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ETHIK/929: Migration und Gesundheit (2) Gesundheit als Ziel der Integrationspolitik (Deutscher Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung

Gesundheit als Ziel der Integrationspolitik

Von Maria Böhmer


Ich bin dem Deutschen Ethikrat für die Themen, die er bisher im Bereich der Biomedizin behandelt hat, außerordentlich verbunden. Aber als ich erfahren habe, dass der Ethikrat seine Jahrestagung 2010 dem Thema Migration und Gesundheit und der kulturellen Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung widmet, habe ich mich als Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration ganz besonders gefreut. Zum einen, weil der Handlungsbedarf in diesem Feld außerordentlich groß ist, und zum anderen, weil wir in dieser Legislaturperiode einen Schwerpunkt auf das Thema Gesundheit und Pflege im Bereich Migration setzen wollen. Ich bin deshalb sehr gespannt, welche Impulse von der heutigen Tagung ausgehen und wie sich die Diskussion weiterentwickelt.

Das Thema Gesundheit und Pflege mit Blick auf Migrantinnen und Migranten befindet sich in vielen Bereichen noch in der Anfangsphase. Hier gilt es die Chance zu nutzen, die Weichen richtig zu stellen. Es geht hierbei um die verschiedensten Fragestellungen und Themen.

Im Mittelpunkt steht die Verantwortung, die wir für alle Menschen in unserem Land haben, wenn es um Gesundheit und um gute medizinische Versorgung geht. Es geht nicht darum, ob jemand Mitglied in der einen oder anderen Krankenkasse ist oder wie die aktuelle Diskussion über das Gesundheitswesen läuft, sondern es geht darum, allen, die in unserem Land leben, die notwendige medizinische Hilfe und pflegerische Versorgung zuteilwerden zu lassen.

Mit Blick auf die immer größer werdende Gruppe der Migrantinnen und Migranten in Deutschland ist es hilfreich, sich zunächst einige Zahlen vor Augen zu führen: Wir haben 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Das sind immerhin 20 Prozent der Bevölkerung. Die Gesamtbevölkerung wird älter und zunehmend weniger. Aber die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund steigt an. Diese Bevölkerungsgruppe ist jünger als der Durchschnitt. In der Altersgruppe unter sechs Jahren macht der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund bereits ein Drittel aus. Diese Rahmendaten sind auch für das Thema Gesundheit und Pflege von Bedeutung.

Natürlich wissen wir, dass die Verteilung von Menschen mit Migrationshintergrund in den Regionen in Deutschland unterschiedlich ist. Es finden sich Unterschiede zwischen den Industrieregionen, den westlichen und östlichen Bundesländern, den ländlich geprägten Regionen und den großen Städten. Das Thema wird aber in zunehmendem Maße für alle wichtig.

Wir dürfen dabei nicht ausschließlich auf die Gruppe der Kinder und Jugendlichen schauen. Berücksichtigt werden muss auch die wachsende Gruppe derjenigen, die als Arbeitsmigrantinnen und -migranten vor 40 Jahren zu uns gekommen sind, die geblieben sind und die hier in Deutschland älter geworden sind. Im Jahr 2005 waren 1,2 Millionen Migrantinnen und Migranten älter als 64 Jahre. Bereits im Jahr 2008 war diese Zahl schon auf 1,4 Millionen angestiegen. Ein Blick auf die nachfolgenden Jahrgänge zeigt, dass diese Altersgruppe noch weiter anwachsen wird.

Aus integrationspolitischer Sicht ist es wichtig, dass wir uns nicht nur um die Integration der jüngeren und älteren Bevölkerungsgruppen kümmern, sondern an alle Altersgruppen denken. Deutschland versteht sich inzwischen als Integrationsland. Dieses Verständnis ist wichtig, wenn wir uns dem Thema Gesundheit und Pflege zuwenden.

Einige jüngere Untersuchungen haben festgestellt, dass Migrantinnen oder Migranten grundsätzlich nicht häufiger krank sind, als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Teilweise sind sogar Migrantinnen und Migranten, die beispielsweise aus den mediterranen Ländern neu zugewandert sind, aufgrund anderer Ernährungsgewohnheiten besser gegen bestimmte Erkrankungen geschützt als manche Menschen ohne Migrationshintergrund. Leider ändern diese Migrantinnen und Migranten im Laufe der Zeit ihre Ernährungsgewohnheiten und passen sie den hier vorherrschenden an, was dann einen negativen Einfluss auf ihre Gesundheitssituation hat.

Vor diesem Hintergrund habe ich großen Wert darauf gelegt, dass wir auch den Bereich Gesundheit und Pflege mit erfassen, als wir im vergangenen Jahr den ersten Integrationsindikatorenbericht vorgelegt haben. Dieser Bericht soll anhand von Indikatoren überprüfen, wie es um die Integration bestellt ist. Der Bericht wird regelmäßig alle zwei Jahre veröffentlicht. Derzeit sind wir dabei, die Indikatoren des ersten Berichts nochmals zu überprüfen.

Auffällig war schon beim ersten Integrationsindikatorenbericht das Ergebnis, dass Kinder mit Migrationshintergrund nicht nur seltener geimpft sind, sondern auch zu einem sehr viel geringeren Teil alle angebotenen Früherkennungsuntersuchungen durchlaufen als Kinder ohne Migrationshintergrund. Das halte ich für ein besorgniserregendes Ergebnis, denn wir brauchen die Teilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen, um entsprechend präventiv tätig werden zu können. Wir müssen hier nach den Gründen für die geringe Akzeptanz fragen und Lösungen entwickeln. Ein Grund sind sicherlich sprachliche Barrieren. Häufig ist es aber auch die Unkenntnis der Angebote und Möglichkeiten, die in unserem Land bestehen. Und es kommen kulturell unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Bedeutung von Früherkennungsuntersuchungen hinzu.

In diesem Zusammenhang freut es mich ganz besonders, wenn neue Projekte aus der Taufe gehoben werden, die sich des Problems annehmen. Ich will zwei Beispiele nennen: Es gibt seit einiger Zeit ein Servicetelefon, mit dem eine Krankenkasse für ihren Kundenkreis Beratung in türkischer Sprache anbietet. Diese Krankenkasse hat erkannt, dass Migrantinnen und Migranten ein außerordentlich attraktiver Kundenstamm sind, der auch für die Zukunft interessant ist. Diese Krankenkasse hat aber auch erkannt, dass mangelnde Information und Aufklärung zu Versäumnissen führen können, die sich in entsprechenden Folgekosten niederschlagen. Das Servicetelefon in türkischer Sprache wendet sich an Eltern, um sie zu motivieren, ihre Kinder an Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen teilnehmen zu lassen. Ich halte das für ein vorbildliches Beispiel.

Mir wurde zudem signalisiert, dass man sich jetzt einem anderen Feld zuwenden will, und zwar dem Beipackzettel. Da mag jetzt manch einer schmunzeln. Ich gestehe, dass auch ich manchmal meine Schwierigkeiten habe, obwohl ich der deutschen Sprache sehr wohl mächtig bin, einen solchen Beipackzettel richtig zu verstehen. Was bedeutet dies aber für jemanden, der die deutsche Sprache vielleicht nur eingeschränkt beherrscht, vielleicht nur unsere Alltagssprache versteht, aber nicht bestimmte Fachbegriffe? An dieser Stelle sind entsprechende Hilfen erforderlich und gerade hier würde ich nicht das Ziel verfolgen, dass die Informationen ausschließlich in deutscher Sprache verfügbar sein sollten, auch wenn wir sonst auf die deutsche Sprache großen Wert legen. Wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie stehen, und ihnen Unterstützung geben.

Ein anderes Beispiel, das bereits in großem Umfang umgesetzt wird, ist das mittlerweile fast bundesweit verbreitete Projekt "MiMi - Mit Migranten für Migranten". Es wurde vom Ethno-Medizinischen Zentrum in Hannover initiiert. In diesem Projekt werden Gesundheitsmediatorinnen und -mediatoren ausgebildet. Sie stammen aus den unterschiedlichen Herkunftsgruppen und wollen anderen Menschen der gleichen Herkunftsgruppe, der gleichen Sprachgruppe im medizinischen und im pflegerischen Bereich zur Seite stehen. Sie informieren, sie klären auf, sie beraten, sie wollen Brückenbauer sein. Was ich dabei besonders beachtenswert finde, ist die Idee der Eigenverantwortung und Solidarität; die Idee, für andere Verantwortung zu übernehmen. Sie warten nicht darauf, dass etwas für sie getan wird, sondern tun selbst etwas. Ich habe einmal eine Gruppe von Gesundheitsmediatorinnen und -mediatoren, die es inzwischen in großer Zahl gibt, kennengelernt. Sie strahlen eine riesige Begeisterung aus und man sieht, dass sie hier in der Tat vorankommen.

Ich möchte noch einmal zurückkommen auf das besondere Problem der älteren Menschen mit Migrationshintergrund. Welchen Herausforderungen haben wir uns bei dieser Gruppe zu stellen? Natürlich ist es so, dass, wenn jemand älter wird, die Risiken für Krankheit und Pflegebedürftigkeit steigen. Dies ist sowohl bei der Bevölkerung ohne als auch mit Migrationshintergrund so.

Dies bringt aber für Migrantinnen und Migranten besondere Herausforderungen mit sich. Nehmen wir nur das Beispiel der demenziellen Erkrankungen, die häufig den Verlust der Zweitsprache, also der deutschen Sprache mit sich bringen.

Mir ist dieses Phänomen bereits vor Jahren begegnet, als ich noch nicht mit dem Thema Integration befasst war und das Thema noch lange nicht so auf der politischen Tagesordnung stand: Ich war in Schweden zu Besuch. Dort wurde mir von Deutschen berichtet, die lange in Schweden lebten, dann pflegebedürftig wurden und sich nicht mehr in Schwedisch verständigen konnten, sondern nur noch in Deutsch.

Daran habe ich mich erinnert, als wir uns der Frage zuwandten: Wie geht es im Bereich der Pflegeeinrichtungen weiter? Als ich neu im Amt war, ging es bei der ersten Tagung, an der ich teilgenommen habe, um die interkulturelle Öffnung im Bereich der Altenhilfe. Dieses Thema ist eines der zentralen Themen, mit denen wir uns befassen müssen.

Wir sehen uns vor die Situation gestellt, dass die Anzahl der Menschen mit Migrationshintergrund in den Pflegeeinrichtungen oder in der ambulanten Pflege zunimmt. Unsere Pflegeeinrichtungen müssen darauf eingestellt sein, auch diese Menschen angemessen zu versorgen und ein geeignetes Angebot bereitzuhalten.

Als ich mein Amt übernommen habe, habe ich im Bereich Migration und Gesundheit eine Situation angetroffen, für die ich sehr dankbar bin: Meine Vorgängerinnen hatten sich bereits dem Thema zugewandt. Im bundesweiten Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit finden sich viele Expertinnen und Experten zusammen. Ich habe diesen Arbeitskreis gerne weiter unterstützt und koordiniert.

Ich möchte einige Schwerpunkte nennen, die sich der Arbeitskreis vorgenommen hat und auch weiter vornehmen wird.

Die Gesundheitsberichterstattung: Die Datenlage in der Gesundheits- und Pflegeberichterstattung ist nach wie vor nicht befriedigend. Wir brauchen aber entsprechende Daten, um zielgenauer vorgehen zu können, um den Handlungsbedarf wirklich zu identifizieren und um Lösungen zu entwickeln. Ein Expertenworkshop, der vom Arbeitskreis durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass es nach wie vor große Lücken gibt, auch wenn so manche Forschung weiter vorangetrieben wird. Deshalb auch meine herzliche Bitte an Sie, hier noch einmal deutlich zu machen, wo Forschung notwendig ist. Gerade der Bundesgesundheitsminister, aber auch die Bundesforschungsministerin sind in diesem Feld aufgeschlossen, denn wir alle wissen: Hier tut es not voranzukommen.

Der Bereich Kinder- und Jugendgesundheit: Die Benachteiligung in diesem Feld rührt nicht so sehr daher, dass jemand aus einer Zuwanderungsfamilie stammt, sondern vielmehr daher, dass viele der Kinder und Jugendlichen aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status stammen. In diesen Familien treffen wir zum Beispiel häufig auf Übergewichtigkeit, die aus Ernährungsfehlverhalten und mangelnder Bewegung resultiert. Es ist bekannt, dass hier die Ursachen für spätere chronische Krankheiten liegen, dass die Risiken für Herzinfarkt, für Schlaganfall, für Diabetes steigen. Wir werden später große Probleme zu bewältigen haben, wenn wir nicht schon bei den Kindern ansetzen und gezielt Angebote entwickeln. Deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode zu diesem Thema gemeinsam mit der damaligen Bundesgesundheitsministerin eine Tagung durchgeführt. Wir waren uns einig, dass die Prävention verstärkt werden muss und vor allem die Mütter erreicht werden müssen. Wir müssen sie aufklären, wir müssen sie mitnehmen. Ich habe selbst Projekte kennengelernt, die beispielsweise von der türkisch-deutschen Gesundheitsstiftung durchgeführt werden, z. B. in Schulen, in denen die Mütter mit großer Aufmerksamkeit - denn sie wollen für ihre Kinder das Beste - den Informationen folgten. Aber wenn ich mit den Müttern ins Gespräch kommen wollte, musste ich feststellen, dass wir hier sehr unterschiedliche Gruppen vorfinden: die einen, die perfekt Deutsch sprechen, manche sogar - ich nenne das, weil es meine Heimatregion ist - perfekt Pfälzisch, und andere, die einen zwar freundlich anschauen, aber mit unserer Sprache gar nicht vertraut sind.

Das führt mich zum dritten Punkt, der für diese Tagung von zentraler Bedeutung ist: die interkulturelle Öffnung des Gesundheitswesens. Wir müssen alles daran setzen, dass Migrantinnen und Migranten genauso wie alle anderen den Zugang zu den Angeboten des Gesundheitswesens haben, dass die Hürden und Hemmnisse bei der gesundheitlichen Versorgung und Vorsorge überwunden werden. Und wir müssen dafür sorgen, dass die sprachlichen Hürden genommen werden. Dies alles gehört zur interkulturellen Öffnung des Gesundheitswesens. Es geht dabei auch um die ärztliche Aufklärungspflicht, die nicht allein damit erfüllt wird, dass man bei der sprachlichen Verständigung sogenannte Laienübersetzer, also Familienmitglieder oder Pflegekräfte oder den Kollegen, der in der entsprechenden Sprache zu Hause ist, hinzuzieht. Wir brauchen eine entsprechende sprachliche Verständigung, wir brauchen kompetente Sprachmittler. Und ich meine, dass die Sprachmittlung bei den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung verankert sein muss, sodass hier die medizinische Versorgung nicht an den mangelnden Verständigungsmöglichkeiten scheitert.

Die interkulturelle Öffnung der Einrichtungen des Gesundheitswesens muss aber weiter gehen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Migrationshintergrund können eine Brückenbauerfunktion wahrnehmen. Vorsicht ist jedoch angebracht, denn nicht alle verfügen automatisch über interkulturelle Kompetenz in der notwendigen Tiefe und Breite. Es müssen Angebote bereitgestellt werden, die diese Kenntnisse sowohl den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit als auch ohne Migrationshintergrund vermitteln. Ich spreche mich deshalb sehr dafür aus, dass wir in den Ausbildungsordnungen der medizinischen und der pflegerischen Berufe interkulturelle Kenntnisse als Standards verankern.

Der Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit hat Empfehlungen für den Umgang mit Patientinnen und Patienten im Krankenhaus entwickelt, die zur interkulturellen Öffnung beitragen sollen. Dazu gehören unter anderem Punkte wie der Aufbau eines Dolmetschernetzes, die Übersetzung relevanter Formulare und Merkblätter, die gezielte Einstellung von Personal mit Migrationshintergrund und die Verankerung interkultureller Themen in der Ausbildung, Fortbildung und in den Weiterbildungskonzepten.

Die Bundesregierung hat sich in dieser Legislaturperiode drei Schwerpunkte gesetzt, die für den Bereich Migration und Gesundheit noch einmal von besonderem Interesse sind:

1. Der Nationale Integrationsplan als Gesamtkonzept für Integration hat zwar bei seiner Erarbeitung in der letzten Legislaturperiode das Thema Gesundheit und Pflege nicht in der Tiefe behandelt, wie es eigentlich angezeigt gewesen wäre, in dieser Legislaturperiode jedoch werden wir bei der Weiterentwicklung des Nationalen Integrationsplans einen Schwerpunkt bei Gesundheit und Pflege setzen.

2. Wir wollen ein Anerkennungsgesetz für im Ausland erworbene Abschlüsse noch in diesem Jahr auf den Weg bringen. Hierzu gehören auch Abschlüsse im medizinischen und im Pflegebereich. Jeder kennt genügend Beispiele von Ärztinnen und Ärzten aus dem Ausland, die bei uns nicht die Chance erhalten, ihren Beruf auszuüben, da sie ihren Abschluss im Ausland erworben haben. Manche arbeiten dann hier als Pflegehilfskräfte oder Haushaltskräfte. Andere haben das Glück, in einem Krankenhaus tätig sein zu können, um sich zu qualifizieren. Aber Ärztinnen und Ärzte können in Deutschland nicht die Approbation erhalten, wenn sie nicht über einen deutschen Pass verfügen oder wenn sie nicht EU-Bürger sind. Dies gilt sogar dann, wenn sie vom ersten Semester an in Deutschland studiert und hier das Staatsexamen abgelegt haben. Ich halte dies für einen unhaltbaren Zustand: nicht nur, weil wir über Ärztemangel klagen, sondern auch, weil es um die Achtung und die Anerkennung von Potenzialen, von Qualifikationen und Lebensleistungen geht. Wir verschwenden damit in hohem Maße Ressourcen. Deshalb müssen wir alles daran setzen, dass die Approbationsmöglichkeiten für Drittstaatsangehörige in Deutschland bald Realität sind.

3. Der nächste Punkt, der uns umtreibt und sehr bewegt, ist die medizinische Versorgung von Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus. Bei dem Thema Menschen ohne Papiere und deren gesundheitlicher Versorgung wird die ethische Dimension in besonderem Ausmaß deutlich. Die Verunsicherung ist groß: zum einen bei den Betroffenen selbst, aber auch bei den Ärztinnen und Ärzten und dem Pflege- und Verwaltungspersonal. Hier steht die Sorge im Vordergrund, dass die Betroffenen angesichts einer Meldepflicht entdeckt werden und dann damit rechnen müssen, das Land verlassen zu müssen. Die Folgen für die einzelnen Betroffenen sind bekannt: Ein oft schlechter gesundheitlicher Zustand, Vorsorgeuntersuchungen werden nicht in Anspruch genommen, zu späte Behandlung von akuten Krankheiten und daraus resultierende schwerwiegende Folgeerkrankungen, unnötige Ansteckungsrisiken für Dritte.

Wir haben uns diesem Dilemma zugewandt und versucht, einen ethisch verantwortbaren Weg zu finden. In den Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz wurde klargestellt, dass für Ärztinnen und Ärzte und deren Helfer bis hin zur Krankenhausverwaltung keine Übermittlungspflicht der Daten von Patientinnen und Patienten an die Ausländerbehörde besteht. Und trotzdem haben die Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus nach wie vor Angst vor Entdeckung.

Auch wenn wir jetzt die sogenannte verlängerte Schweigepflicht haben, die gerade in Fällen akuter Erkrankung hilft, müssen wir uns diesem Thema weiter zuwenden, denn wir stoßen immer noch an Grenzen bei der ärztlichen Versorgung, wie zum Beispiel bei Vorsorgeuntersuchungen oder bei der Frage der Übernahme von Kosten. Auch hier müssen wir aufklären, denn viele wissen nicht, dass große Teile der hier lebenden Menschen ohne Papiere sehr wohl einen Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben; denn viele sind hier beschäftigt und erhalten ein Arbeitsentgelt. Und auch diejenigen, die nicht erwerbstätig sind, haben einen Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die sie nur aus Angst vor Entdeckung nicht in Anspruch nehmen.

Ich weiß, dass die angesprochenen Punkte nur einen Teil des Bereichs abdecken. Die Fülle der Probleme, die im Themenfeld Integration und Gesundheit vor uns liegen, ist riesig. Ich sage Ihnen ausdrücklich Dank dafür, dass Sie sich des Themas annehmen, und ich hoffe, dass von dieser Tagung viele Anregungen und Impulse ausgehen, damit wir dieses Handlungsfeld gemeinsam angehen können.


Maria Böhmer, geb. 1950, Staatsministerin Prof. Dr. phil., seit 2001 Professorin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, seit 2005 Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration.


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INHALT

Axel W. Bauer - Vorwort
Maria Böhmer - Gesundheit als Ziel der Integrationspolitik
Oliver Razum - Gesundheit von Migranten: Hintergründe
Ilhan Ilkilic - Medizinethische Aspekte des interkulturellen Arzt-Patienten-Verhältnisses
Theda Borde - Frauengesundheit und Migration: Bedürfnisse - Versorgungsrealität - Perspektiven
Alain Di Gallo - Risiken und Chancen der Migration aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht
Andreas Spickhoff - Spezielle Patientenrechte für Migranten? Juristische und rechtsethische Überlegungen
Bettina Schlemmer - "Migranten ohne Pass" beim Arzt: Realität und politische Konsequenzen
Ulrike Kostka - Die medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten zwischen Solidarität und Eigenverantwortung


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Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung
für die medizinische Versorgung
© 2010 - Seite 13 - 19
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2011