Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → FAKTEN


BILDUNG/1099: Vergabe von Medizinstudienplätzen - Interview zur neuen Gewichtung der Kriterien (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2018

Medizinstudium
"Der Wahnsinn hat ein Ende"

Das Interview mit Prof. Jürgen Westermann führte Sophia Mach


Die Universität zu Lübeck begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das die Überbetonung der Abiturnote bei der Vergabe von Medizinstudienplätzen beanstandet.


1,1 lautet die Abiturnote mit der Anwärter auf ein Medizinstudium in Deutschland sofort einen der begehrten Plätze bekommen. Verfehlen sie den Schnitt nur um eine Zehntelnote, kann sich die Zulassung um viele Jahre verzögern. Prof. Jürgen Westermann, Direktor des Instituts für Anatomie und Studienleiter der Sektion Medizin an der Universität zu Lübeck, erläutert die Bedeutung des aktuellen Urteils aus Karlsruhe.

SHÄ: Wie bewerten Sie das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

Prof. Jürgen Westermann: Wir in Lübeck begrüßen das Urteil ausdrücklich, weil endlich der Wahnsinn aufhören kann, dass die Abiturnote unverhältnismäßig viel Gewicht bei der Studienplatzvergabe erhält. Und das, obwohl Abiturnoten in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich vergeben werden. Ein Abiturient aus Thüringen hat deutlich bessere Chancen auf einen Studienplatz als ein Anwärter aus Niedersachsen. Es ist längst überfällig, dass ein zweites, nicht-schulisches Kriterium zusätzlich berücksichtigt werden muss. Die Abiturnote soll durchaus von großer Bedeutung bleiben, denn es ist erwiesen, dass sie gut mit dem Studienerfolg korreliert -jedenfalls in den ersten zwei Jahren bis zum Physikum. Die Eignung des Menschen für den Arztberuf insgesamt kann hiermit jedoch nicht ausreichend bewertet werden.

Das Bundesverfassungsgericht sagt nun, dass das Urteil bis zum 31.12.2019 umgesetzt sein muss, also in knapp zwei Jahren. Das hat neben dem Vorteil der Schnelligkeit auch einen Nachteil: Die Zeit, um bundesweit ein zweites Kriterium zu finden, auszuarbeiten und umzusetzen, ist sehr knapp bemessen. Nun ist es wichtig, dass man sich nicht vorschnell auf einen zweiten Parameter einigt. Möglichkeiten wären z. B. die Anrechnung einer Berufsausbildung, Preisträgerschaft bei der Stiftung Jugend forscht, Mini-Interviews und OSCE-Wertungen (Objective Structured Clinical Examination).

Was ist Ihr Favorit unter den weiteren Auswahlkriterien?

Westermann: Ganz klar das Auswahlgespräch. Während die Abiturnote die Leistungsfähigkeit prüft, kann ein Gespräch soziale Kompetenzen zutage fördern. Dazu gehören wichtige Eigenschaften des zukünftigen Arztes wie Empathie, Stressresistenz und soziale Interaktionsfähigkeit. Diese strukturierten und standardisierten Gesprächen wenden wir in Lübeck übrigens bereits seit 2012 an für die Studienplätze, die im Auswahlverfahren der Hochschule vergeben werden können. Damit sind wir neben den Universitäten in Hannover und Duisburg/Essen eine von insgesamt nur drei Fakultäten in Deutschland, die auf handfeste Erfahrungen bei diesem Auswahlkriterium zurückgreifen können.

Das Auswahlgespräch wird bei uns geleitet von jeweils zwei Dozenten und einem Studenten, die den Bewerber eine halbe Stunde lang interviewen mittels eines Fragenkatalogs. Es gibt fünf verschiedene Kategorien, nach denen im Anschluss die Antworten bewertet werden. Seit 2012 haben wir insgesamt fast 1.500 Gespräche durchgeführt - jedes Jahr 240 - und die Hälfte der Interviewten zum Studium zugelassen.

Nur zwei der abgelehnten Bewerber haben bislang geklagt; bei der Vergabe rein nach Abiturnoten ist diese Zahl in der Regel viel höher. Die Bewerber haben durch den direkten Kontakt und das sorgfältige Verfahren einfach das Gefühl, fair bewertet werden zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch.


Info
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 19.12.2017 besagt, dass der Numerus clausus im Studienfach Medizin nur bedingt mit dem Grundrecht auf freie Ausbildungswahl vereinbar ist.

In Deutschland sichert aktuell schon ein Abiturdurchschnitt von 1,2 keinen Studienplatz mehr.

*


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201802/h18024a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

*

Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Februar 2018, Seite 15
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-272, -273, -274,
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.de
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang