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GLEICHHEIT/7079: Dutzende Tote bei Grenzkonflikt zwischen Indien und China


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Dutzende Tote bei Grenzkonflikt zwischen Indien und China

Von Keith Jones
18. Juni 2020


Beim schwersten Grenzzusammenstoß zwischen indischen und chinesischen Truppen seit dem kurzen Grenzkrieg im Jahr 1962 soll es Dutzende Tote gegeben haben.

Die Kämpfe brachen am Montagabend im Galwan-Tal aus, einem von mindestens vier Orten an der umstrittenen chinesisch-indischen Grenze, an der sich Truppen beider Seiten seit mehr als einem Monat direkt gegenüberstehen.

Laut ersten Berichten der indischen Regierung sollen bei den Kämpfen drei indische Soldaten gestorben sein, darunter ein Offizier. Am Dienstagabend wurde die Zahl der Todesopfer jedoch stark nach oben korrigiert. Das indische Militär erklärte, weitere "17 indische Soldaten, die während der Kämpfe lebensgefährlich verwundet wurden und danach in dem hochgelegenen Terrain Temperaturen unter dem Gefrierpunkt ausgesetzt waren, sind an ihren Verwundungen gestorben".

Die chinesische Regierung hat bisher noch nicht bestätigt, ob es Todesopfer gegeben hat. Allerdings deutete ein Redakteur der staatsnahen Global Times an, dass zumindest einige chinesische Soldaten bei dem mehrstündigen Gefecht getötet wurden.

Laut der Times of India hat Indien chinesische Nachrichten abgefangen, laut denen es mindestens 43 chinesische Opfer gab, wobei nicht klar war, wie viele getötet oder lebensgefährlich verwundet wurden. Der US News and World Report berichtete: "Die US-Geheimdienste gehen von 35 chinesischen Todesopfern aus, darunter ein höherer Offizier."

Wenn man den Nachrichten Glauben schenken kann, hat keine Seite während des Zusammenstoßes Feuerwaffen eingesetzt, da angeblich weder indische noch chinesische Soldaten bei Grenzpatrouillen Waffen tragen sollen, um eine Eskalation zu verhindern. Stattdessen sollen die Soldaten der beiden Seiten mit Steinen, Eisenstangen und Knüppeln aufeinander losgegangen sein; letztere sollen teilweise mit Nägeln oder anderen scharfen Objekten beschlagen gewesen sein.

Wie brutal die Kämpfe waren, wird an der hohen Zahl der Todesopfer deutlich. Auch die kalten Temperaturen, das unwirtliche Terrain - die Kämpfe fanden in einem Tal im Himalaya mehr als 4.200 Meter über dem Meeresspiegel statt - und die Schwierigkeiten bei der Evakuierung der Verwundeten haben wohl zu der hohen Zahl beigetragen.

In den Tagen vor dem Zusammenstoß von Montagabend hatten Neu-Delhi und Peking einen "Deeskalationsprozess" der Grenzkrise begonnen, die im Mai mit zwei nichttödlichen Zusammenstößen zwischen indischen und chinesischen Truppen an Orten begann, die mehr als 1.600 Kilometer voneinander entfernt sind. Daraufhin stationierten beide Seiten Tausende von zusätzlichen Soldaten, Artillerie und anderes Kriegsgerät in den jeweiligen Grenzregionen.

Neu-Delhi und Peking behaupten weiterhin, die Krise könne und werde entschärft werden. Der stellvertretende chinesische Außenminister, Luo Zhaohui, traf sich am Dienstag mit dem indischen Botschafter in Peking.

Beide Mächte beharren jedoch darauf, dass die andere Seite für die Todesopfer verantwortlich ist und sich zurückziehen muss. Es ist das erste Mal seit 45 Jahren, dass an der umstrittenen Grenze Opfer zu beklagen sind.

Wie die New York Times unter Berufung auf einen indischen Kommandanten berichtet, werden Dutzende indische Soldaten noch immer vermisst und sind vermutlich gefangen genommen worden. Das könnte die Versuche, die Spannungen abzubauen, noch mehr erschweren.

Das indische Außenministerium hat die chinesische Seite für den "gewaltsamen Zusammenstoß" verantwortlich gemacht. Der Grund sei der "Versuch der chinesischen Seite, einseitig den Status quo" des gegenwärtigen Grenzverlaufs zu ändern. Die Line of Actual Control ist eine nicht exakt festgelegte Grenze, auf die sich die beiden Länder geeinigt haben, bis es eine endgültige Lösung ihrer rivalisierenden Territorialansprüche gibt. Das chinesische Außenministerium erklärte daraufhin, indische Soldaten hätten "die Grenze zweimal überquert, für illegale Aktivitäten und provokante Angriffe auf chinesisches Militärpersonal, was zu einem ernsten physischen Konflikt zwischen Soldaten beider Seiten geführt hat".

Die Ereignisse könnten leicht eskalieren. Tatsächlich sind sie offensichtlich bereits jetzt außer Kontrolle geraten.

Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt, die Atommächte Indien und China, rivalisieren um Märkte, Rohstoffe und geostrategischen Einfluss in Süd-, Südost- und Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika.

Doch was die Grenzstreitigkeiten zwischen Indien und China so explosiv und gefährlich macht, ist die Tatsache, dass diese Rivalität mit der strategischen Konfrontation zwischen China und dem US-Imperialismus zusammenkommt.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat Washington, unter republikanischen wie unter demokratischen Präsidenten, beharrlich daran gearbeitet, Indien in seine räuberischen strategischen Pläne einzubinden. Die indische Bourgeoisie, die ihre eigenen reaktionären Großmachtambitionen verfolgt und sich unbedingt die Gunst der Wall Street und Washingtons sichern will, hat sich erkenntlich gezeigt.

Die ultrarechte indische Regierung unter der Bharatiya Janata Party (BJP) hat die "globale indisch-amerikanische Partnerschaft" ausgebaut, die das Land unter der Kongresspartei eingegangen ist, und Indien zu einem regelrechten Frontstaat in Washingtons militärisch-strategischer Offensive gegen Peking verwandelt. Sie hat u.a. die indischen Marine- und Luftwaffenstützpunkte für US-Truppen geöffnet und ein stetig wachsendes Netzwerk von bilateralen, trilateralen und quadrilateralen militärisch-strategischen Beziehungen mit den USA und ihren wichtigsten Verbündeten im asiatischen Pazifik, Japan und Australien aufgebaut.

China und Pakistan, Indiens historischer Erzrivale, reagierten auf die Bedrohung durch das wachsende indisch-amerikanische Bündnis, indem sie ihre eigene enge militärisch-strategische Partnerschaft stärkten. Die Grenzen Indiens zu China und Pakistan haben sich so zu potenziellen Brennpunkten für eine globale Konfrontation entwickelt.

Pakistan, das sich regelmäßig Artilleriegefechte mit Indien entlang der Line of Control zwischen dem indischen und dem pakistanischen Teil von Kaschmir liefert, machte Indien am Dienstag für den Grenzzusammenstoß mit China verantwortlich. Außenminister Shah Mahmood Qureshi erklärte: "Indien hätte niemals Straßen und Flugfelder in einem umstrittenen Gebiet bauen sollen."

Donnerstagabend äußerte sich ein anonymer Vertreter des US-Außenministeriums mit nichtssagenden Worten zu dem Zusammenstoß zwischen Indien und China. Er erklärte, Washington würde die Ereignisse "sorgfältig beobachten" und eine "friedliche Lösung der derzeitigen Lage unterstützen".

Die Trump-Regierung hat die Spannungen mit China in den letzten Wochen dramatisch verschärft. Sie hat Peking die Schuld an der hohen Zahl an Todesopfern aufgrund der Corona-Pandemie gegeben, die sie in Wirklichkeit durch ihre Nachlässigkeit und Inkompetenz selbst verursacht hat. Im Rahmen ihrer provokanten Aufrüstung gegen China hat sie außerdem drei Flugzeugträger-Kampfgruppen in den Pazifik entsandt.

In Einklang mit dieser aggressiven Linie hat sich Washington deutlich in den indisch-chinesischen Disput eingemischt und Indien zu einer harten Haltung gegen China aufgestachelt. Am 20. Mai warf die US-Staatssekretärin für Süd- und Zentralasien, Alice G. Wells, China "Aggression" gegen Indien vor und stellte eine Verbindung zum Streit im Südchinesischen Meer her, als Beweis für ein "verstörendes Verhaltensmuster" Pekings.

Darauf folgten mehrere provokante Interventionen Trumps, darunter das hinterhältige Angebot, die USA könnten im indisch-chinesischen Grenzkonflikt vermitteln oder sogar eine Lösung aushandeln.

Das alles steht in deutlichem Gegensatz zur öffentlichen Neutralitätshaltung, die Washington im Jahr 2017 eingenommen hat, als sich indische und chinesische Truppen 73 Tage lang auf dem Doklam-Plateau gegenüberstanden. Dieser Himalaya-Gebirgszug wird von China und Bhutan beansprucht. Bhutan ist ein winziges Königreich, das Neu-Delhi fast wie einen Vasallenstaat behandelt.

Die verhaltene Reaktion der Trump-Regierung auf die dramatische Eskalation der chinesisch-indischen Spannungen von Montagabend deutet darauf hin, dass sie die Lage noch bewertet und überlegt, wie sie sie am besten ausnutzen kann.

Doch unabhängig davon, wie die nächsten Schritte aussehen werden, ist es ein Kern der Strategie des US-Imperialismus, Indien zu nutzen, um strategischen Druck auf Chinas Südgrenze auszuüben und die US-Vorherrschaft über den Indischen Ozean aufrechtzuerhalten. Über die Seewege im Indischen Ozean bezieht China seine Ölimporte und wickelt den Großteil seines Handels mit dem Rest der Welt ab. Tatsächlich drängt die Trump-Regierung US-Konzerne öffentlich dazu, sich aus China zurückzuziehen und Indien zu ihrem neuen Produktionsschwerpunkt zu machen - sehr zur Freude der BJP-Regierung.

Die chinesisch-indische Grenze erstreckt sich über den Himalaya, ist dünn besiedelt und besteht größtenteils aus unfruchtbarem Gebiet. Doch angesichts des Zusammenbruchs des Weltkapitalismus und der wachsenden innerimperialistischen Gegensätze und Großmachtkonflikte hat die Grenze plötzlich enorme strategische Bedeutung erlangt.

Eine der US-Strategien zur Schwächung Chinas ist es, die Konflikte zwischen ethnischen Minderheiten auszunutzen. Indien grenzt an die chinesische Autonome Region Tibet und die Autonome Uigurenregion Xinjiang.

Ebenso wichtig ist, dass der chinesisch-pakistanische Wirtschaftskorridor (CPEC) durch die chinesische Aksai-Chin-Region verläuft, die von Indien beansprucht wird. Der CPEC, ein Netzwerk aus Pipelines, Bahn- und Straßenverbindungen zwischen China und der pakistanischen Hafenstadt Gwadar am Arabischen Meer, soll 60 Milliarden Dollar kosten. Er spielt für Peking eine zentrale Rolle, um die Pläne der USA zu unterlaufen, die ihrerseits China durch die Kontrolle der Meerengen im Indischen Ozean und dem Südchinesischen Meer wirtschaftlich strangulieren wollen.

Die Kämpfe am Montagabend und drei der vier Gebiete, in denen indische und chinesische Truppen in den letzten Wochen gegeneinander gekämpft haben, befinden sich entlang der Line of Actual Control zwischen dem indisch kontrollierten Ladakh und Aksai Chin.

Bei seiner Grenzkonfrontation mit China spielt Indien ein rücksichtsloses und riskantes Spiel. Die BJP-Regierung unter Narendra Modi setzt politisch darauf, Indien zu einer regionalen Hegemonialmacht aufzubauen und Modis illegale "chirurgische" Militärschläge gegen Pakistan von 2016 und 2019, die wochenlange Krisen auslösten, als Beweis für ein neues mutiges Indien darzustellen. Am Sonntag kündigte Verteidigungsminister Rajnath Singh an, Indien werde "unter keinen Umständen Abstriche bei seinem Nationalstolz machen. Indien ist nicht mehr schwach."

Modi und die BJP haben durch ihren schlecht vorbereiteten Corona-Lockdown eine soziale Katastrophe ausgelöst. 120 Millionen Menschen sind arbeitslos, die Zahl der Fälle im ganzen Land ist dramatisch angestiegen. Vor diesem Hintergrund werden sie zweifellos versuchen, den Zusammenstoß mit China auszunutzen, um Kriegsstimmung, ethnische und religiöse Hetze und indischen Nationalismus zu schüren, mit dem Ziel, die wachsende soziale Wut in reaktionäre Kanäle zu lenken und die Arbeiterklasse einzuschüchtern.

Wie vorherzusehen war, haben der Nationalkongress und andere Oppositionsparteien sich beeilt, der BJP-Regierung ihre Unterstützung zu versichern. Der Chef der Kongresspartei und Ministerpräsident von Punjab, Amarinder Singh, wetterte am Dienstag: "Es ist Zeit, dass das Land gegen diese Einmischungen aufsteht."

Das chinesische KP-Regime, das vor drei Jahrzehnten den Kapitalismus wieder eingeführt hat und jetzt als politisches Instrument einer neuen kapitalistischen Oligarchie agiert, hat keine progressive Antwort auf den militärisch-strategischen Druck, den die USA und andere imperialistische Mächte mit Unterstützung ihrer bürgerlichen Satrapen in Indien auf China ausüben. Da es keinen Appell an die internationale Arbeiterklasse richten kann, schwankt das Pekinger Regime zwischen militärischer Aufrüstung, dem Schüren von Nationalismus und kriegerischen Drohungen sowie dem Versuch, einen Deal mit den USA und anderen imperialistischen Mächten auszuhandeln.

Die globale Krise des Kapitalismus zwingt die imperialistischen Großmächte, allen voran die USA, in eine katastrophale militärische Konfrontation. Zugleich befeuert sie aber auch die weltweite Erhebung der Arbeiterklasse. Der Kampf gegen Krieg erfordert, diese entstehende Bewegung mit einem sozialistischen und internationalistischen Programm zu bewaffnen.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 18.06.2020
Dutzende Tote bei Grenzkonflikt zwischen Indien und China
https://www.wsws.org/de/articles/2020/06/18/inch-j18.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2020

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