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GLEICHHEIT/3816: IWF-Chefin warnt vor erneutem Finanzzusammenbruch


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

IWF-Chefin warnt vor erneutem Finanzzusammenbruch

Von Barry Grey
31. August 2011


In einer Ansprache am Samstag warnte die Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, vor einer neuen globalen Finanzkrise. Sie hielt ihre Rede bei dem jährlichen Treffen von Zentralbankfunktionären, Wirtschaftswissenschaftlern und internationalen Finanzbeamten, zu dem die Federal Reserve Bank von Kansas City ins Wintersportgebiet Jackson Hole in den Rocky Mountains (Wyoming) eingeladen hatte.

Indem sie auf die jüngsten Entwicklungen anspielte - den starken Einbruch des amerikanischen und europäischen Wirtschaftswachstums, die wachsende Staatsschuldenkrise Europas, das schwindende Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Großbanken Italiens, Frankreichs und anderer Länder - sagte Lagarde: "Die Entwicklungen dieses Sommers zeigen an, dass wir uns in einer gefährlichen neuen Phase befinden. Wir wissen, was auf dem Spiel steht: die schwache Erholung droht zu entgleisen. Wir müssen jetzt handeln."

Lagarde schien andeuten zu wollen, dass das globale Finanzsystem wahrscheinlich einen erneuten Zusammenbruch erleiden werde, ähnlich dem Zusammenbruch der Wall Street vom September 2008, falls nicht schnelle, koordinierte und entschlossene Maßnahmen ergriffen würden, um das Wachstum zu fördern und die hochverschuldeten Länder und instabilen Banken zu stützen.

Sie behauptete, "das Risiko einer Verschlechterung der Weltwirtschaft" wachse und werde "durch Vertrauensschwund verschärft." Sie deutete an, dass die Wirtschaft sich einem Punkt nähere, an dem eine unkontrollierte Abwärtsspirale einsetze. Die IWF-Direktorin erklärte: "Wenn das Wachstum weiterhin seinen Schwung verliert, werden die Bilanzprobleme sich verschlimmern, die fiskalische Nachhaltigkeit wird gefährdet und die politischen Instrumente zur Stützung der Erholung werden wirkungslos bleiben."

Europa vor Augen, sagte sie: "Die Banken brauchen dringend eine Rekapitalisierung. Sie müssen stark genug sein, um den Risiken standzuhalten, die von den Staatsschulden und von einem schwachen Wachstum ausgehen. Dies ist entscheidend, damit eine Ansteckung verhindert wird. Handeln wir nicht entsprechend, werden wir erleben, wie die Wirtschaftsschwäche auf die Kernländer übergreifen wird, vielleicht sogar als lähmende Liquiditätskrise."

Die Erwähnung der Liquiditätskrise nahm implizit Bezug auf die Situation, die sich infolge des Zusammenbruchs von Lehman Brothers am 15. September 2008 entwickelte, als Banken und Konzerne wegen des vollständigen Vertrauensverlustes in die Finanzmärkte keine Kredite für ihren normalen Betrieb mehr erhielten.

Lagarde forderte ein verbindliches Rekapitalisierungsprogramm für die europäischen Banken, welches, falls notwendig, mit öffentlichen Mitteln finanziert werden soll. Sie schlug vor, gefährdeten Banken aus der Eurozone Mittel aus der mit 440 Milliarden Euro ausgestatteten Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität zukommen zu lassen, welche gegründet wurde, um Griechenland und andere hochverschuldete Länder wie Irland und Portugal zu sanieren.

In den letzten Wochen hatten Großbanken, darunter Frankreichs zweitgrößte Bank, die Société Générale und die italienische UniCredit, Schwierigkeiten gehabt, Finanzierungen zu erhalten. Diese Banken sind schwerwiegend mit Staatsanleihen aus Griechenland und anderen gefährdeten Ländern belastet und fürchten, einen Ausfall dieser Darlehen nicht verkraften zu können. Ihre Aktienkurse sind rasant gesunken.

Die Financial Times berichtete am Samstag über eine Analyse von Morgan Stanley, die herausfand, dass die Finanzierung der Banken in den vergangenen drei Monaten erheblich zurückgegangen sei und dass "die Kosten für die Banken erheblich höher ausfallen werden, sobald die Märkte im September wieder öffnen." Das Blatt zitierte einen Zentralbankfunktionär, der sagte; "In einigen Ländern hatten die Banken in den vergangenen Wochen Schwierigkeiten gehabt, ihre Liquidität zu sichern und der Druck nimmt weiter zu."

Blick nehmend auf die USA beklagte Lagarde die schwächelnde Wachstumsrate der US-Ökonomie und forderte Maßnahmen, um die Langzeitarbeitslosigkeit zu mindern und den fortgesetzten Fall der Immobilienpreise aufzuhalten. "Angesichts fallender Immobilienpreise, weiterhin stagnierendem Verbrauch und anhaltender wirtschaftlicher Unsicherheit gibt es einfach keinen Spielraum mehr für Halbheiten oder Verzögerungen", erklärte sie.

Sie appellierte an die Obama-Regierung, notleidenden Hauseigentümern Hilfe zukommen zu lassen: entweder in Form einer Reduzierung ihrer Hypothekenkreditsumme oder indem privaten Haushalten, deren Hypothekenschuld höher ist als der Marktpreis ihrer Häuser, die Refinanzierung auf Grundlage der gegenwärtigen Ramschpreise ermöglicht wird.

Während sie für weitere vom Steuerzahler getragene Bankenrettungen und scharfe Einschnitte in die Gesundheits- und Rentenprogramme eintrat, die sich mittel- und langfristig auswirken, sprach sie sich gegen kurzfristige drastische Sparmaßnahmen und für bescheidene Maßnahmen aus, um die Verbrauchernachfrage zu stimulieren. Sie forderte einen "doppelten Focus": "Es müssen nicht notwendig sofort weitere drastische Sparmaßnahmen eingeleitet werden. Nehmen die Länder langfristige fiskalische Risiken wie wachsende Rentenaufwendungen oder Ausgaben für die Gesundheitsversorgung in Angriff, werden sie in kurzer Zeit mehr Spielraum haben, um Wachstum und Arbeitsplätze zu fördern."

Der düstere Ton der Bemerkungen Lagardes scheint die Sorge des Finanzestablishments widerzuspiegeln, dass sich in den kommenden Wochen weitere Verschlechterungen der Zustände auf den Finanzmärkten ergeben könnten. Weltbankpräsident Robert Zoellick schien Lagardes Ausführungen zuzustimmen und zeigte sich besorgt, die Ereignisse dieses Herbstes "könnten zu Marktherausforderungen führen, welche über die drei kleinen Länder hinausgehen und auf größere Länder oder EU-Banken übergreifen."

Sowohl in Ton als auch Inhalt unterschieden sich Lagardes Ausführungen deutlich von den Äußerungen Ben Bernankes, des US-Notenbankpräsidenten, der am Freitag seine Rede hielt und denen Jean-Claude Trichets, des Präsidenten der Europäischen Zentralbank, der am Samstag sprach.

Bernanke versuchte, den Märkten zu versichern, dass das Wirtschaftswachstum der US-Wirtschaft trotz einer unerwarteten Verlangsamung in diesem Frühjahr und Sommer, gesund voranschreite und sich in der kommenden Periode beschleunigen werde. Nur indem er praktisch alle Zeichen eines globalen Wachstumsrückgangs ignorierte und die Zuspitzung der europäischen Staats- und Bankenkrise, die Anzeichen einer neuen Bankenkrise in den USA und die Konsequenzen aus der Anfang des Monats erfolgten Herabstufung der amerikanischen Kreditwürdigkeit durch die Ratingagentur Standard & Poor's kaum würdigte, konnte er diese rosige Prognose stellen.

Trichet vermied in seinen vorbereiteten Ausführungen jeden direkten Bezug zur gegenwärtigen Krise in Europa. Nichtsdestoweniger wies er Lagardes Warnung vor einer möglichen Liquiditätskrise öffentlich zurück. Er sagte: "Die Vorstellung, wir könnten in Europa ein Liquiditätsproblem bekommen", sei "schlichtweg falsch."

Lagardes Rede wurde bereits von EU-Beamten und Zentralbankfunktionären zurückgewiesen. Die Financial Times berichtete am Sonntag: "EU-Beamte griffen Christine Lagarde am Sonntag an und beschuldigten die IWF-Direktorin, einen 'konfusen' und 'unangebrachten' Anschlag auf die Gesundheit der europäischen Banken verübt zu haben."

Der Artikel zitierte einen namentlich nicht genannten "erfahrenen Zentralbanker", der sagte: "Über Kapital zu reden ist eine bestürzende Botschaft. Politiker, Regulierungsbehörden und andere Funktionäre - alle sind sehr beunruhigt."

Diese Kritik wird zum Teil von der Furcht getragen, die düsteren Einschätzungen der IWF-Chefin könnten Bankinvestoren vertreiben, zu einem erneuten Ansturm auf Bankaktien führen und einen weiteren Anstieg der Kreditvergabekosten sowie des Preises der Kreditausfallversicherungen von großen Banken antreiben. Die Kosten der Versicherungen von europäischen Bankschulden haben bereits ein Allzeithoch erreicht, welches sogar die Kosten aus der Periode, die zum Finanzzusammenbruch von 2008 führte, übersteigt.

Aber die öffentlichen Streitigkeiten reflektieren auch die tiefen Risse innerhalb der globalen Finanzelite hinsichtlich der Handhabe der Krise. Lagarde, frühere Finanzministerin in der französischen Regierung, wurde erst vorigen Monat Direktorin des IWF, nachdem Dominique Strauss-Kahn infolge seiner Anklage in New York wegen sexueller Vergehen von dem Chefposten zurücktreten musste. Die Anklage gegen Strauss-Kahn wurde inzwischen zurückgezogen.

Die meisten europäischen Banken opponieren aufs heftigste gegen eine verbindliche Rekapitalisierung. Amerikanische Banken haben eine wütende Lobbyarbeit gegen jegliche Gesetzgebung initiiert, die sie zu einer Reduzierung ihrer Hypothekenkreditsumme oder zu deutlich niedrigeren Zinseinnahmen auf Immobilienkredite zwingen könnte.

In Europa widersetzt Deutschland sich allen Maßnahmen, die es dazu nötigen würden, den Löwenanteil der Summen aufzubringen, die zur Rettung hochverschuldeter Länder oder kollabierender Banken erforderlich sind. Auch Kapitalspritzen der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität an Banken werden von Deutschland abgelehnt.

Lagardes Appell, sofortige und koordinierte Maßnahmen zu ergreifen um dem weiteren Abstieg in Richtung vollständiger Depression entgegen zu wirken, hat wenig Aussicht erhört zu werden. Hinzu kommt, dass ihre Rezepte sich im Prinzip nicht von jenen unterscheiden, die sofortige und drastischere Sparmaßnahmen fordern. Es mag Unterschiede geben im zeitlichen Ablauf und der Taktik, aber alle sind sich darin einig, dass die Kosten der Krise von der Arbeiterklasse getragen werden müssen.

Fast drei Jahre nach dem Crash vom September 2008 ist deutlich geworden, dass weder eine Lösung gefunden wurde, noch eine echte Erholung stattgefunden hat. Lagarde selbst machte deutlich, dass die Plünderung der Nationalvermögen, um die Banken zu retten, nur die Nationalstaaten in den Bankrott getrieben hat: "Aber heute sind es die Staatsbilanzen selbst, die in der Schusslinie sind", sagte sie. Jetzt greift die Staatsschuldenkrise über auf die Banken, deren Insolvenz mit Billionenüberweisungen des Staates nur verdeckt werden konnte.

Der Missbrauch der Krise für Angriffe auf Jobs, Löhne und die sozialen Bedingungen der Arbeiterklasse hat vielmehr alle Aussichten auf ein reales Wirtschaftswachstum untergraben. Die Antwort der internationalen herrschenden Klasse und ihrer politischen Repräsentanten, darunter der Obama-Regierung in den Vereinigten Staaten, ist eine Intensivierung der Angriffe auf den Lebensstandard der arbeitenden Menschen.

Die einzige echte Lösung kommt von unten - in Form einer vereinten Aktion der Arbeiterklasse gegen das kapitalistische System und seine politischen Parteien und fußt auf dem Kampf für ein revolutionäres sozialistisches Programm.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 31.08.2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2011