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GLEICHHEIT/5038: 64. Internationales Berliner Filmfestival - Teil 2


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

64. Internationales Berliner Filmfestival - Teil 2
Ein ernstgemeinter Umgang mit Geschichte: Non-Fiction Diary von Jung Yoon-suk aus Südkorea

Von Stefan Steinberg
25. Februar 2014



Dies ist der zweite Teil einer Artikelreihe zu dem kürzlich beendeten Filmfestival in Berlin, der 64. Berlinale, die vom 6. bis zum 16. Februar 2014 stattfand. Teil eins wurde am 22. Februar veröffentlicht.


Der 33-jährige südkoreanische Filmemacher Jung Yoon-suk beweist mit seinem neuen Dokumentarfilm Non-Fiction Diary [Tagebuch nicht erfundener Geschichten], der auf der 64. Berlinale den NETPAC-Preis (Network for the Promotion of Asian Cinema - Fördernetzwerk für asiatisches Kino) gewann, einen erfreulich ernsthaften Zugang zur Geschichte.

In den Bemerkungen zu seinem Film macht Jung Yoon-suk (geboren in Seoul) deutlich, dass ein Verständnis der Vergangenheit notwendig ist, um Einfluss auf die Gegenwart zu nehmen. Er schreibt: "Die Vergangenheit ist nicht bloß die Vergangenheit. Sie kommt immer wieder zurück, sie wirkt auf unsere Zeit ein. Wenn die Gegenwart nicht verändert werden kann, dann wird die Zukunft so werden wie die Vergangenheit." Der Regisseur gab der WSWS ein Interview (siehe unten).

Jungs Non-Fiction Diary will die folgenschweren sozialen und politischen Veränderungen untersuchen, von denen Südkorea in den 1990er Jahren im Anschluss an den Zusammenbruch der Militärjunta 1988 und die darauffolgende Öffnung des Landes für den Weltmarkt unter der Regierung von Kim Young-sam (1993-1998) betroffen war. Jung versuchte "die Widersprüche des Kapitalismus zu enthüllen", wir er es ausdrückte.

Der Film zeigt zu Beginn die Verhaftung einer Jugendbande im September 1994, die als Jijon-Klan ("Oberste Gangster") bekannt war. Der Jijon-Klan setzte sich aus einer Gruppe junger Männer aus einem verarmten bäuerlichen Gebiet Südkoreas zusammen, die verantwortlich für die Entführung, Folterung und brutale Ermordung von fünf Opfern war, die sie für ihre Feinde erklärt hatten. Der selbsternannte Zweck des Klans war es, "die Reichen zu töten." Die Medien behaupteten, diese Episode sei der erste Fall einer Mordserie in der Geschichte Südkoreas, die von jungen Männern begangen wurde. Nachdem Medien und das Establishment die Gruppe als "Teufelsbrut" gebrandmarkt hatten, wurden fünf von ihnen zum Tode verurteilt und knapp ein Jahr später hingerichtet.

Das Todesurteil wurde von Präsident Kim unterzeichnet, der erklärte, dass die Hinrichtungen der jungen Männer ein notwendiger Akt "sozialer Reinhaltung" sei. Jung macht klar, dass er natürlich keine Sympathien für die grauenvollen Taten der Gruppe hegt, versucht aber ihre Verbrechen in einem breiteren sozialen und politischen Zusammenhang einzuordnen.

In seinen Begleitkommentaren schreibt der Regisseur: "Die von der Gruppe begangenen Verbrechen (...) gelten als erste Mordserie Koreas, deren Angriffsziel die wachsende soziale Ungleichheit war. Diese tragischen Ereignisse führen uns die Auswirkungen und Widersprüche des Kapitalismus vor Augen, die Südkoreas erfolgreichen Versuch begleiteten, zu wirtschaftlicher Blüte zu gelangen. Die politisch motivierten Taten des hierarchisch strukturierten Jijon-Klans zählen zu den dunkelsten Kapiteln des schnellen ökonomischen Wachstums des Landes."

Einen Monat nach der Verhaftung des Jijon-Klans stürzte die Seongsu-Brücke in Soul ein und forderte 32 Todesopfer. Untersuchungen zu der Katastrophe enthüllten, dass Routineinspektionen an der Brücke, die 1979 errichtet worden war, den Haushaltskürzungen zum Opfer fielen.

Acht Monate später ereignet sich ebenfalls in Seoul einer der tödlichsten Gebäudeeinstürze in der Geschichte: das fünfstöckige Sampoong-Kaufhaus brach zusammen. 502 Menschen wurden getötet und fast eintausend verletzt. Offizielle Nachforschungen ergaben, dass das Kaufhaus aus einer minderwertigen Mischung aus Zement und Meerwasser errichtet worden war und dass das spätere Aufsetzen eines zusätzlichen Stockwerks die Baustruktur noch weiter schwächte.

Als menschliches Verbindungsstück dieser unterschiedlichen Ereignisse tritt der leitende Polizist auf, der verantwortlich für die Verhaftung des Jijon-Klans war. Derselbe Beamte, Hauptkommissar Go Byung-chun, war auch Augenzeuge der Katastrophe des Sampoong-Kaufhauses. Er beschreibt die Szenen der Verwüstung nach dem Zusammenbruch des Gebäudes als Kriegsgebiet, als ein Blutbad, das er niemals vergessen werde. Go zeigt sich anschließend verblüfft darüber, dass die Mitglieder des Jijon-Klans für den Tod von fünf Leuten mit ihrem Leben zahlen mussten, während von den Verantwortlichen für die Kaufhaustragödie nur eine Handvoll Personen ins Gefängnis ging, sogar unter verhältnismäßig mildem Strafmaß.

Eine der stärksten Szenen von Non-Fiction Diary zeigt Dokumentarmaterial von Angehörigen der Opfer des Kaufhauseinsturzes, wie sie den Schutt einer gigantischen Müllhalde nach Überresten ihrer Familienmitglieder durchwühlen. Nachdem die Behörden ihre Suche nach Überlebenden abgeschlossen hatten, wurde der Schutt des Kaufhauses auf eine Deponie transportiert, obwohl mehrere Familien die Leichen ihrer Verwandten nicht erhalten hatten. Uns wird die Suche einiger Familien nach den Knochen und Überbleibseln ihrer Angehörigen gezeigt.

Jung konnte Hauptpersonen dieser Ereignisse interviewen, darunter leitende Polizisten, Gefängnisdirektoren und Politiker. Damit lieferte er ein eindringliches und abgerundetes Porträt einer zutiefst konservativen politischen Elite, die auf die leiseste Bedrohung ihres privilegierten Status' mit drakonischer und brutaler Unterdrückung antwortet. Seine Interviewpartner waren sichtlich erleichtert, sich ungezwungen über Dinge und über eine Zeit aussprechen zu können, die im öffentlichen Diskurs kaum Erwähnung finden.

Ein prominenter Menschenrechtsaktivist, der in Non-Fiction Diary interviewt wurde, bemerkt, dass zusätzlich zu den massiven ökonomischen und politischen Spannungen die südkoreanische Gesellschaft zu dieser Zeit auch von einer ideologischen Krise heimgesucht wurde. Die herrschende Klasse und die Medien propagierten neoliberale Werte der Wirtschaft und die Anbetung des Geldes, während breite Bevölkerungsschichten keinerlei wirksame Repräsentation hatten.


Ein Gespräch mit Jung Yoon-suk

In einem Interview mit der WSWS machte Filmemacher Jung Yoon-suk deutlich, dass er Parallelen zwischen der Periode kapitalistischer Expansion Mitte der 1990er Jahre und der heutigen Situation, fünf Jahre nach dem Finanzzusammenbruch von 2008, in Südkorea sieht.

Er erläuterte: "Die Periode Mitte der 1990er Jahre war eine sehr wichtige Zeit im gesellschaftlichen und politischen Leben Koreas. Nachdem 1988 die Militärdiktatur zusammengebrochen war, erlebte Korea eine Phase sehr schneller neoliberaler Wirtschaftsentwicklung. In vielerlei Hinsicht wurde die Entwicklung des Thatcherismus in Großbritannien und der Reagan-Ära in Amerika wiederholt.

Innerhalb kurzer Zeit nahm die soziale Ungleichheit sehr schnell zu. Einige wenige Leute wurden reich, doch viele blieben zurück. Streiks brachen aus. Das Land öffnete sich wirtschaftlich, aber gleichzeitig blieb die herrschende Elite sehr konservativ. Dann machte das Land 1997 eine schwere Krise durch, als es seine Schulden an den IWF nicht zurückzahlen konnte.

Die Ereignisse, von denen der Film berichtet, entstammen dieser Periode. Im Jahr 1994 ereigneten sich die Serienmorde der Bande und die Seongsu-Brücke stürzte in den Fluss. 1995 folgte der Einsturz des Sampoong-Kaufhauses. Es gibt eine Verbindung zwischen diesen Ereignissen. Und, wie ich in den Einleitungsbemerkungen zum Film schon sagte, die sozialen Probleme, die der Jijon-Klan begriffen hatte, bestehen heute nach wie vor."

Ich fragte Jung nach der Bedeutung des Polizeikommissars, der die Bande zur Strecke gebracht hatte, für seinen Film.

Jung Yoon-suk: "Ursprünglich hatte ich geplant, einen Film von mehr künstlerischem Charakter zu drehen. Erst nachdem ich den Polizeichef getroffen hatte, habe ich mein Konzept geändert und habe eine Dokumentation gemacht. Der Polizeichef ist eine Schlüsselfigur. Er hat nicht nur die Bande hinter Gitter gebracht, sondern war auch beim Einsturz des Sompoong-Kaufhauses zugegen. Er ist es, der die Parallele zwischen den zwei Ereignissen zieht, indem er sagt, dass gegen die Bandenmitglieder die Todesstrafe verhängt wurde, während alle Verantwortlichen für den Kaufhauseinsturz glimpflich davon kamen.

Die Erfahrung mit der Jijon-Bande zwang ihn außerdem, seine Meinung über die Todesstrafe zu überdenken. Vor der Hinrichtung des Jijon-Klans war Go Byung-chun ein entschiedener Befürworter. Nach dem milden Urteil gegen die Verantwortlichen des Kaufhauses habe er, wie er sagt, eine gespaltene Meinung zur Todesstrafe, da es einerseits ein Gesetz für die Armen gebe, anderseits ein anderes für die Reichen.

Ein anderer bedeutsamer Faktor, den der Film vermittelt, war die Amnestie, die im Jahr 1997 den beiden südkoreanischen Militärdiktatoren gewährt wurde, die den Militärputsch betrieben haben, mit welchem 1979 die bestehende Regierung gestürzt wurde. Beide Männer wurden für ihre zahllosen Verbrechen gegen das Volk zu langen Haftstrafen verurteilt, doch dann mit Genehmigung von Kim Young-sam freigelassen, um das Militär zu beschwichtigen.

Ich fragte Jung nach einem Kommentar, der im Film fällt, und darauf hinausläuft, dass die südkoreanische Elite immer einen Feind benötigt, um ihren Autoritarismus zu rechtfertigen.

"Das ist wahr. Im Jahr 1994 hatten sie ein einfaches Ziel: den Jijon-Klan. Diese jungen Männer konnten dämonisiert und gleichzeitig die massive staatliche Repression gerechtfertigt werden. Doch wenn sie keine Kriminellen haben, werden sie immer einen anderen Feind finden. Wenn nichts mehr geht, dann ist es Nordkorea. Die kapitalistische Gesellschaft in Korea ist aufs Engste mit dem Nationalismus verbunden. Man kann nicht das eine kritisieren oder ablehnen ohne das andere."

Ich sprach den Filmemacher außerdem auf die Bedeutung der amerikanischen Politik in der Region und die Gefahren an, die mit der "Schwerpunktverlagerung nach Asien" verbunden sind, die Präsident Barack Obama betreibt.

Ich stimme vollkommen zu. Die Amerikaner versuchen, Korea in einen Konflikt mit China zu verwickeln, um das Land als Militärbasis nutzen zu können. In meinem vorherigen Film [Jam Docu Gangjung, 2011] habe ich mich mit einigen dieser Themen beschäftigt. Er handelt von der weit verbreiteten Ablehnung der Errichtung eines Flottenstützpunktes bei dem Dorf Gangjeong.

Zum Schluss äußerte Jung Yoon-suk seine Freude darüber, der World Socialist Web Site ein Interview gegeben zu haben.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 25.02.2014
64. Internationales Berliner Filmfestival - Teil 2
Ein ernstgemeinter Umgang mit Geschichte: Non-Fiction Diary von Jung Yoon-suk aus Südkorea
http://www.wsws.org/de/articles/2014/02/25/berl-f25.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2014