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GLEICHHEIT/3785: Größte Demonstration in der Geschichte Israels


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Größte Demonstration in der Geschichte Israels

Von Jean Shaoul
9. August 2011


Letzten Samstag gingen in Israel über eine Viertelmillion Menschen auf die Straße. Sie protestierten gegen steigende Lebenshaltungskosten und Mietpreise, die es der arbeitenden Bevölkerung unmöglich machen, über die Runden zu kommen. Diese Demonstration stellte den größten Sozialprotest der Geschichte Israels dar. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wäre dies in den Vereinigten Staaten eine Demonstration von zehn Millionen Menschen, in Großbritannien eine von zwei Millionen Menschen gewesen.

Die größte Kundgebung fand in Tel Aviv statt; an ihr beteiligten sich über zweihunderttausend Jugendliche, Arbeiter, Rentner und Familien. Sowohl Aschkenasim [Juden mitteleuropäischer Herkunft] als auch Mizrachim [nordafrikanischer und nahöstlicher Herkunft] demonstrierten unter der Parole: "Die Regierung hat das Volk im Stich gelassen". Auf den Transparenten war zu lesen: "Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit" und "Eine ganze Generation fordert eine Zukunft".

In Jerusalem gingen mindestens dreißigtausend Menschen auf die Straße. Ein Demonstrationszug marschierte zum Anwesen von Premierminister Benjamin Netanjahu. In Be'er Scheva, Haifa und so genannten "Entwicklungs"- oder Slumstädten, wie Kirjat Schmona, Aschkelon und Dimona, fanden kleinere Protestveranstaltungen statt.

In Taibeh bauten palästinensische Aktivisten eine Zeltstadt auf, die Hunderte von Besuchern anzog, und vor den westgaliläischen Dörfern Yarka und Julis haben einige Jugendliche, die zur Religionsgemeinschaft der Drusen gehören, Zelte errichtet.

Eindrucksvoll war, wie die Demonstrationsteilnehmer Vergleiche mit den Massenbewegungen anstellten, die sich in arabischen Ländern ausbreiten, besonders mit denen in Ägypten und Tunesien. Demonstranten trugen Schilder, auf denen sie mit dem Slogan "Hier ist Ägypten!" die Regierung auf Hebräisch und Arabisch zum Rücktritt aufforderten. Den Habimah-Platz in Tel Aviv bezeichneten sie als Netanjahus Tahrir-Platz.

Die Demonstrationen haben vor vier Wochen mit einem Aufruf auf Facebook zu einer Zeltstadt-Protestveranstaltung in Tel Aviv begonnen; Anlass waren die hohen Mietkosten. Rasch breiteten sich die Proteste auf das ganze Land aus. Treibender Motor ist die allgemeine Wut auf das Dutzend Milliardärsfamilien, die zusammen eine Monopolstellung über Israels Wirtschaft ausüben. Die Bewegung kommt einem lautstarken Aufschrei gegen die israelische Proteksia gleich, womit das Herrschaftssystem mittels Geld und Beziehungen bezeichnet wird.

Am Sonntag fiel der israelische Aktienmarkt um sieben Prozent, nachdem seine Eröffnung um eine Dreiviertelstunde verzögert worden war, um Panikverkäufe zu vermeiden. Die Händler reagierten damit sowohl auf die Herabstufung der amerikanischen Kreditwürdigkeit durch Standard & Poor's als auch auf die Furcht vor Folgen der Proteste in Israel.

Die Demonstranten haben ihre Forderungen ausgeweitet: Sie fordern jetzt die Einstellung der marktwirtschaftlichen Reformen und der Kürzen im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich. Die israelische Nationale Studentenvereinigung fordert eine Ausweitung des kostenlosen Zugangs zu Bildung und mehr Geld für staatlichen Wohnungsbau.

Neu und bemerkenswert war, dass die Demonstranten zwei Forderungen der palästinensischen Bevölkerung Israels übernahmen: erstens die staatliche Anerkennung von nicht anerkannten Dörfern im ganzen Land, speziell der Beduinensiedlungen in der Wüste Negev, und zweitens die Bewilligung von Masterplänen, die den Palästinensergemeinden einen größeren Einfluss und erweiterte Bautätigkeit ermöglichen.

Letzten Donnerstag demonstrierten Eltern in Tel Aviv, Ariel, Herzlia und anderen Städten gegen die hohen Kosten für Babynahrung, Windeln und Kindergartenplätze - kurz all dessen, was man für Kinder braucht. Zur gleichen Zeit demonstrierten Schüler und Studenten vor dem Tel Aviver Sitz des Bildungsministers. Aus Protest gegen das neue Wohnungsgesetz stellten die Demonstranten auch dort Zelte auf. Das neue Gesetz erleichtert es Bauherren durch schnellere Baugenehmigungen noch mehr, große, teure Wohnungen zu bauen.

Außerdem befinden sich die Ärzte der städtischen Krankenhäuser seit fünf Monaten im Streik gegen zu niedrige Bezahlung und zu lange Arbeitszeiten. Die Regierung und die Ärztegewerkschaft versuchen verzweifelt, den Streit beizulegen, damit er sich nicht zu einer größeren Streikbewegung gegen die Regierung entwickelt. In mehreren Krankenhäusern drohten die Ärzte mit Massenkündigungen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden.

Diese Woche erklärte sich die Regierung bereit, zusätzlich eintausend Stellen zu schaffen und Ärzten bis zu 300.000 NIS (Neue Israelische Schekel, 60.000 Euro) zu zahlen, wenn sie in Außenbezirke ziehen oder sich auf besonders gesuchte Spezialgebiete verlegen.

Die Proteste gewinnen zwar an Fahrt, aber ihre Hauptanführer lehnen es ab, direkte politische Forderungen aufzustellen und die Proteste unmittelbar gegen die Regierung von Premierminister Netanjahu zu richten. Stav Shafir, einer der Gründer der Zeltstadt in Tel Aviv, sagte in einem Interview mit dem israelischen Fernsehen: "Wir fordern keinen neuen Premierminister. Wir fordern Veränderungen am System."

Netanjahus Koalitionsregierung steht vor einer großen politischen Krise. Als Oberhaupt der rechtesten Regierung in Israels Geschichte ist Netanjahu auf die Unterstützung von Außenminister Lieberman angewiesen. Avigdor Lieberman vertritt die ultrarechte Partei Jisrael Beitenu (Israel unser Zuhause).

Netanjahu hat klargestellt, dass seine Regierung keineswegs vorhat, echte Zugeständnisse an die Demonstranten zu machen. Er reagierte mit einigen Kurskorrekturen und vagen Reformversprechen, sowie einem Lob für das Nationale Wohnungsbaukomiteegesetz, das die Knesset am Mittwoch verabschiedete, und das er als Lösung der Wohnungskrise darstellte. Die Demonstranten lehnten dies alles wütend ab.

Der Gewerkschaftsbund Histadrut spielt dabei eine besonders perfide Rolle. Erst wurden mehrere, für den 1. August geplante Streiks gegen Sozialkürzungen abgesagt, dann rief Generalsekretär Ofer Eini zu einem eintägigen Streik der städtischen Angestellten auf. Was Eini als Ausdruck der Solidarität mit den Protesten bezeichnete, hatte aber nicht das Geringste mit einem Kampf gegen die Regierung zu tun, sondern sollte die wachsende Bewegung abwürgen und unter gewerkschaftliche Kontrolle bringen. Eini sagte in einem Radiointerview ausdrücklich, er wolle auf keinen Fall die Regierung stürzen.

Angesichts der Tatsache, dass die Arbeiter einer ultrarechten Regierung gegenüberstehen, die entschlossen ist, keine Zugeständnisse an die Arbeiterklasse zu machen, kommt das dem Eingeständnis gleich, dass Eini und seine Gewerkschaft einen Kampf der Arbeiterklasse nicht führen, sondern sabotieren wollen.

Der Premierminister hatte es abgelehnt, sich mit den Anführern der Proteste zu treffen oder ihre Forderungen anzuhören. Stattdessen verwies er sie auf ein "Dialogteam", das bis Mitte September einen Plan ausarbeiten würde. An der Spitze dieses Teams steht der israelische Ökonom und Harvard-Absolvent Manuel Trajtenberg. Netanjahu stellte "einschneidende Veränderungen" in Aussicht, warnte aber, er sei "nicht in der Lage, es allen recht zu machen".

Es besteht durchaus die Gefahr, dass Netanjahus Regierung auf ihre übliche Taktik zurückgreift, durch eine Provokation gegen die Palästinenser oder einen arabischen Nachbarstaat von der wachsenden sozialen Unruhe abzulenken. Israelische Truppen haben vor kurzem provokante Überfälle in Gaza durchgeführt, bei denen mindestens zwei Menschen getötet wurden, und in der Westbank mehrere Menschen verhaftet, wodurch sich die Spannungen in der Region erhöht haben.

Seit einigen Monaten setzen Lieberman und seine Verbündeten in Netanjahus Likudpartei immer neue undemokratische Gesetze durch, die sich gegen die palästinensische Bevölkerung richten, sowie gegen jene, die eine Friedensvereinbarung mit den Palästinensern und Redefreiheit fordern. Eines dieser Gesetze ist das Nakba-Gesetz, das staatliche Förderung für Gruppen verbietet, die den israelischen Unabhängigkeitstag als "Katastrophe" (arabisch Nakba) bezeichnen, wie es die Palästinenser tun.

Ein weiteres Gesetz stellt die Teilnahme von Israelis an Boykotten gegen Israel oder gegen israelische Siedlungen unter Strafe. Darauf soll eine Geldstrafe von bis zu 10.000 Dollar stehen. Noch ein anderes Gesetz sieht vor, dass Bürgern, die der Spionage gegen den Staat schuldig gesprochen werden, die Staatsbürgerschaft aberkannt wird.

Es gibt zurzeit Bestrebungen, die arabische Sprache, die Muttersprache von 1,8 Millionen gebürtigen Palästinensern in Israel, nicht mehr als Amtssprache neben Hebräisch und Englisch zu führen. Rechte Kräfte versuchen außerdem, die internationale Finanzierung von Menschenrechtsorganisationen zu verbieten, die im Goldstone-Bericht der Vereinten Nationen zitiert werden. Dieser Bericht dokumentiert die Kriegsverbrechen, die Israel im Krieg von 2009 gegen Gaza begangen hat.

Der Beginn des gemeinsamen Kampfs jüdischer und arabischer Arbeiter Israels steht in scharfem Gegensatz zur chauvinistischen Politik der herrschenden Klasse. In einer Situation revolutionärer Kämpfe im ganzen Nahen Osten betont dieser Kampf die Einheit der Arbeiterklasse trotz unterschiedlicher ethnischer und nationaler Gruppen. Die Tatsache, dass diese Kämpfe inmitten einer beispiellosen Krise des Weltkapitalismus ausbrechen, unterstreicht ihre historische Bedeutung.

Genau wie in Ägypten und Tunesien müssen die Arbeiter eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse entwickeln und sich auf den gemeinsamen Kampf der Arbeiter der ganzen Region für sozialistische Politik stützten.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 09.08.2011
Größte Demonstration in der Geschichte Israels
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2011