymerase II. Und die trägt einen rätselhaften Siebener-Code: Das sogenannte Repeat aus sieben Aminosäuren - Tyrosin-Serin-Prolin-Threonin-Serin-Prolin-Serin. Und diese Sequenz 52-mal hintereinander. Beim Menschen. Bei der Bäckerhefe nur 26-mal, bei anderen Organismen sogar noch häufiger. Es ist so eine Art "Da Vinci Code" - nur weiß bisher niemand so recht, was er bedeutet.

Bekannt ist aber, dass das Hepta-Repeat erst eine "Verzierung" bekommen muss, bevor die Transkription weiterlaufen kann: Phosphatgruppen, die sich auf die Serine setzen (und dies in anderer Reihenfolge als bisher vermutet, wie Geyer kürzlich herausfand). Dies könnte der zweite Teil bei der Spezifizierung des Genablesens sein. An solchen Rätseln arbeitet Matthias Geyer und mit ihm viele Kollegen weltweit. Auch, aber nicht nur, um HIV besser zu verstehen.

Zurück zur Immunschwäche. Mit heutigen Therapien wird ein Mensch, der sich im Alter von 20 mit HIV infiziert, durchschnittlich 69,4 Jahre alt. Natürlich nur, wenn er in einem Land mit optimaler Gesundheitsversorgung lebt, wie in Deutschland. Er stirbt also nicht mehr unbedingt an Aids. Die Behandlung besteht meist aus der Kombination mehrerer Wirkstoffe, die unter anderem die reverse Transkriptase hemmen oder die Protease, welche unreife Proteine zurechtschneidet. Sie greift Enzyme an, die in sehr ähnlicher Form auch beim Menschen vorkommen. Deshalb hat die lebenslange Therapie viele Nebenwirkungen.


Neues Werkzeug soll die Virusvermehrung drosseln

Wo könnte ein neuer Wirkstoff denn effektiv und zugleich schonender eingreifen? "Wenn man Tat-TAR ausschalten könnte, hätte man ein tolles Werkzeug in der Hand, um die Virusvermehrung zu reduzieren. Denn das System spielt ja ausschließlich bei HIV eine Rolle", sagt Geyer. Ein bis drei Wochen nach der Infektion steigt die Viruslast, also die Zahl der im Körper umherschwirrenden Erreger, stark an, und gleichzeitig sinkt die der CD4-Helferzellen extrem ab. "Wenn man an diesem Punkt dem Körper einen Vorteil verschaffen könnte, indem man die Virusreplikation drosselt, würden alle HIV-belasteten Zellen durch Antikörper erkannt und ausgeschaltet werden. Denn das Virus ist am Anfang noch ziemlich einheitlich." Doch dann verändert es sich mit jeder Replikationsrunde. Nicht aus "Böswilligkeit", sondern weil seine reverse Transkriptase schludrig arbeitet. Es ist auf Masse aus - nicht auf Klasse. Das Enzym hat eine Fehlerrate von 1 zu 1000 Nukleotiden und so kommt es immer wieder zu zufälligen Wechseln, die zu leicht veränderten Proteinen führen. An manchen Stellen schadet das nichts: Es entstehen sogenannte stille Mutanten. Bei anderen trifft es eine entscheidende Stelle, beispielsweise ein Hüllprotein. Die Folge: Eine Escape-Mutante entsteht und schon ist eine neue Virusvariante da, die - wie durch eine Tarnkappe geschützt - für die Wächterzellen des Immunsystems zunächst unsichtbar ist. "Wenn nur fünf von 1000 neuen Viren damit durchkommen, reicht das!" Denn die vermehren sich nun ungehindert. Schludrige Arbeit, aber leider nicht schlecht genug. "Wäre die Fehlerrate der Transkriptase noch etwas höher, wüsste das Virus in den folgenden Generationen gar nicht mehr, was es eigentlich sollte. Es würde seine Funktionen verlieren und damit seine Wirkungskraft", sagt Geyer.

Jede Erkenntnis wirft also neue Fragen auf. Wenn aber schon Viren so komplexe Gebilde sind, um wie viel ausgefeilter muss dann eine hoch entwickelte Zelle funktionieren? Denn in jeder einzelnen Körperzelle laufen parallel Erbgutauslesen, Umschreiben, Proteinproduktion und vieles mehr ab. Je nach "Standort" und Bedarf Dutzende, Hunderte, Tausende Mal am Tag! Und dies koordiniert und in der Regel fehlerfrei. Da grenzt es schon an ein Wunder, dass es höhere Lebewesen als Einzeller überhaupt gibt. Von uns ganz zu schweigen. Matthias Geyer lacht. "Das ist einer der Gründe, warum wir uns mit dem HI-Virus beschäftigen. Es ist klein und übersichtlich, und viele Abläufe haben sich im Laufe der Evolution kaum verändert. Für uns ist das Virus damit ein ideales Modellsystem."


GLOSSAR

CD4-Helferzellen
Untergruppe von weißen Blutkörperchen, die auf ihrer Oberfläche spezielle Moleküle, die CD4-Rezeptoren tragen. Diese dienen den HI-Viren als Eintrittspforte in die Zelle.

Co-Evolution
Prozess der wechselseitigen Anpassung zweier Arten, der sich über lange Zeiträume der Stammesgeschichte erstrecken kann.

Retroviren
(Reverse Transkriptase Onkoviren) Gruppe von Viren, die tierische Zellen befallen. Ihre als RNA vorliegende Erbinformation wird in DNA umgeschrieben und in das Genom der Wirtszelle eingebaut.

Reverse Transkriptase
Enzym, das das Umschreiben von RNA in DNA katalysiert. Bei diesem Prozess kommt es immer wieder zu zufälligen Fehlern und somit zur Entstehung neuer Virusvarianten.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 3/2010, Seite 54-63
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2011