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GLEICHHEIT/3113: Schwarz-gelbe Agonie


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Schwarz-gelbe Agonie

Von Peter Schwarz
18. Juni 2010


Die Krise der schwarz-gelben Bundesregierung zieht sich nun schon seit Wochen hin. Es gibt kaum ein Thema, in dem sich die drei Koalitionspartner - FDP, CDU und deren Schwesternpartei CSU - einig sind. Ob Sparprogramm, Steuerpolitik, Gesundheitsreform oder Wehrpflicht, in sämtlichen Fragen liegen die Regierungsparteien oder unterschiedliche Flügel dieser Parteien heftig über Kreuz.

Die Umfragewerte sind in den Keller gefallen. Würde am kommenden Sonntag der Bundestag neu gewählt, käme die FDP gerade noch auf fünf Prozent der Stimmen - ein beispielloser Abstieg seit der Wahl vor neun Monaten, als die FDP knapp 15 Prozent erreichte. Die Union nähert sich der 30-Prozent-Marke von oben, während die SPD weiterhin darunter verharrt. Hinzugewonnen haben dagegen die Grünen, die Rekordwerte von 18 Prozent erzielen - ein deutlicher Hinweis auf starke Schwankungen unter den Mittelschichten. SPD und Grüne liegen damit weit vor der derzeitigen Koalition. Eine Regierungsmehrheit würden allerdings auch sie nur mit Unterstützung der Linkspartei erlangen, die unverändert auf 11 Prozent kommt.

Führende Zeitungen sagen seit Tagen das Ende der Regierung Merkel-Westerwelle voraus oder fordern es sogar. Als mögliche Bruchstellen gelten die Gespräche über eine Gesundheitsreform am kommenden Wochenende - hier fordert die FDP ebenso vehement eine Kopfpauschale wie die CSU sie ablehnt -, oder eine Niederlage des gemeinsamen Kandidaten von Union und FDP, Christian Wulff, bei der Präsidentenwahl am 30. Juni. Vor allem in der FDP gibt es erhebliche Sympathien für Joachim Gauck, den SPD und Grüne als Gegenkandidat aufgestellt haben.

Viele Kommentatoren führen die Krise der Bundesregierung auf die Schwächen ihres Führungspersonals zurück - auf die mangelnde Entscheidungskraft Merkels, das unreife Verhalten Westerwelles und die Unberechenbarkeit von CSU-Chef Seehofer. Doch die Ursachen liegen tiefer. Die Regierung ist mit grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert, auf die sie keine Antwort hat.

Jahrzehntelanger Sozialabbau sowie die Folgen der internationalen Wirtschaftskrise haben der Politik des sozialen Ausgleichs den Boden entzogen, die der Bundesrepublik in den Nachkriegsjahrzehnten eine gewisse Stabilität verlieh. Die Mittelschicht, das Rückgrat aller parlamentarischen Parteien, schrumpft rapide.

Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) über die Erosion der Mittelschicht hat nicht zufällig großes Aufsehen erregt. Die Forscher gelangen zum Schluss, dass die Zahl der Armen und in geringerem Ausmaß die Zahl der Reichen zu Lasten der mittleren Einkommensschicht besorgniserregend wachsen. Sie warnen, eine starke Mittelschicht sei "unerlässlich für den Erhalt der gesellschaftlichen Stabilität".

Westerwelles FDP, die Lobbyarbeit für die Finanzindustrie mit Appellen an den Egoismus der Besserverdienenden verbindet, hatte sich eingebildet, sie könne die Angst der Mittelschicht vor sozialem Abstieg gegen die Ärmsten der Gesellschaft richten. Doch mit seinen Angriffen auf Hartz-IV-Empänger, die er als Ausdruck "spätrömischer Dekadenz" beschimpfte, griff Westerwelle voll daneben. Eine empirische Studie von Göttinger Politikwissenschaftlern gelangt zum Schluss: "Die Mitte hat derzeit einfach nicht den Eindruck, dass hauptsächlich Missbrauchsverhalten von unten die sozialen Systeme und das finanzielle Gerüst der Republik gefährden." Wenn die Rede dagegen "auf Konzernschefs, Banker oder Finanzjongleure" komme, argumentiere "ein Großteil der Mitte inzwischen radikaler als die Gabriel-SPD".

Das erklärt den rasanten Absturz der FDP.

Die Union wird derweil zwischen ihren sozialen und regionalen Flügeln zerrieben. Wirtschaftsvertreter, Kleinunternehmer, Bauern, Beamte und Arbeiter lassen sich nicht unter dem Dach einer Partei vereinen, wenn die Gesellschaft auseinander driftet. Und der Katholizismus, selbst tief in der Krise, hat seine Tauglichkeit als einigendes Band für eine Partei längst eingebüsst.

Auch in der Außenpolitik steht die Bundesregierung vor neuen Herausforderungen. Die Westbindung, seit Adenauer Leitfaden der deutschen Außenpolitik, bricht auf. Das enge Bündnis mit den USA erweist sich angesichts der Kriege im Irak und Afghanistan und wachsender transatlantischer Spannungen zunehmend als Hypothek. Auch innerhalb der Europäischen Union nehmen die Konflikte zu und drohen sie zu zerbrechen.

Unter diesen Umständen mehren sich die Stimmen, die eine Rückkehr der SPD in die Regierung fordern. Seit sie in der Novemberrevolution 1918 das kapitalistische Eigentum vor dem Ansturm der Arbeiter- und Soldatenräte rettete, ist die SPD in Krisenzeiten wiederholt damit vertraut worden, die bestehende Ordnung zu verteidigen und notwendige Veränderungen durchzuführen. So holte SPD-Kanzler Willy Brandt 1969 die rebellierende Jugend von der Straße und verhalf der deutschen Exportindustrie mit seiner heftig umstrittenen Ostpolitik zu neuen Absatzmärkten. Und als die Wirtschaftsverbände 1998 über den "Stillstand" unter Helmut Kohl jammerten, schleifte Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 die sozialen Sicherungssysteme.

Im Gegensatz zur FDP, die den Einfluss des Staates zurückdrängen will, hält die SPD einen starken Staat in Zeiten der Krise für unverzichtbar - allerdings nicht einen starken Sozialstaat, den sie in sieben Jahren rot-grüner und vier Jahren Großer Koalition weitgehend zerstört hat, sondern einen Staat, der sich über die gesellschaftlichen Klassen erhebt und mit harter Hand durchgreift, der Hartz-IV-Empfänger zu gemeinnütziger Arbeit zwingt und die Arbeiter mit Hilfe der Gewerkschaften diszipliniert.

Die Gewerkschaften sind mehr als bereit, eine solche Rolle zu übernehmen. Ihre höchste Priorität ist der Erhalt des "sozialen Friedens", d.h. die Unterdrückung des Klassenkampfs, auch wenn das den Verzicht auf sämtliche sozialen Errungenschaften der letzten sechs Jahrzehnte bedeutet.

Auch der Unterstützung der Grünen kann sich die SPD sicher sein. Die ehemalige Umwelt- und Friedenspartei hat sich längst zum Vorreiter strikter Haushaltskonsolidierung und militärischer Auslandseinsätze gemausert.

Was die Linkspartei betrifft, so verstehen die Erben der DDR-Staatspartei unter "Sozialismus" seit jeher einen starken, autoritären Staat, der jede unabhängige Regung der Arbeiter im Keim erstickt. Auch der ehemalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine spielte schon vor dreißig Jahren, als er Oberbürgermeister in Saarbrücken war, eine bundesweite Vorreiterrolle bei der Verpflichtung von Sozialhilfeempfängern zu gemeinnütziger Arbeit. Als saarländischer Ministerpräsident wickelte er später in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften geräuschlos die regionale Stahl- und Bergbauindustrie ab. Auch durch einen Maulkorberlass für die Regionalpresse machte er damals von sich reden.

Die Linkspartei ist entschlossen, der SPD zurück an die Macht zu helfen, sei es als Koalitionspartner oder durch die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung, wie dies derzeit in Nordrhein-Westfalen vorbereitet wird.

Ob es tatsächlich zu einem vorzeitigen Ende der schwarz-gelben Koalition kommt, ist allerdings offen. Die Verfassung sieht einen Regierungswechsel mitten in der Legislaturperiode nur in Ausnahmefällen vor, und in der Union und FDP dürfte die Neigung gering sein, sich auf Neuwahlen einzulassen.

Auch die Frage, welche Koalition die derzeitige Regierung ablösen könnte, ist offen: Eine große Koalition von Union und SPD, die auch ohne Neuwahlen eine Mehrheit hätte, eine Ampelkoalition von SPD, FDP und Grünen oder eine rot-grüne Koalition mit Beteiligung oder Unterstützung der Linkspartei. Die beiden letzten Varianten könnten nur durch Neuwahlen eine Mehrheit erhalten.

Eines ist aber sicher: Eine Rückkehr der SPD in die Regierung wäre keine Linksentwicklung. Sie würde eine neue Runde von Sozialabbau und Angriffen auf demokratische Rechte einleiten. Gleichzeitig würde sich die Gefahr erhöhen, dass die politische Gärung in der Mittelklasse in rechte Kanäle umschlägt - wie dies bereits in Großbritannien, den Niederlanden, Belgien oder Ungarn geschehen ist.

Die zukünftige Entwicklung hängt vom unabhängigen Eingreifen der Arbeiterklasse ab. Sie darf sich nicht durch Illusionen in die SPD, die Gewerkschaften und die Linkspartei fesseln lassen und muss selbständig in die Politik eingreifen. Arbeitsplätze, Einkommen und demokratische und soziale Rechte lassen sich nur auf der Grundlage eines sozialistischen Programms verteidigen, das die Banken und großen Konzerne vergesellschaftet und unter demokratische Kontrolle stellt. Das erfordert den Aufbau einer neuen Partei, der Partei für Soziale Gleichheit, der deutschen Sektion der Vierten Internationale.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 18.06.2010
Schwarz-gelbe Agonie
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2010