Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → MEINUNGEN

STANDPUNKT/012: Abgewertet - über den Verfall des Charlie-Slogans (Ingolf Bossenz)


Abgewertet

Ingolf Bossenz über den Verfall des Charlie-Slogans

von Ingolf Bossenz, 17. Januar 2015



Ich denke, also bin ich Charlie. Würde René Descartes noch leben, hätte er wohl keine Probleme mit dieser Aktualisierung seines berühmten Diktums »ego cogito, ergo sum«. Schließlich hatte der französische Philosoph reichlich Erfahrungen mit dem Kampf der Kirche gegen die von ihm vertretenen Meinungen. Selten ist wohl die Metaphorisierung eines komplexen politisch-gesellschaftlichen Geschehens so schnell, so treffend und so eingängig gelungen wie mit dem Slogan »Je suis Charlie«. Inzwischen wurden diese drei Wörter millionenfach in Statements, Kundgebungen und Medien perpetuiert; sie wurden skandiert, getwittert, auf Wände und Plakate geschrieben. Und sie zieren T-Shirts, Tassen, Tragetaschen und anderen Auswurf der Merchandising-Maschinerie, die im Kapitalismus unvermeidlich und unverzüglich jeden Vorgang, jedes Ereignis unerbittlich auf seine Vermarktungspotenz prüft. Ethische Überlegungen, Bedenken gar, spielen da bekanntlich keine Rolle. Ob »Charlie Hebdo« oder Charles Manson (dessen Devotionalien sich immer noch verkaufen): Es geht in erster Linie um Schnelligkeit und Verfügbarkeit.

Doch die Abnutzung der Charlie-Losung durch inflationären Gebrauch zeichnet sich bereits ab. Wie so oft wird ein guter Einfall Opfer nachfolgender politischer Einfallslosigkeit. Nachdem sich selbst Staatsterroristen dieses Etiketts bedienten, ist auch der Aufdruck auf Kaffeetassen keine Blasphemie.

*

Quelle:
Ingolf Bossenz, Januar 2015
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 17.01.2015
URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/958756.abgewertet.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang