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GLEICHHEIT/3127: 2000 Tote und 400.000 Flüchtlinge durch ethnische Pogrome in Kirgisistan


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

2000 Tote und 400.000 Flüchtlinge durch ethnische Pogrome in Kirgisistan

Von Alex Lantier
25. Juni 2010
aus dem Englischen (22. Juni 2010)


Die kirgisische Interimspräsidentin Rosa Otunbajewa hat am Wochenende für das südliche Kirgisistan den Ausnahmezustand erklärt, nachdem sie eingeräumt hatte, dass ethnische Pogrome zwischen dem 10. und 14. Juni 2.000 Opfer gefordert haben - zehnmal soviel wie früher offiziell bekannt gegeben. Zu den Toten kam es hauptsächlich, als ethnische kirgisische Banden Gemeinden von usbekischen Minderheiten in Teilen des südlichen Kirgisistan angriffen, dazu gehörten auch die Städte Osch und Jalalabad.

Am 17. Juni schätzte das Menschenrechtsbüro der UNO, dass 400.000 Menschen oder acht Prozent der kirgisischen Bevölkerung aus ihrer Heimat geflohen sind. Davon 300.000 Flüchtlinge innerhalb Kirgisistans und 100.000 Menschen (die Kinder nicht mitgerechnet), die ins benachbarte Usbekistan geflohen sind. Vor den Auseinandersetzungen betrug die ethnisch-usbekische Bevölkerung von Kirgisistan etwa 700.000, konzentriert vor allem im Süden des Landes.

Viele ethnische Usbeken sind in provisorische Lager entlang der kirgisisch-usbekischen Grenze geflohen; Teile davon sind durch ein Absperrgitter abgeriegelt, das die usbekische Regierung errichtet hat. Mitarbeiter des Roten Kreuzes erklärten, es gäbe einen großen Mangel an Lebensmitteln, Wasser, Unterkünften und Medizin.

Halima Otajonowa, eine Mutter von zwei Kindern im Flüchtingslager Khanabad in Usbekistan erklärte gegenüber der BBC: "Wir brauchen Kleider und medizinische Versorgung, speziell für die Kinder, denn, als wir von zu Hause geflohen sind, sind wir nur weggerannt und konnten nichts mitnehmen. Einige von uns sind sogar barfuß weggelaufen, ohne Schuhe."

Paul Quinn-Judge, ein Vertreter der Sicherheits-Expertengruppe International Crisis Group, erklärte: "Wir werden ein ernstes zunehmendes humanitäres Problem haben, das sowohl die kirgisischen als auch die usbekischen Volksgruppen im Süden Kirgisistans betreffen wird. Die Berichte aus den usbekischen Gemeinden in Osch und Jalalabad sind so Grauen erregend, dass ich bezweifle, dass irgendjemand in naher Zukunft dorthin zurück will."

Einige Usbeken, die zu ihren Häusern in Osch zurückgekehrt sind, mussten feststellen, dass sie niedergebrannt waren.

Ole Solvang, ein Vertreter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), erklärte, Osch stehe vor ernsten humanitären Problemen. "Es kommt einiges an Hilfe nach Osch", bemerkt er, "aber es kommt nicht in den usbekischen Wohngegenden an.

Sie brauchen medizinische Versorgung, gerade einfache Medikamente. Es gibt immer noch Verletzte, die behandelt werden müssen. Speziell Nahrungsmittel sind ebenfalls ein Problem für einige der Menschen, die sozusagen in ihrem Viertel verbarrikadiert sind. Wasser, sauberes, trinkbares Wasser wird genauso zum Problem", fügt Solvang hinzu.

Es kam gestern wieder zu Gewalttätigkeiten in Kirgisistan, als kirgisische Soldaten mit schweren Maschinen notdürftig errichtete Barrikaden niederrissen, die Usbeken um ihr Viertel errichtet hatten. Zwei Usbeken wurden getötet und 25 verwundet, als Polizisten das Dorf Nariman durchsuchten, nachdem sie die Barrikaden niedergerissen hatten.

Die New York Times interviewte Bektemir Ergashev, einen kirgisichen Wachmann an einem Kontrollpunkt in Osch, der erklärte, die Gewalttätigkeiten seien ausgebrochen, als sich Gerüchte ausbreiteten, Usbeken hätten in einem Wohnheim kirgisische Frauen vergewaltigt. Die Times fügte hinzu: "Die Polizei und die Krankenhäuser haben nicht bestätigt, dass es einen solchen Übergriff gegeben hat."

Die ethnische Gewalt brach zwei Monate nach dem Sturz der Regierung von Präsident Kurmanbek Bakijew aus; sein Sturz folgte auf Massenproteste in der Hauptstadt Bischkek gegen Regierungskorruption und den steilen Anstieg der Preise bei den öffentlichen Versorgungsbetrieben. Nach anfänglichen Versuchen die Demonstranten niederzuwerfen, spaltete sich die kirgisische Armee; Teile der Armee schlossen sich den Demonstranten bei einem Angriff auf den Präsidentenpalast und andere Regierungsgebäude an. Auf Bakijew folgte eine Interimsregierung, angeführt von Otunbajewa, eine in der Sowjetunion ausgebildete kirgisische Diplomatin mit umfassenden Beziehungen zum Westen.

Bakijew floh nach seinem Sturz zunächst nach Süd-Kirgisistan und reiste anschließend über Kasachstan nach Weißrussland. Die meisten Kirgisen in der Region unterstützen laut Presseberichten Bakijew, während die meisten Usbeken die neue Regierung von Otunbajewa unterstützen.

Menschenrechtsorganisationen behaupten, die Pogrome hingen mit Kämpfen zwischen den Anhängern von Otunbajewa und Bakijew zusammen. Andrea Berg, eine Angestellte von HRW in Kirgisistan, erklärte gegenüber ABC News : "Es sieht so aus, als gebe es immer mehr Informationen, dass die Familie des ehemaligen Präsidenten Bakijew, der bei gewalttätigen Zusammenstößen im April abgesetzt wurde, hinter diesen Gewalttätigkeiten steht."

Sie fügte hinzu, die Pogrome hätten die Unterstützung von Teilen der kirgisischen Armee, die Bakijew verbunden seien: "Die Quelle hat mir mitgeteilt... die kirgisische Armee würde wahllos auf usbekische Viertel schießen. [Sie] sagte mir auch, sie habe gesehen, wie das kirgisische Militär Waffen an kirgisische Banden ausgibt, [und dass] kirgisische Banden zusammen mit der Armee in ihren Panzern fahren."

Während Emilbek Kaptagaew, Generalstabschef der Interimsregierung, jegliche geheime Zusammenarbeit zwischen der Regierung und Kämpfern, die an anti-usbekischen Pogromen beteiligt sind, leugnet, hat Otunbajewa seither verlauten lassen, dass sie nicht die volle Kontrolle über das Militär habe.

Otunbajewa widersetzt sich Forderungen nach einer Verschiebung des Verfassungsreferendums, das für den 26. Juni geplant ist und das Ziel hat, ihrer Regierung eine Rechtsgrundlage zu verschaffen. Xinhua berichtete jedoch gestern, dass Otunbajewa neue Verordnungen erlassen hat, unter denen das Referendum abgeblasen werden könnte, wenn im Land weiterhin der Ausnahmezustand herrsche.

Edil Baisalow, Otunbajewas ehemaliger Generalstabschef, erklärte gegenüber der Financial Times, es sei "unmoralisch" und "kurzsichtig" das Referendum während der gegenwärtigen Kämpfe abzuhalten.

Der Vertreter des OSZE Rustam Akhmatakhunow erklärte der Financial Times: "Das Ergebnis des Referendums wird eine Katastrophe sein. Jeder weiß, dass dies eine einstweilige Regierung ist. Wer als nächster kommen wird, weiß keiner."

US-Außenministerin Hillary Clinton und der russische Außenminister Sergei Lawrow haben während eines Telefongesprächs am Sonntag über Kirgisistan diskutiert. Laut dem Sprecher des Außenministeriums Philip Crowley, "waren die Minister sich einig, dass die Frage des bevorstehenden Referendums in der Entscheidungsfreiheit Kirgisistans liegt und stimmten darin überein, die Behörden von Kirgisistan zu ermutigen, das Referendum entsprechend den internationalen Standards durchzuführen, mit Unterstützung und Überwachung der OSZE und anderer."

Die Tragödie in Kirgisistan ist in aller erster Linie die Folge der Auflösung der UdSSR, welche die stalinistische Bürokratie 1991 mit der Zustimmung des westlichen Imperialismus durchgesetzt hat, und des Kolonialkriegs der USA in Afghanistan und Pakistan. Die ersten neuerlichen kirgisisch-usbekischen Spannungen gab es 1990, als nationalistische Elemente innerhalb der Sowjetbürokratie ethnische Rivalitäten im sowjetischen Zentralasien anheizten. Krawalle führten im Sommer 1990 zu mehr als 200 Toten.

Als die kirgisische Wirtschaft nach der Wiedereinführung des Kapitalismus zusammenbrach verließen 200.000 Slawen und 50.000 ethnische Deutsche Kirgisistan. Während der 1990er Jahre sank das Prokopfeinkommen in Kirgisistan um erstaunliche 50 Prozent, als die zentralasiatischen Stalinisten nationale Grenzen und Währungen einführten, Unternehmen aus Staatsbesitz schlossen und die Industrie und den Handel in der Region zusammenbrechen ließen. Die kirgisische Wirtschaft ist seitdem vor allem aufgrund von Geldüberweisungen ihrer Bürger gewachsen, die im Ausland arbeiten und aufgrund ihrer Rolle als Transitland für Opiate, die im US-besetzten Afghanistan angebaut und nach Russland und Europa gehen.

Zu arm, um eine große Armee aufzustellen, stützte sich das Land zur Wahrung seiner Sicherheit bis 1999 auf die russische Armee und es beherbergt auch heute immer noch russische Militärstützpunkte. Nach dem Angriff vom 11. September begann Kirgisistan obendrein den Luftstützpunkt Manas an die USA zu vermieten. Der war ein wichtiges Element des US-Versorgungsnetzwerks für die Besatzungstruppen in Afghanistan.

Bakijew kam 2005 an die Macht, nachdem die von den USA unterstützte "Tulpen-Revolution" in Kirgisistan unter Massenprotesten zusammengebrochen war. Seine Familie und speziell sein Sohn Maxim profitierten Berichten zufolge in enormem Ausmaß von umfangreichen Aufträgen, die von der US-Regierung für die Versorgung des Luftwaffenstützpunkts Manas bezahlt wurden.

Die Bedingungen in Kirgisistan wurden von den Medien und Vertretern des Westens ignoriert. Zur Zeit der Wiederwahl Bakijews im letzten Juli schrieb der Analyst für Zentralasien und den Kaukasus an der John Hopkins Universität: "Das Problem von möglichen öffentlichen Protesten scheint der Regierung kaum Kopfschmerzen zu bereiten... Die Bevölkerung zeigte allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber der Politik, gestützt von der Schwäche der Opposition und zementiert durch das wachsende Bewusstsein, dass Bakijew anders als seine Vorgänger, bereit ist, seine Regierung mit harten Maßnahmen zu verteidigen." Der Bericht kam zu dem Schluss, Bakijew sei "die beste Wahl bisher."

Bakijew wurde, kurz gesagt, als akzeptabler NATO-Verbündeter in Zentralasien gesehen - einer Region, die immer wichtiger für die Besetzung Afghanistans wurde und sich an expandierenden Handelswegen zwischen China, Russland und dem Nahen Osten befand. Diese Situation führt jetzt jedoch zu wachsenden Befürchtungen über einen internationalen Konflikt, wenn die Großmächte anfangen, in Kirgisistan zu intervenieren.

Während der schlimmsten Pogrome der letzten Zeit forderte Otunbajew Russland auf, Friedenstruppen zu schicken. Der russische Präsident Dimitri Medwedew stellte zwar fest, dass, "die Situation im Süden Kirgisistans nahe an einer humanitären Katastrophe sei", lehnte ihre Anfrage am 18. Juni aber ab.

"Unsere kirgisischen Partner haben bislang ihre Anfrage zurückgenommen, vor allem weil sie selbst mit der Situation fertig werden sollten. Es ist ein internes Problem. Und ich hoffe, dass sie letztendlich in der Lage sein werden, es zu lösen", erklärte er. Es gibt allerdings andauernde Spekulationen darüber ob und unter welchen Umständen Russland unter der Schirmherrschaft der Organisation für Sicherheit intervenieren werden.

Während die USA bisher erklärt haben, sie seien nur bereit humanitäre Hilfe zu leisten, werden sie von der kirgisischen Regierung unter Druck gesetzt, mehr Hilfe zu leisten. Washington unterhält einen Luftwaffenstützpunkt im Land, der entscheidend für die Fortführung des Kriegs in Afghanistan ist. Die Regierung Otunbajewa hat gedroht, die Vermietung des Stützpunkts Manas zu kündigen, wenn die Obama-Regierung ihre Autorität nicht einsetzt, um London dazu zu bewegen den mächtigen Maxim Bakijew, Sohn des früheren Präsidenten, auszuliefern, der gegenwärtig vom britischen Geheimdienst in Großbritannien festgehalten wird.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 25.06.2010
2000 Tote und 400.000 Flüchtlinge durch ethnische Pogrome in Kirgisistan
http://wsws.org/de/2010/jun2010/kirg-j25.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2010