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GLEICHHEIT/4260: Kraft schwenkt auf Sparkurs ein


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Kraft schwenkt auf Sparkurs ein

Von Dietmar Henning
16. Juni 2012



Nach dreiwöchigen Verhandlungen haben SPD und Grüne in Nordrhein-Westfalen am Dienstag ihren Koalitionsvertrag der Öffentlichkeit vorgestellt. Am Freitag segneten ihn Parteitage der beiden Koalitionspartner ab und am kommenden Mittwoch, vier Wochen nach der Landtagswahl, soll Hannelore Kraft (SPD) für weitere fünf Jahre zur Ministerpräsidentin gewählt werden.

In den vergangenen beiden Jahren hatte Kraft eine rot-grüne Minderheitsregierung geführt und sich dabei auf die Stimmen der Linkspartei gestützt, die im neuen Landtag nicht mehr vertreten ist. Nun verfügen SPD und Grüne über eine eigene Mehrheit, können aber auch mit Stimmen der Piratenpartei rechnen. Deren Landesvorsitzender Michele Marsching sagte: "Ich gehe davon aus, dass einige Piraten sie mit zur Ministerpräsidentin wählen wollen. Ich persönlich würde sie unterstützen."

Der zentrale Satz des fast 200-seitigen Koalitionspapiers steht auf Seite 180. Er lautet: "Daher stehen alle haushaltswirksamen Vorhaben im Rahmen dieses Koalitionsvertrags unter Finanzierungsvorbehalt." Mit anderen Worten, alle Wahlversprechen, die Kraft im Wahlkampf Armen, Arbeitslosen, Niedrigverdienern, Familien, Kindern, Jugendlichen und in Bezug auf die Förderung von Kultur und Wissenschaft gemacht hat, werden dem Rotstift zum Opfer fallen.

Denn eine Festlegung des Koalitionsvertrags hat für SPD und Grüne absoluten Vorrang. Beide sind entschlossen, den Haushalt zu konsolidieren, um "die Schuldenbremse einzuhalten". Bis 2017 sollen daher bei den Ausgaben jährlich eine Milliarde Euro eingespart werden. "Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ist unser Ziel", heißt es im Vertrag. Dazu müssten "nachhaltig" Personal- und Sachkosten "optimiert" und "Effizienzgewinne realisiert" werden.

So sollen beispielsweise sukzessive 500 Lehrerstellen an Berufskollegs gestrichen werden. Zu Personalabbau wird auch die Zusammenlegung oder Schließung von Verwaltungsstandorten und die Suche nach "Einsparmöglichkeiten" in den Landesbetrieben führen. Allein bei den Förderprogrammen des Landes sollen mehr als 300 Millionen Euro eingespart werden. "Wir werden entscheiden, welche Aufgaben zukünftig noch vom Land wahrgenommen werden sollen", heißt es im Koalitionsvertrag.

Lediglich die Forderung der Grünen nach Streichung von 2.000 Polizistenstellen hat Ministerpräsidentin Kraft persönlich abgelehnt. Das von Ralf Jäger (SPD) geleitete Innenministerium muss nun nach anderen Einsparpotentialen suchen.

Wo und wie genau gespart wird, arbeitet in den kommenden Monaten ein bereits im letzten Jahr von der rot-grünen Landesregierung eingesetztes "Effizienzteam" aus. Es wird von Finanzminister Norbert Walter-Borjan (SPD) geleitet. Außerdem gehören ihm die Fraktionsvorsitzenden von SPD, Norbert Römer, und Grünen, Reiner Priggen, der Finanzstaatssekretär Rüdiger Messal sowie die beiden ehemaligen Staatssekretäre Karlheinz Bentele (früher Präsident des Rheinischen Sparkassen-Giroverbandes) und Manfred Morgenstern an, der gegenwärtig für die Unternehmensberatungsgesellschaft Ernst & Young arbeitet.

"Wir setzen den Konsolidierungskurs konsequent fort", betonte Finanzminister Walter-Borjan. Nach Einsparungen von 620 Millionen Euro im vergangenen Jahr seien in diesem Jahr 750 Millionen Euro vorgesehen. In fünf Jahren würden sich die Einsparungen dann auf eine Milliarde Euro belaufen.

Die Haushaltskonsolidierung soll fast ausschließlich durch Sparmaßnahmen erfolgen. Zusätzliche Einnahmen sieht der Koalitionsvertrag kaum vor, oder er verweist auf den Bund. Grünenfraktionschef Priggen sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: "Alleine kann es das Land nicht schaffen. Ohne Mehreinnahmen vom Bund etwa durch eine Erbschaftssteuer, Vermögensabgabe und einen höheren Spitzensteuersatz haben wir keine Chance, die Nullverschuldung zu schaffen."

Damit ist die Begründung für weitere Kürzungen bereits formuliert. Denn dass die gegenwärtige schwarz-gelbe Bundesregierung den Forderungen aus NRW nicht nachkommen wird, steht fest. Und auch ein Regierungswechsel nach der nächsten Bundestagswahl dürfte daran nichts ändern. SPD und Grüne hatten in ihrer Regierungszeit von 1998 bis 2005 die Steuern gesenkt, deren Erhöhung Priggen jetzt fordert.

Die massiven Kürzungen, die erforderlich sind, um die Schuldenbremse einzuhalten, werden die vagen sozialen Versprechen platzen lassen, die sich im Koalitionsvertrag finden.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Bereits in der letzten Legislaturperiode hatten SPD und Grüne die schrittweise Abschaffung der Gebühren für Kindertagesstätten (Kita) vereinbart. Diese Vereinbarung findet sich nun auch im neuen Koalitionsvertrag wieder. "Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein. Wir werden schrittweise die Elternbeitragsfreiheit in den Kindertageseinrichtungen einführen", heißt es darin.

Die Realität sieht anders aus. Lediglich das letzte Kita-Jahr vor dem Schuleintritt ist seit 2011 beitragsfrei. Der Koalitionsvertrag legt sich weder darauf fest, wann ein weiteres beitragsfreies Kita-Jahr eingeführt wird, noch ob irgendwann einmal die gesamte Betreuung in Kindertageseinrichtungen kostenlos ist. SPD-Fraktionssprecher Ralf Kapschack blieb auf Nachfrage des WDR vage: "Ich halte es für wahrscheinlich, dass es innerhalb der nächsten fünf Jahre zu weiteren Schritten kommen wird."

Wahrscheinlich ist eher, dass die Landesregierung das wenige Geld für die Kinderbetreuung in den Ausbau der Betreuung unter Dreijähriger stecken wird, auf die ab 2013 bundesweit ein Rechtsanspruch besteht. Die verschuldeten Kommunen bauen dafür allerdings kaum neue Betreuungseinrichtungen, sondern werben Tagesmütter an und schulen sie im Schnellverfahren. Während sich der Koalitionsvertrag für die Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde "stark macht", organisieren SPD und Grüne in den Kommunen die Niedriglohnarbeit der meist freiberuflichen Tagesmütter, die pro Kind und Stunde je nach Ausbildung zwischen 2 und 5 Euro erhalten.

Auch der im Koalitionsvertrag gepriesene "Stabilitätspakt Stadtfinanzen", den beide Parteien weiterführen wollen, belastet die Kommunen. Um Geld aus dem Fonds zu erhalten, müssen sie sich - ähnlich wie Griechenland - zu enormen Haushaltskürzungen verpflichten. Die meist von der SPD dominierten Stadträte erhöhen deshalb Kindergartengebühren, schließen Stadtteilbibliotheken, Kinder- und Jugendzentren und streichen Angebote der Kunst- und Musikschulen. Der Stabilitätspakt von Ministerpräsidentin Kraft ist das sozialdemokratische Gegenstück zum europäischen Stabilitätspakt von Bundeskanzlerin Merkel.

Dank ihrer engen Verbindung zu den Gewerkschaften ist die SPD sogar in der Lage, die von den Finanzmärkten geforderten Kürzungen effektiver durchzusetzen. Vom viel beschworenen "Dreiklang" der rot-grünen "Haushaltspolitik der Verantwortung" - "gezielt sparen, in Zukunft investieren, Einnahmen erhöhen" - bleibt nur ein Ton übrig: "gezielt sparen".

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Quelle:
World Socialist Web Site, 16.06.2012
Kraft schwenkt auf Sparkurs ein
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2012