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NEUROLOGIE/605: Multiple Sklerose - Neue Kontrastmittel erlauben präzisere Diagnose (Ruperto Carola)


Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg 3/2009

Das bessere Bild
Neue Kontrastmittel erlauben eine präzisere Diagnose der Multiplen Sklerose

Von Martin Bendszus


Seit rund 15 Jahren gibt es Medikamente, mit denen das Fortschreiten der Multiplen Sklerose hinausgezögert werden kann. Dies gelingt umso besser, je früher die schwere entzündliche Erkrankung des Nervensystems erkannt wird. Ein wichtiges Instrument zur Diagnose ist die Magnetresonanztomographie, ein moderndes bildgebendes Verfahren, das die folgenschweren Veränderungen im zentralen Nervensystem sichtbar macht. Neue Kontrastmittel versprechen, die für die Multiple Sklerose charakteristischen Veränderungen noch früher und eindeutiger zu charakterisieren. Das bessere Bild ist die Voraussetzung für eine rasch einsetzende Behandlung.


Die Multiple Sklerose, kurz MS, ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, also des Gehirns und Rückenmarks. Ihr liegt eine Entzündung zugrunde, die zunächst vor allem die Umhüllungen der Nervenzellen (Myelinscheiden), später auch die Nervenzellen selbst zerstört.[1] Was die Entzündung und ihre schwerwiegenden Folgen verursacht, ist noch unklar. Vieles spricht dafür, dass die MS auf eine Autoimmunreaktion zurückzuführen ist: Immunzellen, die den Körper vor Gefahren wie Viren oder Bakterien schützen sollen, attackieren das gesunde Nervengewebe. Die Erkrankung beginnt oft bereits in jungen Jahren. Zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr ist die MS die häufigste Ursache für Behinderungen. Zunehmend wird ein erstmaliges Auftreten der Erkrankung jedoch auch im höheren Lebensalter festgestellt. Allein in Deutschland sind rund 80.000 Menschen von der MS betroffen.

Wenn sich Nervenstrukturen entzünden, kann es zu Beschwerden wie Seh- und Empfindungsstörungen, Schmerzen oder Lähmungen kommen. Ein solcher Krankheitsausbruch heißt "Schub". Bei 80 Prozent der Betroffenen beginnt die MS mit einem solchen Schub. Erfolgt keine Therapie, kommt es bei ungefähr der Hälfte der Patienten nach zehn Jahren zu einer "sekundären Progredienz", das heißt, die Symptome nehmen schleichend, auch ohne Schübe, weiter zu. Bei nur wenigen Patienten macht sich die MS nicht mit Schüben bemerkbar; bei ihnen zeigt sich die Erkrankung schon anfangs mit schleichend und allmählich fortschreitenden neurologischen Symptomen. Diese Verlaufsform der MS wird als "primär chronisch progredient" bezeichnet. Zwischen dem schubförmigen und primär progredienten Verlauf gibt es Übergangsformen.

Für die Diagnose einer Multiplen Sklerose wurde das Konzept der "Dissemination von Symptomen in Ort und Zeit" entwickelt. Dies bedeutet: Eine MS kann erst dann sicher diagnostiziert werden, wenn ein Patient mindestens zwei Schübe zu unterschiedlichen Zeitpunkten erleidet (zeitliche Dissemination), die durch Veränderungen, sogenannte Läsionen, an unterschiedlichen Stellen des Gehirns entstanden sind (örtliche Dissemination). Um eine MS also eindeutig diagnostizieren zu können, muss zunächst ein zweiter Schub abgewartet werden. Der aber kann Monate oder gar Jahre auf sich warten lassen.

Seit rund 15 Jahren gibt es Medikamente, die das Fortschreiten der MS effektiv verhindern können, insbesondere dann, wenn sie bereits in frühen Stadien der Erkrankung verabreicht werden. Die bessere Therapie der MS hat Kriterien erforderlich gemacht, die es erlauben, eine Multiple Sklerose bereits nach einem einmaligen Schub eindeutig zu diagnostizieren. Nur so wird es möglich, eine frühzeitige Behandlung einzuleiten.

Eine wichtige Rolle spielt dabei ein modernes bildgebendes Verfahren, die Magnetresonanztomographie (MRT): Sie kann entzündliche Läsionen im zentralen Nervensystem (ZNS) sichtbar machen und erlaubt es in einer passenden Befund-Konstellation, die Diagnose "Multiple Sklerose" bereits nach einem erstmaligen Schub zu stellen und mit der Therapie zu beginnen.

Obwohl die Bildgebung somit einen wichtigen Beitrag in der Diagnose einer MS leistet, bestehen Limitationen: Die Veränderungen im MRT-Bild sind unspezifisch in Bezug auf die zugrunde liegenden Gewebeveränderungen. Die Läsionen sind nicht spezifisch für die MS, sondern können einer Vielzahl von pathologischen Veränderungen wie Ödem, Verlust der Nervenscheiden (Entmarkung), Verlust von Nervenzellen oder narbigen Veränderungen (Gliose) entsprechen. Auch eine Aufnahme des Kontrastmittels Gd-DTPA in Läsionen, welche in der Regel gleichgesetzt wird mit akuter entzündlicher Aktivität, ist lediglich bedingt durch eine Störung der Blut-Hirnschranke für ein bestimmtes Molekulargewicht (circa 700 Dalton), also auch nicht spezifisch für die MS. Somit besteht für die Magnetresonanztomographie die Herausforderung, entzündungsspezifische Informationen zu liefern, im günstigsten Fall zu den frühesten Erkrankungsstadien, in denen eine Behandlung am effektivsten ist.

Um diesem Ziel näher zu kommen, wurden experimentell spezielle Eisenoxid-Partikel (USPIO, ultrasmall particles of iron oxide) ins Blut injiziert. Die Fresszellen im Blut (Makrophagen) nehmen diese Partikel im Laufe von 24 Stunden auf und können hierdurch mithilfe der Magnetresonanztomographie sichtbar gemacht werden, indem sie zu einer Signalauslöschung im MRT-Bild führen, also schwarz erscheinen.[2]

Mit dieser Methode konnte gezeigt werden, wie die Makrophagen nach einer Verletzung des Ischiasnervs aus dem Blut zur "Unfallstelle" wandern. Angelockt werden sie von einem Notruf: Der Nerv kurbelt innerhalb von nur drei Stunden nach seiner Beschädigung die Produktion des Botenstoffs MCP-1 an, der die Fresszellen geradezu magnetisch anzieht. Sind die Makrophagen am Einsatzort angekommen, endet ihr Bewegungsdrang, und sie nehmen einen festen Arbeitsplatz ein. Außerdem konnte gezeigt werden, dass die Mobilität der Hilfstruppe auf bis zu acht Tage nach der Verletzung begrenzt bleibt.

Die Einwanderung von Makrophagen ins Nervensystem ist bei vielen neurologischen Krankheiten ein grundlegender Prozess, der zu Ausfallerscheinungen führt, so auch bei der Multiplen Sklerose. Hierbei handelt es sich um einen der frühesten Mechanismen, der zu dem späteren Gewebeschaden führt. Die Bilder liefern dabei völlig neue Informationen, da sie Aspekte abbilden können, die durch die herkömmlichen MRT-Untersuchungen bisher nicht erfasst werden konnten, nämlich die akute Phase der Einwanderung von Entzündungszellen in das Gewebe.

Es ist zu erwarten, dass die genauere Erfassung aktiver Phasen von Entzündungsprozessen im Nervensystem auch zu besseren Behandlungsmöglichkeiten führt, nicht nur für die Multiple Sklerose, sondern für eine Vielzahl von Erkrankungen, bei denen die Einwanderung von Makrophagen einen frühen und entscheidenden Schritt für die spätere Gewebeschädigung darstellt, beispielsweise die Arthritis und die Transplantatabstoßung.

Das Verfahren bietet aber noch einen weiteren Vorteil, denn mit ihm lassen sich die Makrophagen von der sogenannten Mikroglia unterscheiden. Bei letzterer handelt es sich um Fresszellen, die nur im zentralen Nervensystem vorkommen. Die beiden Zelltypen ähneln sich nach Aktivierung bei Krankheitsprozessen so stark, dass sie mit herkömmlichen Gewebeanalysen nicht unterscheidbar sind. Doch die MR-Methode schafft auch das, was für die Forschung einen weiteren Pluspunkt bedeuten dürfte.

Neben den zelltypspezifischen Informationen, die das MRT liefern kann, besteht eine weitere Herausforderung darin, mithilfe des bildgebenden Verfahrens möglichst alle entzündlichen Läsionen sichtbar zu machen. Denn aus vergleichenden Untersuchungen mit Geweben ist bekannt, dass stets deutlich mehr entzündliche Herde im Nervengewebe vorhanden sind als das MRT-Bild erkennen lässt.

Auch zu dieser besseren Sensitivität beim Erkennen der Läsionen können Kontrastmittel beitragen: Gemeinsam mit einem Pharmaunternehmen wurde ein neues Kontrastmittel (Gadofluorine) entwickelt und experimentell erprobt, das aus einer fluorinierten Gadoliniumverbindung zusammengesetzt ist und amphiphile Eigenschaften hat. Das heißt, es ist zugleich wasser­löslich und fettlöslich und bildet aufgrund dessen in wässrigen Lösungen sogenannte Nanomizellen. Im Blut bindet es bevorzugt an das Protein Albumin. Herkömmliche MRT-Kontrastmittel enthalten eine im Komplex gebundene Gadoliniumverbindung (Gd-DTPA), die im Unterschied zu Gadofluorine keine hohe Bindung an Plasmaproteine wie Albumin zeigt.

Das neue Kontrastmittel wurde im Tiermodell der Multiplen Sklerose erprobt. Während akuter Stadien der Erkrankung erfolgten MRT-Untersuchungen und zwar sowohl nach der Injektion von Gd-DTPA als auch nach der Verabreichung von Gadofluorine. Es erwies sich, dass das neue Kontrastmittel deutlich mehr entzündliche Läsionen sichtbar machen kann als Gd-DTPA. Vergleichende Gewebestudien bestätigten zudem, dass sich das neue Kontrastmittel in allen Fällen in den entzündlichen Läsionen anreicherte, also eine hundertprozentige Spezifität erreicht werden konnte.

Von dem herkömmlichen Kontrastmittel Gd-DTPA ist bekannt, dass es sich nur für kurze Zeit im entzündlichen Gewebe anreichert. Um herauszufinden, wie lange sich das neue Kontrastmittel Gadofluorine im entzündlichen Gewebe aufhält, erfolgten Serienuntersuchungen nach einmaliger Gabe des Kontrastmittels. Überraschenderweise fand sich im MRT-Bild noch Tage nach der einmaligen Verabreichung des Kontrastmittels eine Anreicherung in den entzündlichen Läsionen.

Die Antwort auf diese unerwartete Beobachtung gaben Bindungsstudien: Im Serum bindet Gadofluorine zu einem sehr hohen Prozentsatz an das Plasmaprotein Albumin. Mitsamt seinem Bindungspartner gelangt Gadofluorine quasi als Trojanisches Pferd in den extrazellulären Raum rund um die entzündlichen Läsionen. Hier kommt es zu einem Wechsel: Gadofluorine verlässt seinen Bindungspartner Albumin und bindet stattdessen an Bestandteile der zelläußeren Matrix, die den Entzündungsherd umgibt. Die neuen Bindungspartner sind beispielsweise Tenascin, Proteoglykan, Kollagen I und IV oder Decorin. Zu all diesen Bestandteilen der krankhaft veränderten extrazellulären Matrix hat Gadofluorine eine sehr hohe Bindungsaffinität. Dies erklärt auch, warum es nicht zu einer passiven Rückdiffusion von Gadofluorine in das Gefäßsystem kommt. Erste Untersuchungen mit Tieren konnten zeigen, dass die Bindung von Gadofluorine an Bestandteile der entzündlichen Veränderungen keine nachteiligen Auswirkungen hat, insbesondere die Regenerationsfähigkeit des Gewebes wird nicht gestört.

Bislang wurde das neue Kontrastmittel nur im Tiermodell der Multiplen Sklerose angewendet. Derzeit wird intensiv geprüft, ob es auch in der Klinik zur besseren Diagnose der Multiplen Sklerose dienen und Patienten die Chance auf eine frühzeitige Behandlung eröffnen kann.


[Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation (Seitenzahlen der Printausgabe)(*)]:

[1] Seite 29:
Die elektronenmikroskopische Aufnahme zeigt Nervenfasern (rosa) mit ihren Schutzhüllen, den "Myelinscheiden" (grau). Der Multiplen Sklerose liegt eine Entzündung zugrunde, der zunächst die Myelinscheiden, später auch die Nervenzellen selbst zum Opfer fallen.

[2] Seite 30-31:
OBEN: Die mithilfe der Magnetresonanztomographie (MRT) erstellte Aufnahme in der ersten Bildreihe links außen lässt keine für die Multiple Sklerose (MS) charakteristischen Veränderungen (Läsionen) im Gehirn erkennen, auch nicht nach der Gabe von Gadolinium, des herkömmlichen Kontrastmittels (mittleres Bild). Erst nach der experimentellen Verabreichung spezieller Eisenoxid-Partikel werden entzündliche Gewebeverän?derungen sichtbar. Sie sind im Bild rechts außen mit einem Pfeil gekennzeichnet. Die Eisenpartikel zeigen das Einwandern von Immunzellen an - ein erster Schritt auf dem Krankheitsweg zur Multiplen Sklerose.
MITTE: Die Bilder zeigen das Gehirn während eines in Untersuchungen mit Tieren ausgelösten akuten MS-Krankheitsschubs: Während die entzündlichen Veränderungen auf den ersten beiden Bildern kaum oder nur schwach zu erkennen sind (gepunktete schwarze Pfeile), sind die Gewebeschädigungen im dritten Bild deutlich zu sehen (weiße Pfeile). Für dieses MRT-Bild wurde Versuchstieren zuvor ein neu entwickeltes Kontrastmittel (Gadofluorine) verabreicht. Es kann im Vergleich zu herkömmlichen Kontrastmitteln deutlich mehr entzündliche Läsionen sichtbar machen.
UNTEN: Auch die MRT-Aufnahmen des Rückenmarks zeigen nach dem Verabreichen des neuen Kontrastmittels Gadofluorine deutlich Gewebeveränderungen in den Hintersträngen: Sie sind im Bild rechts außen mit weißen Pfeilen gekennzeichnet. Herkömmliche Methoden zeigen Veränderungen nur schwach (schwarzer Pfeil) oder gar nicht.



(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:

Originalartikel mit Abbildungen siehe unter:

http://www.uni-heidelberg.de/presse/ruca/2009-3/05das.html


Prof. Dr. Martin Bendszus ist seit dem Jahr 2007 Ärztlicher Direktor der Abteilung Neuroradiologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Bis zu seinem Wechsel nach Heidelberg hatte Martin Bendszus eine Stiftungsprofessur für "Neuro-Imaging" an der Universität Würzburg inne. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind die molekulare und zelluläre MR-Bildgebung sowie die interventionelle Neuroradiologie. Experimentell und klinisch hat er sich intensiv mit der MR-Neurographie beschäftigt, einem innovativen Verfahren zur Untersuchung des peripheren Nervensystems. Für seine Arbeiten ist Martin Bendszus mit dem Röntgen-Preis, dem Holthusen-Ring und dem Kurt-Decker-Preis, den höchsten wissenschaftlichen Auszeichnungen der radiologischen und neuroradiologischen Fachgesellschaften, ausgezeichnet worden.

Kontakt: martin.bendszus@med.uni-heidelberg.de


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Quelle:
Ruperto Carola 3/2009, Seite 28-32
Forschungsmagazin der Universität Heidelberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2010