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ETHIK/1227: Tabubruch durch neues Gesetz zu Medikamententests an Nichteinwilligungsfähigen (ACB)


Arbeitskreis Christen und Bioethik - 14. November 2016

Fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen, z.B. Demenzpatienten
Änderung des AMG durch Ergänzung von § 40b (neu)
Beschluss des Deutschen Bundestages am 11.11.2016

Tabubruch durch neues Gesetz zu Medikamententests an Nichteinwilligungsfähigen ohne Anhörung der Betroffenen
Breiter gesellschaftlicher Diskurs notwendig


Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit und ohne Not hat der Deutsche Bundestag am 11. November einer Gesetzesänderung zugestimmt, die einen grundsätzlichen Wandel unserer Werteordnung einleitet: Es geht um die Zulassung von fremdnütziger Forschung an Nichteinwilligungsfähigen, die bisher in Deutschland verboten war. Noch 2016 hatte der Bundestag einstimmig festgelegt: "Bei Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen und an Personen in Notfallsituationen ist ein direkter individueller Nutzen vorauszusetzen". Das soll sich nun ändern. Die Schutzstandards für die besonders verletzlichen Mitmenschen, die sich nicht äußern können, sollen gesenkt werden, wenn es um hochrangige Forschung geht. Zwar soll eine Vorausverfügung verpflichtend sein, die der künftige Proband in gesunden Zeiten nach Aufklärung durch einen Arzt unterschrieben hat. Aber worüber soll der Arzt aufklären, wenn Ziel und Umfang der Forschung unbekannt sind? Man soll also eine Blankovollmacht geben. Für die Umsetzung sind später Betreuer/innen zuständig, die damit ihre Kompetenzen weit überschreiten; denn nach dem Betreuungsrecht haben sie ausschließlich für das Wohl der von ihnen Betreuten zu sorgen. Es muss also auch das Betreuungsrecht geändert werden - ein Indiz für den Rutschbahneffekt, der mit dem neuen Gesetz eingeleitet ist.

Medizinische und pflegerische Versorgung in unserem Land sind Ausdruck unserer christlich geprägten Grundhaltung, dass wir uns verantwortlich fühlen für die Schwächsten, die ohne fremde Hilfe nicht leben können. Diese humanitäre Ausrichtung des Gesundheitswesens wird gegenwärtig Schritt für Schritt verlassen, indem die Medizin als Wirtschaftsfaktor angesehen und umorganisiert wird - mit hohen Gewinnerwartungen für einzelne Unternehmen. Die jeweiligen Patient/innen und ihre ärztlichen und pflegenden Helfer/innen geraten mehr und mehr aus dem Blick zugunsten des Kapitals, das sich aus dem System erwirtschaften lässt. Mit der jetzigen Gesetzesänderung geht man noch einen Schritt weiter, indem die schwächsten Patientinnen und Patienten als Probanden für medizinische Versuche, die ihnen selbst nichts nützen, in den Blick genommen werden. Es handelt sich keineswegs um harmlose Tests mit "minimaler Belastung und minimalem Risiko", sondern um Forschung am Gehirn und am zentralen Nervenssystem; in der Gesetzesvorlage sind tödliche Folgen nicht ausgeschlossen (§ 40a, Ziffer 6) [1].

Bisher galt der Grundsatz: Je schwächer ein Mensch ist, desto stärker muss die Schutzfunktion des Staates sein. Von nun an soll jeweils abgewogen werden zwischen dem Schutz des Einzelnen und den Interessen der Wirtschaft, die im weltweiten Wettbewerb steht und mit Ländern konkurrieren muss, die keine so hohen Schutzstandards haben wie Deutschland.

Wir meinen, eine solche grundlegende Änderung unseres Rechtsstaates bedarf einer breiten öffentlichen Diskussion und eines Konsenses der gesamten Bevölkerung; sie hätte keinesfalls vom Bundestag ohne Beteiligung aller Betroffenen, zu denen wir alle gehören, beschlossen werden dürfen. Verdächtig waren schon die unangemessene Eile, die Intransparenz, die mangelnde Berichterstattung in den Medien, aber auch die unlauteren Methoden, deren sich die Akteure bedienten. So wurde z.B. zur öffentlichen Anhörung am 19.10. die Alzheimer-Gesellschaft als Interessenvertretung der direkt Betroffenen nicht eingeladen! Die Betroffenen selbst sollten nicht gehört werden, sondern es wurde über sie diskutiert und entschieden. Dieser Vorgang zeigt an, in welcher Richtung wohl künftig das Betreuungsrecht "weiterentwickelt" werden wird. Gefährdet sind alle nichteinwilligungsfähigen Mitmenschen, die keine schützende Familie im Hintergrund haben.

Es wird allerhöchste Zeit, dass ein breiter gesellschaftlicher Diskurs beginnt, in welcher Gesellschaft wir künftig leben wollen.

Wir verweisen auf unsere Stellungnahme vom 13.9.2016 [2], die nach wie vor gilt.


Ilse Maresch Bonn, den 14.11.2016
Sprecherin des Arbeitskreises Christen und Bioethik

[1]
http://www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/A/GE_4._AMG-AEndG.pdf

[2]
www.kritischebioethik.de/acb

*

Quelle:
Arbeitskreis Christen und Bioethik (ACB)
Presseerklärung vom 14. November 2016
c/o Ilse Maresch
Giselherstr. 49, 53179 Bonn
Telefon: 0228 / 33 46 04
E-Mail: info(at)bioethik-nrw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2016

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