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GLEICHHEIT/5859: Verfassungskrise in Polen hält an


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Verfassungskrise in Polen hält an

Von Clara Weiss
15. März 2016


Die Verfassungskrise in Polen hält an. Die nationalkonservative PiS-Regierung (Recht und Gerechtigkeit) hat sich geweigert, die Entscheidung des Verfassungsgerichts anzuerkennen, das die jüngste Justizreform als verfassungswidrig zurückgewiesen hat.

Die Venedig-Kommission der EU hat sich auf Seiten des polnischen Verfassungsgerichts gestellt. Auch Vertreter der US-Regierung haben die PiS-Regierung wegen des Angriffs auf das Verfassungsgericht verurteilt. Am Samstag fanden daraufhin erneute Proteste der Opposition in Warschau und anderen polnischen Städten statt, an denen einige zehntausend Menschen teilnahmen.

Die PiS hat nach ihrem Wahlsieg im Oktober in rasantem Tempo einen kalten Staatsstreich [1] durchgeführt, die Geheimdienste und öffentlich rechtlichen Medien unter ihre Kontrolle gebracht und das Verfassungsgericht blockiert. Die Partei Jaroslaw Kaczyńskis versucht sich mit dem Aufbau eines autoritären Staates gegen eine Explosion der sozialen Spannungen zu wappnen sowie eine rasche Militarisierung [2] und einen Kriegskurs gegen Russland durchzusetzen.

Der Rechtsschwenk der polnischen Regierung hat die Krise in der EU verschärft und zu wachsenden Spannungen insbesondere mit Deutschland geführt. Die EU-Kommission hat gegen Polen zum ersten Mal in ihrer Geschichte den sogenannten "Rechtsstaatsmechanismus" angewandt. Sie wird der polnischen Regierung Empfehlungen für eine Änderung der Gesetze geben. Sollte die polnische Regierung den Vorschlägen nicht nachkommen, könnte Polen Stimm- und Vetorechte in der EU verlieren.

Nun hat das polnische Verfassungsgericht die Gesetzesänderungen, mit denen die PiS am 22. Dezember 2015 die Arbeitsweise des Verfassungsgerichts im Eilverfahren neu regelte, für verfassungswidrig erklärt. Sie bestimmen unter anderem, dass bei allen Sitzungen mindestens 13 der 15 Richter anwesend sein, sämtliche Fälle in chronologischer Reihenfolge behandelt und Entscheidungen mit einer Zweidrittelmehrheit entschieden werden müssen. Das polnische Verfassungsgericht hat seine Ablehnung dieser Änderungen damit begründet, dass sie ein reguläres Funktionieren des Gerichts unmöglich machen.

Die PiS-Regierung hat sich geweigert, dieses Urteil anzuerkennen, und will es nicht veröffentlichen. Ein Urteil des Verfassungsgerichts wird in Polen erst durch seine Veröffentlichung rechtskräftig. Die PiS argumentiert, die Entscheidung sei widerrechtlich erfolgt, weil sich das Verfassungsgericht nicht an die Vorgaben vom 22. Dezember gehalten habe, die es für unrechtmäßig erklärt hat.

Kurz nach dem Urteil des Verfassungsgerichts bestätigte die Venedig-Kommission der EU die Haltung des Gerichts. Die Einschätzung der Venedig-Kommission war im Dezember vom polnischen Außenministerium nach Protesten der EU und insbesondere Deutschlands angefordert worden.

Die Venedig-Kommission gelangt zum Schluss, dass die Gesetzesänderungen ein "effektives" Handeln des Verfassungsgerichts erschweren bis unmöglich machen. Dies gefährde die "Demokratie" und die "Menschenrechte" in Polen. Die PiS hat bereits angekündigt, sie werde auch die Einschätzung der Venedig-Kommission nicht anerkennen. Mehrere prominente Regierungspolitiker verbaten sich eine "Einmischung von außen" in polnische Angelegenheiten.

Inzwischen haben auch einzelne US-Senatoren relativ milde Kritik an der polnischen Regierung geübt. Republikanische und demokratische Senatoren haben einen Brief an Premierministerin Beata Szydlo geschickt, in dem sie sich über den Zustand der Demokratie und des Rechtsstaates besorgt zeigen. Szydlo wies die Kritik brüsk als Einmischung in polnische Angelegenheiten zurück.

Die US-Regierung hatte sich in den vergangenen Monaten merklich bedeckt gehalten und keine offizielle Kritik an der PiS-Regierung geäußert, die noch stärker als ihre Vorgängerinnen auf ein Bündnis mit den USA in der Konfrontation mit Russland setzt. Beim Nato-Gipfel im Warschau im Juli soll unter anderem eine permanente Nato-Truppenpräsenz in Polen festgelegt werden. Dieses Bündnis will Washington auf keinen Fall gefährden.

Gleichzeitig drückt der Brief der US-Senatoren, zu denen auch John McCain, ein Scharfmacher gegen Russland, zählt, Besorgnis darüber aus, dass die politische Krise in Polen außer Kontrolle geraten und die US-Strategie in Osteuropa untergraben könnte.

Sowohl in der EU als auch in den USA stößt zudem die wirtschaftspolitische Orientierung der PiS auf, die versucht, im Interesse polnischer Kleinunternehmer den Einfluss von ausländischem Kapital in der polnischen Wirtschaft einzuschränken.

Die Oppositionsbewegung, die vom Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) geleitet wird und von den liberalen Parteien Bürgerplattform (PO) und Nowoczesna unterstützt wird, spricht dagegen für Schichten der Bourgeoisie und der städtischen Mittelklasse, die vom EU-Beitritt und der Öffnung für internationales Kapital profitieren und ihre Interessen durch die Politik der PiS gefährdet sehen.

Ermutigt durch die Stellungnahme der EU für das polnische Verfassungsgericht und das Eingreifen einzelner US-Vertreter hat die Opposition in Polen am Samstag weitere Proteste in Warschau und anderen Städten abgehalten. An den Protesten in Warschau, die zu den größten seit Beginn der so genannten Demokratiebewegung gehören, nahmen laut Polizeiangaben rund 15.000 Menschen, laut Oppositionsangaben 50.000 Menschen teil.

Wie bei früheren Demonstrationen bestand der Protestzug aus einem Meer von polnischen Nationalflaggen und EU-Fahnen. Vereinzelt waren auch US-Flaggen zu sehen. Mitglieder des KOD, das die Proteste organisiert, verkauften die Polen- und EU-Fahnen am Rande der Demonstration.

Die Demonstranten skandierten keine Parolen, sondern lärmten mit Vuvuzelas, die ebenfalls rot-weiß (die Farben der polnischen Nationalflagge) waren. Auf Plakaten wurden zumeist Präsident Andrzej Duda und PiS-Chef Jaroslaw Kaczyński angegriffen. Viele Anstecker des KOD wiederholten die Losung, die 1989 die Demonstrationen dominiert hatten: "Wir sind die Nation" ("My, naŕod"; im Polnischen hat "naŕod" die Bedeutung von Volk und Nation.) Nachdem die Protestierenden bis vor den Präsidentenpalast gezogen waren, löste sich die Demonstration nach etwas mehr als zwei Stunden wieder auf.

Es spricht Bände über die politische und soziale Orientierung der KOD-Bewegung, dass sie die EU und die USA in einer Situation als Garanten für "Demokratie" und "Menschenrechte" hochhält, in der sie Millionen Menschen durch Kriege ihrer Heimat berauben und die Flüchtenden schlimmer als Tiere behandeln.


Anmerkungen:
[1] http://www.wsws.org/de/articles/2015/12/01/pole-d01.html
[2] http://www.wsws.org/de/articles/2016/01/29/pola-j29.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 15.03.2016
Verfassungskrise in Polen hält an
http://www.wsws.org/de/articles/2016/03/15/pole-m15.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2016

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