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ETHIK/1324: Trans-Identität bei Kindern und Jugendlichen (Infobrief - Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 26 - April 2020 - 01/20

Forum Bioethik
Trans-Identität bei Kindern und Jugendlichen

von Steffen Hering und Stephanie Siewert


Der Deutsche Ethikrat diskutierte am 19. Februar 2020 im Rahmen der öffentlichen Abendveranstaltung "Forum Bioethik" die ethischen Aspekte eines angemessenen gesellschaftlichen und medizinischen Umgangs mit Trans-Identität bei Kindern und Jugendlichen.


Im Mittelpunkt des Forums standen die Auseinandersetzung über unterschiedliche Behandlungsangebote und die Herausforderungen, die sich für die betroffenen Kinder und Jugendlichen, deren Eltern und das therapeutischen Fachpersonal aus medizinischer, psychologischer, ethischer und rechtlicher Sicht ergeben.

In seiner Begrüßungsrede verwies Peter Dabrock, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, auf die Komplexität der Thematik, die keine einfachen oder universellen Schlüsse zulasse. Zugleich gelte als Prämisse für jedwede Betrachtung, dass Vielfalt keine Bedrohung, sondern die Essenz des Lebens sei. Damit einhergehend sollten eben nicht nur die eigenen, sondern auch die Verletzlichkeiten anderer in den Kämpfen um Anerkennung mit berücksichtigt werden.

Claudia Wiesemann, stellvertretende Vorsitzende des Ethikrates, erläuterte in ihrer anschließenden thematischen Einführung, dass die Anzahl derjenigen Kinder und Jugendlichen, die ihre empfundene geschlechtliche Identität im Widerspruch zu der ihnen zugeschriebenen Geschlechtszugehörigkeit wahrnehmen, nach Angaben der Beratungsstellen in Deutschland in den letzten Jahren deutlich gestiegen sei. Die Ursachen des Phänomens, so Wiesemann, würden unterschiedlich gedeutet. Manche sprächen von einer Erscheinung des Zeitgeistes, andere argumentierten, dass sich viele Betroffene aufgrund der voranschreitenden Entpathologisierung von Transidentität ermutigt sähen, entsprechende Angebote anzunehmen. Einen entscheidenden Beitrag zur Entdiskriminierung von Transidentität leistete das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil von 2011. Dort heißt es, "dass die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Geschlecht nicht allein auf den äußerlichen Geschlechtsmerkmalen im Zeitpunkt seiner Geburt bestimmt werden kann, sondern sie wesentlich auch von seiner psychischen Konstitution und selbstempfundenen Geschlechtlichkeit abhängt". Wenn es jedoch um medizinische Eingriffe und irreversible Maßnahmen gehe, seien die begleitenden und behandelnden Erwachsenen aufgrund der vulnerablen Situation von Kindern und Jugendlichen zu einer besonderen Verantwortung und Rechtfertigung ihres Handelns verpflichtet. Bei allen Entscheidungen seien die Betroffenen mit einzubeziehen. Das aktuelle und zukünftige Wohl des Kindes bzw. des Jugendlichen müsse im Mittelpunkt stehen.

Therapeutische Kontroverse

Die Konfliktlinien der therapeutischen Kontroverse wurden im Anschluss von Alexander Korte und Georg Romer dargelegt. Korte, leitender Oberarzt und stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Klinikum der Universität München, betonte in seinem Vortrag die Notwendigkeit eines präzisen Terminologieverständnisses und -gebrauchs. Während das Vorliegen einer Geschlechtsinkongruenz noch keinen Krankheitswert habe, sei Geschlechtsdysphorie mit klinischem Leidensdruck verbunden und indiziere somit eine Behandlungsbedürftigkeit bzw. -berechtigung. Zwar habe es in den letzten zehn Jahren in einigen Ländern einen exponentiellen Anstieg von Kindern mit Geschlechtsdysphorie gegeben, internationalen Studien könne man Hinweise darauf entnehmen, dass diese bei einem Großteil der Kinder nicht dauerhaft bestehe. Geschlechtsdysphorie im Kindesalter sei ein stärkerer Prädiktor für die spätere Manifestation einer homosexuellen Orientierung als für eine spätere Transidentität. Durch eine dauerhafte Geschlechtsdysphorie verursachte Leiden seien jedoch nur mit der Einleitung geschlechtsangleichender Maßnahmen zu lindern. Von der Möglichkeit der Pubertätssuppression sei laut Korte allerdings abzusehen, da die dafür verwendeten GnRH-Analoga (synthetische Arzneistoffe mit dem Neurohormon Gonadotropin-Releasing-Hormon [GnRH] ähnlicher chemischer Struktur zur künstlichen Absenkung des Testosteron- oder Östrogen-Spiegels im Blut) kognitive, psychiatrische, aber auch physische Nebenwirkungen, wie etwa eine reduzierte Knochendichte, haben könnten. Korte wies auch auf ein damit verbundenes Risiko des Verlusts der Reproduktionsfunktion und der dauerhaften Beeinträchtigung der sexuellen Erlebnisfähigkeit hin. Schließlich werde so auch eine mögliche Konsolidierung von Homosexualität sowie die Überwindung der Geschlechtsdysphorie verhindert. Kinder und ein Teil der Jugendlichen könnten die Bedeutung, die Tragweite und die Folgen einer medizinischen Transitionsbehandlung nicht hinreichend erfassen. Aufgrund der fehlenden emotionalen und kognitiven Reife, der fehlenden Einsichtsfähigkeit und der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen sei die Pubertätsblockade sowohl mit Blick auf das Wohlergehen als auch die Autonomie ethisch nicht vertretbar. Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie sollten daher zunächst eine ergebnisoffene, mindestens einjährige intensive psychotherapeutisch begleitete Alltagserprobung durchlaufen und erst dann - falls erforderlich - nach strenger Indikationsstellung eine konträrgeschlechtliche Behandlung erhalten.

Georg Romer, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, sprach sich zwar auch für eine gründliche Einzelfallprüfung aus, plädierte aber dafür, den Jugendlichen bei entsprechendem Leidensdruck eine entlastende Pubertätssuppression zu ermöglichen. Verlaufsstudien hätten gezeigt, dass geschlechtsdysphorische Jugendliche, die bei fachgerechter Indikation eine Behandlung erhielten, als Erwachsene in ihrer Lebensqualität nicht mehr von der Durchschnittsbevölkerung zu unterscheiden seien. Die Pubertät abzuwarten, sei keine neutrale Option, so Romer. Ebenso wie eine somatomedizinische Behandlung bei Minderjährigen sei auch die Entscheidung, eine gewünschte Behandlung aufzuschieben, begründungspflichtig, denn unbehandelte geschlechtsdysphorische Jugendliche zeigten eine hohe Rate an Depression und Suizidalität. Trans*Jungen fühlten sich etwa oft durch Brustwachstum und die einsetzende Monatsblutung gedemütigt, während Trans*Mädchen vor allem unter dem Stimmbruch, dem beginnenden Bartwuchs und der Ausbildung des vorstehenden Adamsapfels litten. Für die Dauer eines Behandlungsaufschubs müsse das irreversible Fortschreiten der biologischen Reifeentwicklung mit allen Folgerisiken für die psychische Gesundheit ethisch mit verantwortet werden. Daraus folge, dass Nutzen und Risiken in jedem Fall individuell abgewogen werden müssten. Auf dieser Basis könnten Behandlungssuchende, ihre Sorgeberechtigten und die Behandelnden gemeinsam einen Entscheidungsprozess entwickeln. Wenn die Entscheidungsreife der Betroffenen nicht hinreichend gegeben sei, sei ihre Entwicklung unterstützend zu begleiten.

Perspektive einer Betroffenen
Im darauffolgenden Beitrag gab Felizia Weidmann, Studierende der Erziehungswissenschaften, einen Einblick in ihre eigene transidente Biografie. Sie schilderte, wie wichtig es sei, Unterstützung von den Eltern, aber auch vom medizinischen Fachpersonal zu erhalten. Sie wurde 1991 geboren und ihr Geschlecht als männlich in die Geburtsurkunde eingetragen. Sie selbst habe sich aber schon sehr früh als Mädchen wahrgenommen. Bereits im Alter von etwa drei Jahren habe sie sich gefragt, wann endlich die Fee komme und sie zu einem Mädchen mache. Weidmann beschrieb, dass sie - vor allem aufgrund der geschlechtsunspezifischen Kindermode der 90er-Jahre, ihrer schmalen Statur und hohen Stimme - über das zugeschriebene Etikett "schwul" zunächst ihr "Eckchen" gefunden habe. Doch die körperliche Entwicklung in der Pubertät habe sie in Panik versetzt und depressive Verstimmungen, Essstörungen und tägliche Suizidgedanken verursacht. Es sei damals sehr schwer gewesen, an Informationen über Trans-Identität und deren Behandlung zu gelangen. Ihren Eltern sei von professioneller Seite immer wieder geraten worden, das Durchlaufen der Pubertät abzuwarten. Erst eine Fernseh-Dokumentation aus dem Jahre 2005 zum Thema Transsexualität machte Weidmann Mut, weiter nachzuforschen. Dennoch habe es vielen Beratungsstellen sowie ärztlichem und therapeutischem Fachpersonal an Expertise gemangelt. Erst am Universitätsklinikum Frankfurt am Main fand sie schließlich die ersehnte ärztliche Unterstützung. Mit 14 Jahren erhielt sie eine pubertätshemmende Hormontherapie, wechselte die Schule und konnte ein normales Leben als Jugendliche führen. Ab dem 17. Lebensjahr erhielt sie weibliche Hormone und mit 18 Jahren eine geschlechtsangleichende Operation sowie die entsprechende Personenstandsänderung. Das Thema Transidentität spiele in ihrem Alltag keine Rolle mehr, es sei denn, sie entscheide sich bewusst dafür. Trans* zu sein, dies betonte Weidmann ausdrücklich, sei nicht der Hauptberuf von Transpersonen. Sie seien Menschen wie alle anderen, die ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben.

Rechtlich-ethische Reflexion
Friedrike Wapler, Expertin für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, bekräftigte in ihrem anschließenden Vortrag das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen. Rechtlich gesehen sei das Prinzip der ersetzenden Entscheidung, bei der die gesetzlichen Vertreter anstelle ihrer Kinder entscheiden und dabei an das Kindeswohl gebunden sind, das klassische Modell. Dieses Prinzip sei in den letzten zehn bis zwanzig Jahren jedoch in zunehmendem Maße durchbrochen worden. So gebe es etwa bei der Organspende die sogenannte Teilmündigkeit. Für die Einwilligung in medizinische Behandlungen gebe es solche Ausnahmen jedoch noch nicht. Allerdings habe der Bundesgerichtshof schon 1953 bestritten, dass die Einwilligungen in medizinische Behandlungen, die den Umgang mit dem eigenen Körper betreffen, die Geschäftsfähigkeit der betroffenen Person voraussetzt. Wichtig sei vielmehr, dass diese die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs zu ermessen vermag. Darüber hinaus herrsche auch innerhalb der Rechtswissenschaft Unsicherheit über die Bedeutung der Einwilligungsfähigkeit minderjähriger Personen. Solche fachlichen Kontroversen sollten auch Kindern und Jugendlichen offengelegt werden, riet Wapler. Rechtswissenschaftlicher Konsens bestehe hingegen darüber, dass das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht erst mit der Volljährigkeit einer Person beginnt, sondern graduell verläuft. Daraus folgere das Bundesverfassungsgericht weitreichende Rechte des Kindes hinsichtlich der Beteiligung an Entscheidungen, die ihr Leben betreffen. Die Betroffenen seien demnach altersgemäß zu beteiligen und der Kindeswille so weit zu berücksichtigen, wie er mit dem Wohl des Kindes vereinbar ist. Defizite in der Eigenverantwortlichkeit könnten zudem in einem partizipativen Prozess abgebaut werden.

Podiumsdiskussion
Im Verlauf des abschließenden, von Ratsmitglied Judith Simon moderierten Podiums erweiterte sich das Meinungsspektrum um die Perspektiven von Karoline Haufe, Vorstandsvorsitzende des Vereins Trans-Kinder-Netz, der Eltern und Familien mit transgeschlechtlichen Kindern nach dem Prinzip der kollegialen Beratung durch Austausch und Vernetzung Unterstützung anbietet, und Till Randolf Amelung, freier Autor und Geschlechterforscher, der innerhalb der Trans-Community für einen ausgewogenen, differenzierten und selbstkritischen Blick auf die Transition wirbt.

In der Diskussion ging es zunächst noch einmal um die Klärung der uneinheitlich verwendeten Begrifflichkeiten (Transsexualität, Transidentität und Genderdysphorie), die mitunter eine Verständigung über Beratungs- und Behandlungsmöglichkeiten, aber auch den öffentlichen Diskurs erschwerten. Als weitere wichtige Punkte wurden der unter Umständen mit der Transition einhergehende Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit und die Beziehung zwischen Homosexualität und Transidentität thematisiert, sowohl in Fragen der Indikation als auch hinsichtlich der öffentlichen Wahrnehmung. Manchmal fänden Menschen erst durch Phasen der Transidentität zu ihrer Homosexualität. Personen aus dem Publikum berichteten von behandelnden Personen, die jungen Menschen teilweise schon nach einmaligem Gespräch gegengeschlechtliche Behandlungen verschrieben. Bessere Beratungsstandards und eine affirmative Haltung zur Homosexualität könnten hier in Zukunft Abhilfe schaffen. Dennoch waren sich alle Diskutanten auf dem Podium darin einig, dass es eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit anhaltender Geschlechtsdysphorie gebe, denen man entsprechende Behandlungsangebote machen müsse. Zwar sei es für eine 13-jährige Person oft schwer vorauszusehen, was ihr als Erwachsene wichtig sein werde, aber jungen Menschen könne durchaus zugetraut werden, in bestimmten Lebenssituationen sehr reflektiert mit ihren Zukunftsperspektiven umzugehen. Pauschale, vereinfachende Urteile über die Fähigkeiten und Empfindungsweisen Jugendlicher könnten schmerzhaft sein, wie Felizia Weidmann berichtete. Junge Menschen bräuchten Empathie und Wertschätzung, man müsse sie in ihren Beschreibungen der erlebten Situation ernst nehmen. Das Wohl eines Kindes sei nie rein objektiv zu bestimmen. Die Frage nach der richtigen Behandlung - so weit war man sich einig - lasse sich also immer nur mit Blick auf die jeweils individuelle Person beantworten.

Zum Abschluss der Veranstaltung lud die Fotografin Kathrin Stahl, selbst Mutter eines transidenten Kindes, mit dem Fotoprojekt "Max ist Marie oder mein Sohn ist meine Tochter ist mein Kind" das Publikum ein, sich noch einmal auf eine sehr persönliche Weise mit dem Thema zu beschäftigen. Eine Videoprojektion der Fotostrecke zeigte 26 transidente Personen in ihrer alltäglichen Lebensumgebung. In den Portraits wurden individuelle Biografien sichtbar, Geschichten von Verletzungen und Selbstzweifeln, aber auch von viel Mut und Stärke. Das Projekt soll es den Betrachtenden ermöglichen, die Menschen hinter dem Label der "Transidentität" wahrzunehmen.

In seinem Schlusswort dankte Peter Dabrock, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, den Referierenden und dem Publikum für den offenen und kritischen Dialog, der trotz seiner großen Emotionalität und anhaltenden Kontroversen von Respekt und dem Ringen um Verständnis geprägt gewesen sei. Er appellierte an das Publikum, das Denken in Schubladen aufzugeben und keine weiteren Schubladen aufzumachen. Alle Menschen hätten das Recht auf Selbstbestimmung. In diesem Sinne betonte Dabrock auch noch einmal das große Verdienst der Betroffenen, die den Anwesenden an diesem Abend mit ihren Beiträgen Einblicke in ihre individuellen Lebensentwürfe gewährt hätten.


AD-HOC-EMPFEHLUNG

Am 20. Februar 2020 verabschiedete der Deutsche Ethikrat seine Ad-hoc-Empfehlung "Trans-Identität bei Kindern und Jugendlichen: Therapeutische Kontroversen - ethische Orientierungen", die diesem Infobrief auf einem separaten Bogen beiliegt und auch unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-trans-identitaet.pdf
von der Website des Ethikrates abgerufen werden kann.

INFO
Ausführliche Informationen zu dieser Veranstaltung sind von der Website des Ethikrates unter
https://www.ethikrat.org/forum-bioethik/trans-identitaet-bei-kindern-und-jugendlichen-therapeutische-kontroversen-ethische-fragen/ abrufbar.

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Quelle:
Infobrief Nr. 26 - April 2020 - 01/20, Seite 12 - 15
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
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Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2020

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