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GLEICHHEIT/3955: David Harvey und die Occupy-Bewegung


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

David Harvey und die Occupy-Bewegung

Von Nick Beams
26. November 2011


Der Geograph und Sozialtheoretiker David Harvey hat in den vergangenen Jahren wegen seiner Schriften und Vorträge über Marx' Kapital eine breite Anhängerschaft gewonnen.

Dies verwundert kaum in Zeiten, in denen der Bankrott theoretischen Denkens grassiert, und in denen ein Kolumnist wie Paul Krugman (Economist und New York Times) als "Linker" und bei manchen sogar als Sozialist durchgehen kann. Mangelnde Kenntnis der marxistischen politischen Ökonomie führt dazu, dass Harveys Werk im Allgemeinen unkritisch akzeptiert wird.

Eine Analyse seiner Schriften bis hin zu seinem Buch "Limits to Capital" (1982, Neuauflage 2006) wird zeigen, dass Harvey zu jenen gehört, die versuchen, Marx' Theorien mit der bestehenden Ordnung in Einklang zu bringen.

An dieser Stelle kann Harveys Werk keiner ausführlichen Rezension unterzogen werden. Aber seine Reaktion auf die Occupy-Bewegung verschafft schon einen Einblick in die Grundlagen seiner politischen Ökonomie. In theoretischer Hinsicht besteht das Hauptmerkmal seiner Arbeit darin, dass er versucht, die Widersprüche des Kapitalismus, die Marx zufolge die objektiven Bedingungen für seinen Sturz schaffen, abzumildern, wenn nicht gar ganz zu überwinden.

Diese theoretische Perspektive findet ihren Ausdruck in Harveys Haltung in der Occupy-Bewegung. Er vertritt die Ansicht, dass kraftvolle Proteste dazu benutzt werden könnten, die schlimmsten Exzesse des Kapitalismus abzumildern.

Vor über hundertfünfzig Jahren betonte Marx, dass es nötig sei, zwischen der Arbeiterklasse und den "demokratischen Kleinbürgern" zu unterscheiden. Das Interesse der Arbeiterklasse richtet sich auf die Umwandlung der gesamten Gesellschaft, während die "demokratischen Kleinbürger" nur auf eine Änderung der sozialen Bedingungen hoffen, um die bestehende Gesellschaft für sich erträglicher und bequemer zu gestalten. Harvey spricht für letztere.

In einem am 28. Oktober veröffentlichten Kommentar mit dem Titel "Rebellen der Straße: Die Wall-Street-Party trifft auf ihren Erzfeind" prangert Harvey "die absolute Macht des Geldes" an, die darin besteht, "absolut zu herrschen". Das sind kaum neue Einsichten. Schließlich sagte schon Mark Twain: "Es gibt nur eine uramerikanische kriminelle Klasse, das ist der Kongress", und auch: "Wir haben den besten Kongress, der für Geld zu haben ist".

Natürlich entlarvt jeder Marxist die "Geldpolitik", wo er kann, und zeigt auf, wie die parlamentarische Demokratie wirklich funktioniert. Aber der Marxismus geht weit darüber hinaus und betont, dass auch die demokratischste Republik letztendlich eine politische Form der Diktatur des Finanzkapitals ist.

In "normalen" Zeiten arbeiten kleinbürgerliche Politiker und Gewerkschaftsbürokraten daran, diese Wahrheit zu verschleiern. Sie verbreiten Mythen und Illusionen über den "demokratischen Prozess". Allerdings reißen die Finanzkrise und die Regierungen aller Welt diesen "demokratischen" Schleier gerade herunter.

In ganz Amerika macht die Bevölkerung zurzeit die praktische Erfahrung, dass die milliardenschweren Banken-Bailouts auf Kosten der Arbeitsplätze und des Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung gehen. Gerade die Obama-Regierung ist vorneweg dabei, wenn Löhne und Arbeitsplätze angegriffen und die öffentlichen Dienstleistungen beschnitten werden. Diese Erfahrung haben nicht zuletzt die Automobilarbeiter gemacht. Sie bestätigt als unbestreitbare Tatsache Marxens Einschätzung im Kommunistischen Manifest: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet."

Was immer in Europa an parlamentarischer Demokratie noch vorhanden war, ist in Griechenland und Italien mit der Ernennung von "technokratischen" Regierungen aufgegeben worden. An der Spitze dieser Regierungen stehen heute ehemalige Angestellte von US-Banken, die das Diktat des Finanzkapitals zur Verarmung der Arbeiterklasse durchsetzen sollen.

Diese Erfahrungen haben sich in das Bewusstsein von Millionen von Menschen eingebrannt. Sie bestätigen kraftvoll die Richtigkeit der marxistischen Analyse, dass ein bürgerlich-parlamentarisches System die Diktatur des Finanzkapitals nicht überwinden kann. Dies kann nur geschehen, wenn eine sozialistische Massenbewegung eine Arbeiterregierung an die Macht bringt. Diese muss die "Kommandohöhen" der Wirtschaft besetzen und Finanzhäuser, Banken und Großkonzerne in öffentlichen Besitz überführen und unter demokratische Kontrolle stellen. Nur so dienen die wirtschaftlichen Ressourcen dem Wohle der Gesellschaft als Ganzer.

Eine solche Perspektive erscheint der großen Masse zuweilen als unrealistisch. Ausnahmen sind nur die bewusstesten Elemente der Arbeiterklasse und der arbeitenden Bevölkerung. Heute jedoch, nach den Erfahrungen der vergangenen vier Jahre, kann sie von Millionen verstanden werden. Zu genau diesem Zeitpunkt kommt Harvey ins Spiel und versucht, die schlimmsten Illusionen in das gegenwärtige politische Regime zu schüren.

Harvey will die gegenwärtige Diktatur des Finanzkapitals nicht stürzen, sondern eine Bewegung entwickeln, die Druck auf sie ausübt, damit ihre Vertreter endlich "zuhören". "Da die 'Geldmacht' sämtliche Ausdrucksmöglichkeiten verbaut hat", schreibt Harvey, bleibe der Bewegung "keine andere Wahl, als die Parks, Plätze und Straßen unserer Städte zu besetzen, bis man auf unsere Meinung hört und sich um unsere Bedürfnisse kümmert".

Harvey zufolge müssen die Privilegien der Konzerne zurückgeschraubt, öffentliche Güter wie Gesundheitsfürsorge und Erziehung vom Staat kostenlos zur Verfügung gestellt, Medienmonopole abgeschafft, die Privatisierung von Wissen und Kultur gestoppt und die Freiheit, andere auszubeuten und zu enteignen, "ernsthaft eingeschränkt und schließlich gesetzlich abgeschafft" werden.

Wie sollen diese Ziele erreicht werden? Harvey schreibt: "Angesichts der organisierten Partei der Wall Street (...) darf die entstehende Bewegung sich grundsätzlich nicht spalten oder ablenken lassen, bis die Wall Street entweder zur Vernunft gebracht oder in die Knie gezwungen wird. Nur so kann das Wohl der Gesellschaft über korrupte Einzelinteressen gestellt werden."

Mit anderen Worten: Für Harvey besteht das wesentliche Problem darin, dass die Vertreter des Finanzkapitals in der Demokratischen und der Republikanischen Partei den ungeheuren Schaden, den ihre Politik anrichtet, nicht verstehen. Die Aufgabe besteht also darin, sie zur Vernunft zu bringen.

Aber das Gegenteil ist der Fall. Die führenden Figuren des Finanzkapitals und ihre politischen Lakaien verstehen sehr wohl, was der Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung seit der Finanzkrise von 2007-2008 bedeutet: Soll das Profitsystem aufrecht erhalten werden, dann gibt es keine Alternative zur Verarmung der Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten und der ganzen Welt.

In einer Ansprache an Occupy London hat Harvey seine Perspektive weiter ausgeführt. Er stellte klar, dass die gegenwärtige Krise für ihn nicht dem Zusammenbruch der kapitalistischen Ökonomie entspringt, sondern der Anwendung falscher Politik unter dem Banner des Neoliberalismus. Folglich könne das, was er als "Thatcherismus" bezeichnet, rückgängig gemacht werden, wenn nur genug Druck ausgeübt werde.

In der Vergangenheit, so behauptet Harvey, war das Kapital gezwungen, einen Teil der Kosten, die es der Gesellschaft auferlegte, durch Steuern zu schultern, mit denen es das öffentliche Gesundheitswesen und den Erziehungssektor finanzierte. Dies habe Thatcher abgeschafft, und ihre politische Linie sei von allen ihren Nachfolgern weitergeführt und vertieft worden.

Die politische Perspektive der Occupy-Bewegung, so erzählte er dem Londoner Publikum, müsse es sein, "Schluss mit dem zu machen, was Thatcher begonnen hat, und es vollständig rückgängig zu machen. In anderen Worten: Was wir brauchen, ist ein politisches Programm zur Beendigung der gesamten Thatcher-Ära, weil sie bis heute nicht aufgehört hat." Die politische Aufgabe, vor der die Bewegung stehe, sei es, "das Kapital zu zwingen, all die Kosten zu tragen, die es nicht tragen will".

Für Harvey ist dies eine alte Leier. Für ihn wurzelt der Neo-Liberalismus oder Thatcherismus nicht in der objektiven Krise des Kapitalismus, sondern in einer willkürlichen Politik. In seinen Büchern "The New Imperialism" und "A Brief History of Neo-Liberalism", 2003 und 2005 veröffentlicht, verlangte er, die neokonservative Politik der Bush-Administration durch einen "New Deal" nach dem Vorbild der Roosevelt-Regierung in den 1930ern zu ersetzen.

Wie Harvey damals demonstrierte, wurde diese Perspektive in direkter Gegnerschaft zu jenen entwickelt, die die Arbeiterklasse zum Sturz des Kapitalismus mobilisierten.

Er setzte sich für etwas ein, was er als "New-Deal-Imperialismus" bezeichnete, und schrieb: "Es gibt natürlich weitaus radikalere Lösungen, die im Verborgenen schlummern, aber der Kampf für die Konstruktion eines neuen 'New Deal', angeführt von den USA und Europa, sowohl im Inland wie auch international (...) ist unter den gegenwärtigen Gegebenheiten mit Sicherheit ausreichend." (The New Imperialism, Oxford University Press 2003, S. 210, aus dem Englischen)

Acht Jahre später vertritt Harvey immer noch die gleiche organische Ablehnung eines unabhängigen politischen Kampfes der Arbeiterklasse für Sozialismus. Er geht davon aus, dass in der gegenwärtigen Ordnung Kräfte gefunden werden können, die eine neue Politik ermöglichen.

Harvey sagte der Londoner Occupy-Versammlung: "Also ja, stürzt David Cameron. (...) Aber das schafft ein Problem, und das lautet: Wenn ihr David Cameron stürzt, dann sollte da jemand auf der anderen Seite sein, der das tut, was ihr wollt. Aber den gibt es nicht. Wir müssen also eine politische Kraft bilden, die jemanden auf der anderen Seite zwingt, das zu tun, was ihr verlangt, und das bedeutet: von dieser gewaltigen Ungleichheit des Wohlstandes wegzukommen, sich um die Umweltkatastrophen zu kümmern und etwas radikal anderes zu tun, um den Thatcherismus zu beenden."

Harveys Orientierung lässt keinen Zweifel zu: Die Occupy-Bewegung müsse in Großbritannien einem "Linken" in der Labourpartei untergeordnet werden, und in den USA müsse sie sich in der Demokratischen Partei einnisten. Dies sind genau die Kräfte, die für die Durchsetzung der brutalen Sparpolitik der Bourgeoisie verantwortlich sind.

Harvey hat sich als Analytiker marxistischer Politökonomie und scharfer Kritiker des Kapitalismus einen Namen gemacht. Dieses politische Kapital nutzt er jetzt, um die Occupy-Bewegung zu kastrieren und sie der aktuellen Politik und damit der Diktatur des Finanzkapitals unterzuordnen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 26.11.2011
David Harvey und die Occupy-Bewegung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. November 2011