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GLEICHHEIT/3163: Schweiz - Krise der Konkordanzdemokratie


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Schweiz: Krise der Konkordanzdemokratie
Zum Rücktritt von Bundesrat Leuenberger

Von Leandro Poroli und Marianne Arens
20. Juli 2010


Am Freitag, den 9. Juli, gab Moritz Leuenberger, Bundesrat der Sozialdemokratischen Partei (SP), seinen Rücktritt zum Jahresende bekannt. Leuenberger war im Schweizer Regierungsgremium, dem siebenköpfigen Bundesrat, seit 1995 als Energie-, Umwelt- und Verkehrsminister tätig. Seither hat auch ein zweiter Bundesrat, der FDP-Politiker Hans-Rudolf Merz, inoffiziell angekündigt, in den nächsten Monaten zurückzutreten.

Diese Rücktritte schlagen zwar in der Schweizer Medienlandschaft keine hohen Wellen, doch sie markieren einen tiefen politischen Umbruch. Sie könnten das Ende der legendären so genannten Konkordanzdemokratie in der Schweiz einläuten.

Die Konkordanzdemokratie, bei der die großen Parteien die Regierungsgeschäfte gemeinsam leiten, war die spezifisch schweizerische Form des sozialen Kompromisses, wie er in der Nachkriegsperiode in allen westeuropäischen Ländern vorherrschte. Durch die mühsame Kompromissfindung im Bundesrat - Beschlüsse sind nur einstimmig möglich - sollten die komplexen sozialen, regionalen, sprachlichen und religiösen Gegensätze im Alpenstaat überbrückt und ausgeglichen werden.

Im kommenden Jahr wäre Leuenberger turnusgemäß zum dritten Mal Bundespräsident der Schweiz geworden. Dass der dienstälteste Bundesrat und prominente Sozialdemokrat ohne Angabe von Gründen seinen Rücktritt einreicht, weist auf seine tiefe Frustration über die Regierungsarbeit hin. Die NZZ kommentiert: "Ausschlaggebend für seinen Rücktritt ist Amtsmüdigkeit".

In den letzten Monaten nahmen politische Misserfolge und Skandale zu. Der wachsende Druck der globalen Märkte und Mächte, besonders der USA und der Europäischen Union, macht es der Schweizer Regierung immer unmöglicher, ihre bisherige Sonderrolle aufrecht zu erhalten.

Am 15. Juni stimmte das Parlament einem Staatsvertrag mit den USA zu, der die Herausgabe von Bankdaten von UBS-Kunden regelt, was einer starken Aufweichung des legendären Bankgeheimnisses gleichkommt. In Leuenbergers eigenem Bereich, der Energiewirtschaft, zwingen bilaterale Verträge mit der EU die Schweiz zur Verständigung mit europäischen Strom- und Gaskonzernen.

In den letzten Wochen und Monaten brachten zahlreiche Skandale den Bundesrat in die Schlagzeilen. Ende Juni zeigte ein neuer so genannter Fichenskandal, dass der Geheimdienst trotz früherer Beteuerungen die Bürger immer noch widerrechtlich ausspioniert und "Fichen" (Karteikarten) über sie anlegt. Kein anderer als Leuenberger war vor zwanzig Jahren als Sonderbeauftragter für die Aufklärung des ersten Fichenskandals verantwortlich gewesen.

Besonders kompromittierend ist der Konflikt mit Libyen, in dessen Verlauf zuletzt abenteuerliche Armeepläne durch die Presse geisterten. Ein Sonderkommando der Armee hätte zwei in Libyen festgehaltene Schweizer gewaltsam befreien und entführen sollen. Der Bundesrat war über die Pläne informiert.

Leuenbergers plötzlicher Rücktritt noch vor Ablauf seines Präsidentenjahres 2011 folgt dem Motto: "Nach mir die Sintflut". Es kümmert ihn nicht einmal, dass die rechtspopulistische SVP von Christoph Blocher seinen Sitz im Bundesrat lautstark für sich beansprucht. Die Partei, auf deren Initiative das Minarettverbot zurückgeht, will bei dieser Gelegenheit den knallharten und ultrakonservativen Caspar Baader für den Bundesrat aufstellen.

Damit würde die Sozialdemokratie ihren zweiten Sitz im Bundesrat verlieren, was das Ende der Konkordanzregelung von 1959 wäre. Seit dieser Zeit erhält die Sozialdemokratie immer zwei Sitze im Bundesrat. Der Preis dafür ist ihre Loyalität gegenüber dem bürgerlichen Staat, denn nach dem Kollegialitätsprinzip müssen sämtliche Regierungsmitglieder alle Beschlüsse nach außen hin mit einer Stimme vertreten.


Dramatische Umwälzungen

In der fünfzehnjährigen Ära Leuenberger erlebte die Schweiz dramatische politische und soziale Umwälzungen. In diese Zeit fällt der rasante Aufstieg der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP). Waren die Sozialdemokraten 1995 noch die stärkste Fraktion im Nationalrat, fanden sie sich 2003 weit abgeschlagen hinter der SVP wieder, die fast dreißig Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte.

Es war die Zeit, in der sich die Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung durchsetzten und zu einer wachsenden Verunsicherung beitrugen. Internationale Finanzmärkte und transnationale Konzerne begannen, jeden Bereich der Gesellschaft zu dominieren.

Die staatliche Fluggesellschaft Swissair, für viele Schweizer ein Symbol der nationalen Unabhängigkeit, musste nach Interventionen der Großbanken 2002 liquidiert werden. 2008 stand mit der weltweiten Finanzkrise auch die Schweizer Großbank UBS am Abgrund, weil sie tief in den amerikanischen Spekulationsboom verstrickt war. Sie wurde von Regierung und Nationalbank mit einem Paket von über sechzig Milliarden Schweizer Franken (44 Mrd. Euro) gerettet.

Die Kosten dafür werden wie in jedem Land, so auch in der Schweiz, auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt. So sind Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Not auch hier wieder ein akutes Thema.

Unter diesen Bedingungen brach auch der ideologische Kitt der Gesellschaft auseinander. Der "Bergier-Bericht" entlarvte 2001 die Propaganda von einer demokratischen "Alpenfestung" als Mythos. Der Bericht enthüllte, wie Schweizer Banken und Unternehmen von der Zusammenarbeit mit dem Dritten Reich profitiert hatten, und er bestätigte, dass die Schweizer Regierung in den Jahren 1942-43 Tausende jüdische Flüchtlinge von ihren Grenzen abgewiesen hatte. Mit der Veröffentlichung des Berichts wurde die lange behauptete nationale Schweizer Identität als "neutrale und wehrhafte Demokratie", die der Nazi-Bedrohung aus eigener Kraft getrotzt hatte, widerlegt.


Gespaltene Gesellschaft

Die Schweiz ist heute eine zutiefst gespaltene Gesellschaft. Das Land hat den größten Pro-Kopf-Reichtum der Welt, doch ist dieser höchst ungleich verteilt: Zehn Prozent der Bevölkerung verfügen praktisch über drei Viertel des privaten Vermögens, wie der Wirtschaftswissenschaftler Hans Kissling nachwies. Damit liegt die Schweiz noch vor den Vereinigten Staaten von Amerika.

Der Anteil der Millionäre an der Gesamtbevölkerung ist nur in Singapur und Hongkong höher. Gleichzeitig nimmt die soziale Ungleichheit rapide zu. In den letzten fünfzehn Jahren vollzog sich eine drastische Umverteilung des Vermögens. Zum Beispiel konnte im Kanton Zürich das reichste Prozent der Bevölkerung sein Vermögen um über siebzig Prozent steigern, während das untere Drittel der Steuerpflichtigen überhaupt kein eigenes Erspartes hat.

Laut einer Caritas-Studie von 2006 kann heute jeder siebente Einwohner seine Existenz nicht aus eigener Kraft sichern. Zehn Prozent aller Arbeitsverhältnisse gelten als prekär. Eine Viertelmillion Kinder von Null bis 18 Jahren, das sind ca. zwölf Prozent, leben in armen Haushalten, und jeder sechste alte Mensch gilt als arm.

Von der Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung profitierte vor allem die SVP unter dem Populisten und Multimillionär Christoph Blocher. Unter Beschwörung einer national isolierten, heilen Heidi-Welt mobilisierte sie die rückständigeren Bauern- und Mittelschichten gegen Ausländer und Muslime und trieb so einen Keil in die Arbeiterklasse.

Die Sozialdemokratie von Moritz Leuenberger trägt dafür die volle Verantwortung. Sie setzt der chauvinistischen Hetze der SVP nichts Grundsätzliches entgegen. In dieser ganzen Zeit hat sie absolut nichts unternommen, um die Interessen der Arbeiterschichten und sozial Benachteiligten prinzipiell zu verteidigen.

Sogar als Christoph Blocher 2003 in den Bundesrat aufstieg, wählte die SP nicht den Weg der Opposition, sondern verteidigte nur umso vehementer ihre Sitze in der Regierung. Die heutige Sozialdemokratie hat mit der Arbeiterpartei, die sie vor hundert Jahren war, nicht das Geringste mehr zu tun. Das zeigt ein Blick auf ihre Geschichte.


Historischer Rückblick

Die Geschichte der Sozialpartnerschaft in der Schweiz reicht weit über das letzte halbe Jahrhundert hinaus. Ihre ersten Anfänge gehen auf das Ende des ersten Weltkriegs und den Ausverkauf des Generalstreiks vom November 1918 zurück.

Angespornt durch die russische Oktoberrevolution beschloss die - damals noch dem Marxismus verpflichtete - Schweizer Sozialdemokratie im Jahr 1917, die Kriegskredite und die Militärpflicht abzulehnen. Ihr Führer war Robert Grimm, der Organisator der sozialistischen Kongresse in Zimmerwald (1915) und Kiental (1916), an denen auch Lenin und Trotzki teilnahmen. Letzterer verfasste das "Zimmerwalder Manifest", das die Beendigung des Kriegs forderte und sie mit der Wiederaufnahme des Klassenkampfs und der Machteroberung durch die Arbeiterklasse verband.

Als am Kriegsende die ständig steigenden Lebensmittelkosten und die bittere, weit verbreitete Armut viele Arbeiter auf die Strasse trieben, riefen Grimm und das von ihm gegründete "Oltener Aktionskomitee" am 10. November 1918 einen landesweiten Generalstreik aus.

Sofort besetzte das Militär die größeren Industriestädte, und in Zürich kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Soldaten, die mehrere Todesopfer forderten. Als Reaktion darauf traten bis zu 400.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in den Streik. Genau ein Jahr nach der russischen Oktoberrevolution war das öffentliche Leben in der Schweiz vollkommen lahmgelegt.

Doch Grimm, der mittlerweile die Haltung Lenins und der Bolschewiki zurückwies und jede Gewaltanwendung im Klassenkampf ablehnte, unterzeichnete nach nur vier Tagen die ultimativen Forderungen des Bundesrates und erklärte den Landesstreik für beendet. Die Arbeiter mussten unter militärischer Bewachung in ihre Fabriken zurückkehren. Die Anführer des Streiks, unter ihnen auch Grimm, wurden zu einigen Monaten Haft verurteilt.

In der darauf folgenden Zeit wandelte sich die SP zu einer staatstragenden Partei. Den Beitritt zur Dritten Internationale lehnte sie 1920 ab, worauf einige Mitglieder die Partei verließen und die Kommunistische Partei der Schweiz (KPS), die spätere (stalinistische) PdA, gründeten. Die SP unterstützte sogar die gewaltsame Unterdrückung der sogenannten "Kommunistenkrawalle" von 1929 und weiterer Streiks. Mehrere Gewerkschaften schlossen Kommunisten aus ihren Reihen aus.

1935 verfasste Grimm ein neues SP-Parteiprogramm, das die proletarische Diktatur als Ziel nicht mehr enthielt. 1937 stimmte die Partei offiziell der Landesverteidigung zu, und die von ihr kontrollierten Gewerkschaften akzeptierten den "Arbeitsfrieden", der praktisch einem Streikverbot gleichkam und mit einigen Lohn- und Ferienzugeständnissen erkauft wurde. 1943 trat mit Ernst Nobs der erste sozialdemokratische Bundesrat in die Regierung ein.

Im Jahr 1959, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, wurde die Sozialdemokratie schließlich von allen bürgerlichen Parteien als staatstragende Kraft anerkannt und erhielt auf Dauer zwei Sitze im Bundesrat.

Grundlage dieser Regelung, die faktisch eine Regierung der dauerhaften nationalen Einheit einführte, war der Aufschwung und die wirtschaftliche Stabilität der Nachkriegszeit, die es ermöglichten, die Arbeiterklasse durch Zugeständnisse und Reformen an den Staat zu binden.


Neue Klassenkämpfe

Doch mit der weltweiten Finanzkrise ist diese Periode endgültig vorbei. Die Schweiz hat keine Chance mehr, sich abzuschotten, im Gegenteil: Die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Schweizer Banken sind gewaltig. Die sozialpartnerschaftlichen Abkommen im nationalen Rahmen haben ihre objektive Grundlage verloren.

Trotz Streikverbot nehmen die Arbeitskämpfe zu. Mehrere Bauarbeiterstreiks seit 2002, die Besetzung von SBB Cargo im März 2008 am Gotthard und der jüngste Streik der Flughafenbeschäftigten von Genf-Cointrin sind Vorboten neuer, heftiger Klassenauseinandersetzungen.

Zurzeit bürdet die Regierung mit neuen Sparprogrammen und Kürzungen die ganze Last der Krise den Arbeitern auf. Gleichzeitig stellt die krasse soziale Ungleichheit eine akute Gefährdung demokratischer Verhältnisse dar. An all diesen Prozessen ist die Schweizer Sozialdemokratie aktiv beteiligt.

In dieser Situation wird eine internationale, sozialistische Perspektive immer wichtiger. Sie stützt sich auf die Lehren der Vergangenheit und beinhaltet den Zusammenschluss der Arbeiter mit der Arbeiterklasse in ganz Europa und weltweit.

Siehe auch:
Schweiz: Das Ende der Konkordanzdemokratie
(18. Dezember 2003)
http://www.wsws.org/de/2003/dez2003/schw-d18.shtml


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Quelle:
World Socialist Web Site, 20.07.2010
Schweiz: Krise der Konkordanzdemokratie
Zum Rücktritt von Bundesrat Leuenberger
http://wsws.org/de/2010/jul2010/schw-j20.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2010