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GLEICHHEIT/6212: Sigmar Gabriel tritt als SPD-Chef und Kanzlerkandidat zurück


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Sigmar Gabriel tritt als SPD-Chef und Kanzlerkandidat zurück

Von Ulrich Rippert
25. Januar 2017


Die Ankündigung von SPD-Chef Sigmar Gabriel, er werde in der kommenden Bundestagswahl nicht als Kanzlerkandidat antreten und auch sein Amt als SPD-Vorsitzender niederlegen, löste gestern Nachmittag im politischen Berlin hektische Debatten und Spekulationen aus.

Seit Monaten hatte der SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister seine Entscheidung offen gelassen, aber in den vergangenen Wochen galt seine Kanzlerkandidatur als sicher. Deshalb war die Überraschung groß, als er vor der SPD-Bundestagsfraktion unvermittelt seinen Verzicht bekannt gab und stattdessen den ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz als Herausforderer von Kanzlerin Angela Merkel vorschlug. Schulz solle auch Parteichef werden, sagte Gabriel.

In Sondersendungen berichteten die Medien über den "großen Rücktritt" und spekulierten über persönliche Gründe, mehr Zeit für die Familie, politische Frustration wegen schlechter Umfragewerte und anderes mehr.

Doch bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass es sich weniger um einen Rückzug als um eine politische Umgruppierung handelt, die in direktem Zusammenhang zur Übernahme der amerikanischen Präsidentschaft durch Donald Trump steht. Die SPD stellt sich neu auf und bietet sich als Partei an, die angesichts "neuer Herausforderungen" Europa im Interesse des deutschen Imperialismus reorganisiert.

Gestern schrieben wir: "Der Amtsantritt von Donald Trump hat in Berlin zu heftigen Reaktionen geführt."[1] Gabriels Entscheidung ist Bestandteil dieser Reaktionen. Er hatte im November EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz aufgefordert, in die Bundespolitik zu wechseln. Schulz war von den Medien systematisch als "großer Europäer" aufgebaut und gefeiert worden. Er habe die Rechte des EU-Parlaments gestärkt und sich für die europäische Einigung verdient gemacht.

In Wahrheit bestand die Stärke von Martin Schulz darin, dass er aufs Engste mit dem konservativen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker zusammenarbeitete. Das EU-Parlament konnte unter seiner Leitung über alles endlos und kontrovers diskutieren, doch im Hintergrund hatten Schulz und Juncker, deren sozialdemokratische und konservative Fraktionen zusammen über 54 Prozent der Stimmen verfügen, sämtliche Entscheidungen bereits in allen Einzelheiten vorbereitet und Mehrheiten vereinbart.

Auch der Kanzlerin machte Schulz den Hof, und sie bezeichnete ihn als ihren liebsten Sozialdemokraten. Wieweit ein Kanzlerkandidat Schulz auf die Fortsetzung der Großen Koalition setzt, wird sich zeigen und hängt nicht zuletzt vom Wahlergebnis ab.

Im vergangenen Herbst hatte Gabriel Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) als Bundespräsidenten und Nachfolger von Joachim Gauck vorgeschlagen. Die Kanzlerin hatte dem zugestimmt, und es gilt als sicher, dass Steinmeier am 12. Februar ins Schloss Bellevue einziehen wird.

Nun schlägt Gabriel sich selbst als Nachfolger von Steinmeier als Außenminister vor. Er bleibt Vizekanzler und wechselt vom Wirtschaftsministerium ins Außenamt. Bleibt die SPD nach der Wahl an der Regierung, könnte er, gestützt auf einen SPD-Kanzler oder Vize-Kanzler und einen sozialdemokratischen Bundespräsidenten, die deutsche Vorherrschaft in Europa ausbauen.

Unmittelbar vor Bekanntgabe seiner Pläne hatte Gabriel mehreren Zeitungen ausführliche Interviews gegeben, in denen er angesichts der Drohungen des neuen US-Präsidenten ein größeres europäisches Selbstbewusstsein forderte. Im Handelsblatt erschien gestern ein solches Interview unter der Überschrift "Jetzt ist die Zeit, Europa zu stärken".

Das Handelsblatt berichtet, der Vizekanzler strebe einen "radikalen Kurswechsel" in der Europäischen Union an. Angesichts der "Zeitenwende in den USA und des Brexits" wolle Gabriel die Europäische Union neu aufstellen: "Wir brauchen nicht 'mehr Europa', sondern ein anderes Europa." Wenn nicht alle Staaten im gleichen Tempo vorangehen wollten, dann müsse man über ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" ernsthaft nachdenken.

Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten "würde auch innerhalb Europas die Spannungen sehr reduzieren und Kerneuropa ungeheuer stärken", fasst das Handelsblatt Gabriels Standpunkt zusammen, der damit auf die wachsende Europa-Kritik in Großbritannien und anderen Ländern reagiere. "Die EU, die sich an Detailfragen abarbeitet", sei an ihre Grenzen gestoßen. Europa dürfe nicht "den quälenden Prozess der ständigen Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner fortsetzen", sondern müsse Alternativen ermöglichen. Für Gabriel zählen dazu eine eng verzahnte Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Für eine Wiederbelebung der EU hatte sich am Montag in Berlin auch der französische Präsidentschaftskandidat der Republikaner, François Fillon, ausgesprochen, wobei Fillon auch ein engeres Bündnis mit Russland vorschlug. Gabriel sieht Deutschland bei der Neuordnung der westlichen Welt in einer Schlüsselrolle. Er meldete jedoch Zweifel an der Eignung der Kanzlerin für diese Aufgabe an. Auf die großen Herausforderungen, die auf Deutschland und Europa zukämen, sei die Union nicht vorbereitet.

Einen Tag zuvor hatte der Mitherausgeber des Handelsblatts Gabor Steingart geschrieben: "Die Stunde der außenpolitischen Neuorientierung hat geschlagen."

So sieht es auch Gabriel. Deutschland und Europa dürften sich von Trumps "hochnationalistischen Tönen" nicht einschüchtern lassen, sondern müsse "beinhart" die eigenen Interessen definieren und vertreten, sagte er am vergangenen Wochenende der Bild-Zeitung. Deutschland sei "ein starkes Land" und Europa "ein starker Kontinent, der zusammenhalten muss". Wenn die Vereinigten Staaten "mit China und übrigens ganz Asien einen Handelskrieg beginnen, dann sind wir ein fairer Partner", fügte er hinzu. Deutschland und Europa bräuchten eine neue Strategie in Richtung China und Asien. Es gebe neue Chancen, auch wenn China kein leichter Partner sei.

Es ist wäre nicht zum ersten Mal, dass die SPD in Zeiten eines großen Umbruchs die führende Rolle bei der Verwirklichung der Interessen des deutschen Imperialismus übernimmt. 1969 verhalf die Unternehmerpartei FDP, die bisher am rechten Rand des politischen Spektrums gestanden hatte, der SPD zur Mehrheit und Willy Brandt zur Kanzlerschaft, weil dessen Ostpolitik, die in der CDU/CSU auf heftigen Widerstand stieß, der deutschen Wirtschaft mitten in der größten internationalen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit zu neuen Energiequellen und Absatzmärkten verhalf. Und die Regierung von Gerhard Schröder, der 1998 nach 16 Jahren CDU-Kanzler Helmut Kohl ablöste, ebnete den Weg für Auslandseinsätze der Bundeswehr und verabschiedete die Hartz-Gesetze.


Anmerkung:
[1] http://www.wsws.org/de/articles/2017/01/24/deut-j24.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 25.01.2017
Sigmar Gabriel tritt als SPD-Chef und Kanzlerkandidat zurück
http://www.wsws.org/de/articles/2017/01/25/gabr-j25.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2017

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