Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GLEICHHEIT/5636: Innenministerium prognostiziert 800.000 Asylbewerber


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Innenministerium prognostiziert 800.000 Asylbewerber

Von Martin Kreickenbaum
21. August 2015


Auf einer Pressekonferenz am Mittwoch verkündete Bundesinnenminister Thomas de Maiziere, dass bis Ende des Jahres 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden. Im Frühjahr war das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch von rund 450.000 Menschen ausgegangen, die in Deutschland um Asyl ersuchen werden. Dass die aktuelle Zahl nun fast doppelt so hoch ausfällt, hat vor allem politische Gründe. Das Bundesinnenministerium will mit einer dramatischen Überschätzung die Stimmung gegen Flüchtlinge anheizen und das Asylrecht massiv beschneiden.

Fast gleichzeitig zur neuen Prognose veröffentlichte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Asylstatistik für Juli 2015. Demnach gingen im Juli 37.500 Asylanträge ein. Im Zeitraum Januar bis Ende Juli waren es rund 218.000 Asylanträge, allerdings handelt es sich dabei nur in 196.000 Fällen um Erstanträge.

Es gehört schon Chuzpe dazu, von diesen Zahlen darauf zu schließen, dass in den verbleibenden fünf Monaten des Jahres nochmals mehr als 600.000 Menschen nach Deutschland fliehen werden. Das Bundesamt behauptet, dass die neue Schätzung nicht mehr auf der Zahl der beim Bundesamt gestellten Asylanträge beruhe. Jetzt werde als Grundlage vielmehr die Zahl der bei den Bundesländern registrierten Asylsuchenden benutzt, bevor diese Menschen überhaupt einen Antrag auf Asyl stellen.

In dieser als "Easy-System" bezeichneten Registrierung sollen laut Bundesamt bis Ende Juli bereits 310.000 Asylsuchende erfasst worden sein. Allein im Juli seien 83.000 Personen nach Deutschland eingereist, und für den August erwartet das Bundesamt eine noch höhere Zahl. Nachprüfbar sind diese Angaben jedoch nicht. Letztlich fußen sie auf der Erwartung eines gleichbleibenden Zugangs von Flüchtlingen, der kaum vorherzusagen ist.

De Maizière betonte bei der Vorstellung der Schätzung, "dass Deutschland sich auch zukünftig auf hohe Flüchtlingszahlen einzustellen habe". Er unterschlug aber, dass letztlich nur ein kleiner Teil der Schutzsuchenden auch tatsächlich dauerhaft in Deutschland verbleiben wird. Obgleich die Schutzquote für Flüchtlinge ungeachtet der demagogischen Debatten über angeblichen "Asylmissbrauch" zurzeit bei knapp 50 Prozent liegt, lebten nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zum Stichtag 31. Dezember 2014 nur rund 140.000 Flüchtlinge mit anerkanntem Schutzstatus in Deutschland. Gleichzeitig sind in den vergangenen Jahren rund 500.000 Flüchtlinge abgeschoben worden oder freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt.

Selbst in Europa nimmt Deutschland gemessen an der Einwohnerzahl weniger Asylsuchende auf als Schweden, Ungarn oder Österreich. Während in Deutschland auf 1.000 Einwohner ungefähr 2 Flüchtlinge kommen, sind es in Schweden viermal so viele. Zudem ist in Schweden die Anerkennungsquote für Flüchtlinge ungleich höher als in Deutschland.

Im globalen Maßstab nimmt Deutschland gar nur einen Bruchteil der weltweit 60 Millionen Flüchtlinge auf. Gemessen an Bevölkerungsgröße oder Wirtschaftskraft liegt das wirtschaftlich stärkste Land Europas sogar nur im Mittelfeld. Im Libanon, einem Land von nur 4 Millionen Einwohnern, halten sich 1 Million Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien auf. In der Türkei sind es 2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Davon leben 300.000 in Lagern, während 1,7 Millionen Flüchtlinge in Privatwohnungen und bei Freunden und Bekannten untergekommen sind.

Außerdem ist Deutschland seit Jahren Ziel von Migranten, die außerhalb des unmenschlichen und bürokratischen Asylsystems geräuschlos Arbeit, Wohnung und Freunde finden. Im Jahr 2014 sind mehr als 1,15 Millionen Menschen zugewandert. Bei Fortzügen in der Größenordnung von 475.000 Menschen ergibt sich ein positiver Wanderungssaldo von etwa 675.000 Menschen.

Nur der geringste Teil kam dabei über die breit propagierte Zuwanderung Hochqualifizierter oder über die EU-Blue-Card. Meist handelte es sich um Familiennachzügler oder einfache Arbeiter. Trotzdem will Innenminister de Maizière der Öffentlichkeit weismachen, dass in Deutschland durch den Flüchtlingszuzug die Grenze der Belastbarkeit erreicht sei.

Zynisch erklärte er, dass "jeder Flüchtling, der nach Deutschland kommt, würdig, sicher und anständig aufgenommen und untergebracht werden" müsse. Angesichts der überall wuchernden Zeltstädte mit unzumutbaren hygienischen Zuständen und der notdürftigen Massenunterbringung in ausgedienten Kasernen, Turn- und Fabrikhallen, die nur unzureichend mit Wasser und Lebensmitteln versorgt sind, kann von menschenwürdiger Unterbringung kaum die Rede sein. Die Lagerpflicht isoliert und ghettoisiert die Flüchtlinge zudem. Ihr Sinn besteht vor allem darin, im Schnellverfahren abgelehnte Asylbewerber möglichst geräuschlos deportieren zu können.

Nicht nur im CSU-regierten Bayern entstehen bundesweit Flüchtlings- und Abschiebelager speziell für Flüchtlinge vom Balkan - in der Regel Angehörige der Gruppe der Roma. Auch die von der Linkspartei geführte Regierung in Thüringen hat sich nun für eine Selektion und Verteilung der Flüchtlinge nach ethnischen und religiösen Kriterien ausgesprochen.

Nachdem es in der Flüchtlingsunterkunft im thüringischen Suhl zu Ausschreitungen gekommen war, die vor allem den unzumutbaren Zuständen und der qualvollen Enge in dem völlig überbelegten Heim zuzuschreiben sind, erklärte Ministerpräsident Bodo Ramelow im Mitteldeutschen Rundfunk, zukünftig unterschiedliche Ethnien in getrennten Flüchtlingsunterkünften unterzubringen.

Das Chaos bei der Unterbringung der Flüchtlinge in Deutschland ist dabei politisches Kalkül. Angesichts zigtausender leer stehender Wohnungen müsste es Zeltstädte und ähnliche unwürdige Behausungen gar nicht geben. Allein in Berlin stehen mehr als 7.000 Wohnungen leer, mehr als genug, um den 15.000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr nach Berlin verteilt wurden, angemessenen Wohnraum zur Verfügung zu stellen.

Hilfsorganisationen und Bürgerinitiativen, die Flüchtlingen helfen wollen, klagen, dass sie von den Behörden gehindert werden. Deren angebliche Überforderung mit den wachsenden Flüchtlingszahlen dient dazu, weitere Repressalien gegen Asylbewerber durchzusetzen.

Die CSU-Landesgruppenchefin im Bundestag, Gerda Hasselfeldt, forderte erneut eine Kürzung des Taschengeldes für Flüchtlinge. "Für viele Asylbewerber aus Südosteuropa ist Deutschland wegen seiner hohen Standards und finanziellen Unterstützung besonders attraktiv. Dies ist daher zu überprüfen", sagte sie der Rheinischen Post.

Außerdem verlangt de Maizière wieder einmal die Einstufung weiterer Länder als "sichere Herkunftsstaaten", um Asylverfahren abzukürzen und Flüchtlinge schneller abschieben zu können. Nachdem im letzten Herbst bereits Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien zu "sicheren Herkunftsstaaten" erklärt worden waren, sollen nun Albanien, Kosovo und Montenegro folgen.

Auch in Griechenland steigen die Flüchtlingszahlen weiter dramatisch an. "Wir warnen seit Monaten, dass die Flüchtlingskrise in Griechenland immer schlimmer wird", sagte UNHCR-Sprecher William Spindler. Seit Anfang Januar bis 14. August dieses Jahres kamen 158.456 Menschen über das Mittelmeer nach Griechenland.

Als Reaktion darauf will die Bundesregierung die Abschottung weiter vorantreiben. Sie wirft Griechenland, aber auch Italien vor, Flüchtlinge unregistriert weiterziehen zu lassen. De Maizière hat selbst ein Ende des Schengen-Abkommens und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen nicht ausgeschlossen. Gegenüber dem ZDF-Morgenmagazin erklärte er: "Offene Grenzen gehen nur, wenn das System innerhalb des Raumes, in dem es offene Grenzen gibt, dann auch ausgeglichen funktioniert. Und das ist nicht der Fall." Und weiter: "Wenn sich andere europäische Staaten nicht an Recht und Gesetz halten, brauchen wir ein anderes System, das funktioniert."

*

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: psg[at]gleichheit.de

Copyright 2015 World Socialist Web Site - Alle Rechte vorbehalten

*

Quelle:
World Socialist Web Site, 21.08.2015
Innenministerium prognostiziert 800.000 Asylbewerber
http://www.wsws.org/de/articles/2015/08/21/flue-a21.html
Partei für Soziale Gleichheit
Sektion der Vierten Internationale (PSG)
Postfach 040 144, 10061 Berlin
Telefon: (030) 30 87 27 86, Telefax: (032) 121 31 85 83
E-Mail: psg[at]gleichheit.de
Internet: www.wsws.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang