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GLEICHHEIT/3496: Chinas Angst vor dem "Nil-Fieber"


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Chinas Angst vor dem "Nil-Fieber"

Von John Chan
8. Februar 2011


Die Bilder der Massenproteste der ägyptischen Arbeiter und Jugendlichen in Kairo, die ihre demokratischen Rechte und einen angemessenen Lebensstandard einfordern, weckten beim chinesischen Regime offensichtlich üble Erinnerungen an die Ereignisse vor zwanzig Jahren auf dem Tiananmen-Platz. Aus Angst, der revolutionäre Infekt von Ägypten könnte überspringen, hat Peking seine Internetpolizei angewiesen, das Wort "Ägypten" aus den Blogging Seiten herauszufiltern, um eine aktive Diskussion unter den Millionen chinesischen Internetnutzern zu verhindern.

Die in Hongkong ansässige South China Morning Post erklärte, die Ähnlichkeit zwischen den aktuellen ägyptischen Unruhen und den Ereignissen von 1989 in China seien "zu offensichtlich, um ignoriert zu werden". Der Politologe Liu Junning erklärte der Zeitung die Stimmung in den herrschenden Kreisen Chinas: "Es ist schwer vorstellbar, dass autokratische Regimes, die von politischen Machthabern gesteuert werden, so leicht instabil werden und fast über Nacht gestürzt werden können".

Auf den ersten Blick scheinen Welten zwischen China und Ägypten zu liegen - geografisch, kulturell und wirtschaftlich. Aber wie Gideon Rachman, ein Kolumnist der Financial Times bemerkte: "Es gibt in dem ägyptischen Aufstand Elemente, die in Peking einige Alarmglocken schrillen lassen könnten: eine weit verbreitete Wut über Korruption, die destabilisierende Wirkung der steigenden Nahrungsmittelpreise, Jugendarbeitslosigkeit, die Möglichkeit, über das Internet große Proteste zustande zu bringen, die Kluft zwischen der herrschenden Elite und dem Volk, das sie zu regieren versucht."

Rachman versuchte, seine Leser damit zu beruhigen, dass "es höchst unwahrscheinlich ist, dass der politische Virus, der sich von Tunesien bis nach Ägypten ausgebreitet hat, über Kontinente hinweg nach Asien springt". Aber Rachman hat die tiefe soziale Kluft, den Klassengegensatz und die weit verbreitete Entfremdung vom politischen Establishment haargenau getroffen, die rund um die Welt, in einem Land nach dem anderen und auch in China die Situation bestimmt. Die Aussicht auf einen ähnlichen Aufstand in China, mit seiner hochkonzentrierten Arbeiterklasse von vierhundert Millionen, lässt nicht nur das Blut in den Adern der chinesischen herrschenden Elite gefrieren, sondern auch bei der Finanzaristokratie rund um den Erball, die von den billigen chinesischen Arbeitskräften so extrem abhängig sind.

Dem Wall Street Journal war klar, dass China gegen eine Ansteckung mit dem "Nil-Fieber" nicht "immun" ist. Es erklärte, was gemeint war, mit einer aktuellen chinesischen Video-Animation, in dem sich die Massen, als Kaninchen dargestellt, aus Wut über Korruption erheben und kommunistische Parteibürokraten umbringen. Für den Fall, dass die Inflation weiter zunehme, schreibt das Sprachrohr der Wall Street, "legt die Geschichte nahe, dass sich Chinas Stabilität als Trugbild erweisen könnte".

In vielerlei Hinsicht sind die Klassenspannungen in China ebenso scharf wie in Ägypten. In China leben nach den USA die zweitmeisten Milliardäre der Welt (2010 nahm ihre Zahl um 69 auf 189 zu), während sein Pro-Kopf-Einkommen nur zwei Drittel des ägyptischen beträgt. Die Kluft zwischen arm und reich hat sich durch die stark steigenden Preise von Lebensmitteln und anderen Gütern des tagtäglichen Bedarfs noch verschärft. Junge Menschen, einschließlich der Hochschulabsolventen, haben es immer schwerer, einen Job zu finden. Wie in Ägypten stellen junge chinesische Arbeiter den überwiegenden Anteil der 384 Millionen Internetnutzer im Land, was sie mit einer globalen Perspektive ausstattet. Sie haben heute viel größere soziale Ambitionen als frühere Generationen.

Die Arbeiterklasse ist immer eine internationale Klasse gewesen, die überall mit der gleichen Klassenunterdrückung konfrontiert war. Allerdings hat die globale Integration der Produktionsprozesse in den vergangenen drei Jahrzehnten die Arbeiter rund um den Erdball in beispiellosem Ausmaß zusammen gebracht. In vielen Fällen werden die chinesischen und ägyptischen Arbeiter von den gleichen globalen Konzernen ausgebeutet und von ähnlich repressiven Regimes unterdrückt, die der Wirtschaftselite dienen. Deshalb finden die revolutionären Umwälzungen in Ägypten bei den chinesischen Arbeitern und Jugendlichen einen Widerhall und lösen beim herrschenden Establishment Angst und Schrecken aus.

Das Verweis des Wall Street Journal auf das "Nil-Fieber" erinnert an die panische Furcht vor der "bolschewistischen Infektion", die nach der Machteroberung der russischen Arbeiterklasse im Oktober 1917 unter der bolschewistischen Führung von Lenin und Trotzki die Bourgeoisie auf der ganzen Welt befallen hatte. Genau wie das Beispiel Ägypten heutige Arbeiter inspirieren wird, löste die russische Revolution eine enthusiastische Resonanz unter Arbeitern auf der ganzen Welt, einschließlich Chinas, aus.

Die tragische Niederlage der chinesischen Revolution 1925-27 birgt große Lehren für Arbeiter in Ägypten und international. Die Bolschewiki hatten die russische Arbeiterklasse auf der Grundlage von Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution an die Macht geführt, die die politische Unabhängigkeit des Proletariats von allen Teilen der perfiden nationalen Bourgeoisie betont. In China ordnete Stalin die Arbeiterklasse der bürgerlichen Kuomintang unter, indem er behauptete, diese sei die Führung der chinesischen Revolution. Das Ergebnis war das Massaker der Kuomintang an Arbeitern und Bauern.

Die Ereignisse in China im Juni 1989 enthalten ähnliche Lehren. Auf dem Höhepunkt des Aufstands, als sich Arbeiter den protestierenden Studenten auf dem Tiananmen-Platz und in anderen Städten anschlossen, schien der chinesische Staatschef Deng Xiaoping machtlos zu sein. Er befürchtete, dass die Armee gespalten, er selbst unter Hausarrest gestellt und das Regime zusammenbrechen werde. Aber der Protestbewegung fehlte eine revolutionäre Führung. Anstatt die politische Initiative zu ergreifen, trotteten die Führer der Pekinger Autonomen Arbeiterföderation hinter den kleinbürgerlichen "Demokraten" der Studentenbewegung her, die die tödliche Illusion nährten, dass die Reformer in der Führung der Kommunistischen Partei "demokratische" Zugeständnisse machen würden. Deng nutzte die Atempause, um Truppen und Panzer aus den entlegenen Provinzen zu mobilisieren und die Proteste blutig nieder zu schlagen.

Die ägyptischen Jugendlichen und Arbeiter müssen aus diesen schrecklichen Niederlagen der chinesischen Arbeiterklasse die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Der Kampf für grundlegende demokratische Rechte ist eng mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbunden. Es darf kein Vertrauen in die bürgerlichen Oppositionsparteien, wie die Muslimbruderschaft und Führer wie Mohammed ElBaradei, gesetzt werden, die nicht weniger als die Mubarak-Diktatur die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung verteidigen. Die Arbeiterklasse muss sich auf ihre eigene, unabhängige Kraft verlassen und anfangen, ihre eigenen Organisationen aufzubauen, vor allem eine politische Partei, die für eine Arbeiter-Regierung und sozialistische Politik kämpft.

Chinesische Arbeiter und Jugendliche, die im letzten April und Mai mit ihrer Streikwelle die ersten Schritte unternahmen, können von der Entschlossenheit und dem Mut ihrer Brüder in Ägypten lernen. Die Kämpfe für Demokratie in China und Ägypten dürfen nicht vom Kampf für den internationalen Sozialismus getrennt werden. Für Arbeiter in Ägypten, China und der ganzen Welt besteht die dringende Notwendigkeit, Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) aufzubauen. Nur das IKVI verkörpert alle strategischen Erfahrungen der Arbeiterklasse des vergangenen Jahrhunderts. Es ist die einzige revolutionäre Tendenz auf diesem Planeten, die fähig ist, die internationale Arbeiterklasse an die Macht zu führen und eine soziale Ordnung auf der Grundlage echter sozialer Gleichheit und Demokratie aufzubauen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 08.02.2011
Chinas Angst vor dem "Nil-Fieber"
http://www.wsws.org/de/2011/feb2011/chin-f08.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2011