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GLEICHHEIT/3099: Frank Rich über Obama - Ängste und Illusionen eines Liberalen


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Frank Rich über Obama: Ängste und Illusionen eines Liberalen

Von Barry Grey
10. Juni 2010
aus dem Englischen (8. Juni 2010)


Vergangenen Sonntag veröffentlichte die New York Times einen Kommentar von Frank Rich unter der Überschrift: "Nicht nervös werden, Herr Präsident; bleiben Sie ruhig". Darin kommt deutlich zum Ausdruck, dass Obamas liberale Anhänger über seinen Umgang mit der BP-Ölpest immer stärker frustriert sind. Obamas bemerkenswerte Leisetreterei gegenüber BP und seine Unfähigkeit, den Zorn von Millionen Amerikanern auch nur annähernd zu artikulieren, so Rich, hätten "ernste Fragen nach seiner Führungskraft aufgeworfen".

Nicht weil sie Einsichten in die Krise der Obama-Regierung verschafft, ist diese Kolumne von Bedeutung, sondern weil sie zeigt, dass die linksliberale Basis der Demokratischen Partei immer stärker das Gefühl hat, die Stimmung in der Öffentlichkeit wende sich gegen das Weiße Haus. Unter den amerikanischen Leitartiklern ist Rich einer der loyalsten Bannerträger Obamas. Er hat Dutzende Kolumnen geschrieben, in denen er die rechte Politik der Republikaner verurteilt und den angeblich fortschrittlichen Charakter der Obama-Regierung hochjubelt.

Diese Schicht fürchtet die wachsende Desillusionierung und Wut der Öffentlichkeit über die Unfähigkeit der Regierung und besonders über Obama persönlich, der nicht angemessen auf die Krise reagiere. Es ist bemerkenswert, wie stark sich Richs Kolumne direkt an Obama richtet und nicht an die Öffentlichkeit. Rich bietet seinen Rat an, um die Regierung zu retten.

Dabei erweist sich Richs eigene Ratlosigkeit. Seine Sichtweise und die des gesamten amerikanischen Liberalismus sind politisch und intellektuell armselig. Er ist unfähig zu verstehen oder zu erklären, warum Obama nicht das tut, was er seiner Ansicht nach tun müsste.

Rich gibt zu, dass Obamas Kriecherei vor dem Ölgiganten kein Ausrutscher ist. "Aber die leichtgläubige Haltung gegenüber BP ist für diese Regierung nicht unnormal", schreibt er. "Nur zwei Monate, bevor die Börsen- und Finanzaufsicht SEC Goldman vor Gericht brachte, nannte der Präsident Lloyd Blankfein den Chef von Goldman Sachs einen 'erfahrenen' Geschäftsmann."

Dann zeigt Rich auf, dass zwischen der Rolle der Wall Street beim Zusammenbruch des Finanzsystems und der Verseuchung des Golfs durch BP eine Parallele besteht: "BPs enge Beziehungen zu gekauften Politikern und zur laxen Aufsichtsbehörde MMS, die nach der Pfeife der Industrie tanzt, sind ein Spiegelbild der kuscheligen Beziehung der Wall Street zu ihren großmütigen Kontrolleuren in der SEC, der Federal Reserve und der New York Fed." Er vergisst nur zu erwähnen, dass Obama selbst den Präsidenten der New York Fed zu seinem Finanzminister berufen und den Fed-Vorsitzenden für eine zweite Amtszeit nominiert hat.

Tatsächlich vermeidet Rich jede Art von Schlussfolgerungen darüber, was Obamas Verhalten über den objektiven gesellschaftlichen und Klassencharakter seiner Regierung offenbart. Stattdessen macht er unglückliche Charaktereigenschaften, ein schlechtes Management und schlechte Berater für Obamas politische Schwierigkeiten verantwortlich. Insbesondere fehle ihm eine überzeugende "Erzählung" für die Ölpest.

Im Kern möchte Rich erreichen, dass Obama die amerikanische Bevölkerung effektiver davon überzeugt, dass er auf ihrer Seite stehe und nicht auf der Seite von BP. Er hat keine konkreten Vorschläge für eine andere Politik in der Katastrophe am Golf und weicht der Frage des Privateigentums an BP und der ganzen Ölindustrie aus.

Die Grundannahme seines Artikels lautet - im Widerspruch zu den Fakten, die Rich selbst anführt -, dass Obama im tiefsten Herzen ein progressiver Reformer und seine Regierung zumindest potentiell progressiv sei. "Dieses unbegründete Vertrauen in Eliten innerhalb und außerhalb des Weißem Hauses scheint Obama daran zu hindern, die Gelegenheit, die ihm die Geschichte bietet, beim Schopf zu packen", schreibt Rich.

Obama ist selbst Teil der "Elite". Die Art und Weise, wie er die Dinge anpackt - nicht nur den Ölteppich, sondern auch die Bankenrettung, die Umstrukturierung der Autowerke, die Gesundheits-"Reform", die Angriffe auf Lehrer und Beamte und die Kürzungen am Sozialstaat - ist genau das, was die kapitalistischen Hintermänner seiner Karriere von Anfang an von ihm erwartet haben.

Seine gesamte Regierung arbeitet zielstrebig daran, den Reichtum der Finanzelite zu bewahren, und gleichzeitig weigert er sich, auch nur eine ernsthafte Maßnahme zur Sicherung von Arbeitsplätzen oder Sozialhilfe für Millionen Menschen zu ergreifen, die in Armut und Verzweiflung versinken.

Obamas Ehrgeiz richtet sich auf seine Rolle als führender politischer Repräsentant der amerikanischen herrschenden Klasse. Rich weicht den Klassenfragen aus, wie er auch der ökonomischen Struktur der amerikanischen Gesellschaft keine Beachtung schenkt.

Am Schluss seines Artikels weist Rich auf Theodore Roosevelt als Beispiel hin, wie Obama mit der Ölpest umgehen müsste. "Wollte Obama eine wahrhaft verändernde Präsidentschaft führen", schreibt er, "dann gäbe es keinen besseren Katalysator als Öl. Die Progressive Ära, als die Trusts zerschlagen wurden, begann damals mit Standard Oil...

"Ein Teddy Roosevelt muss für Obama zum Dreh- und Angelpunkt werden. mächtigen Interessen, die uns abzocken, wird er rückhaltlos die große Geschichte erzählen müssen."

Rich beschwört hier ein Bild des amerikanischen Liberalismus als Triebkraft für den sozialen Fortschritt, das eher einem Mythos als einer historischen Tatsache entspricht. Die großen Sozialreformen waren in den USA Ergebnis von Kämpfen der Arbeiterklasse gegen den erbitterten und gewaltsamen Widerstand der Bourgeoisie. Der Liberalismus spielte vor allem die Rolle, diese Kämpfe zurückzuhalten und zu verhindern, dass sie revolutionäre Formen annahmen. In den ersten sechzig Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschah dies hauptsächlich durch die Einführung begrenzter Sozialreformen und Zugeständnisse an die Arbeiterklasse. Aber in den letzten vierzig Jahren gab es keine solchen Reformen mehr.

Der Vergleich mit Roosevelt missachtet den großen historischen Unterschied, der zwischen der damaligen Periode und heute liegt. Als Roosevelt die großen Trusts zerschlug, geschah dies inmitten gewaltiger Kämpfe der Arbeiterklasse und unter dem wachsenden Einfluss sozialistischer und revolutionärer Tendenzen in der Arbeiterklasse. Eugene Debs erhielt als Sozialistischer Kandidat für die US-Präsidentschaft 1912 eine Million stimmen. Nur ein Jahr zuvor hatte das Oberste US-Gericht die Bundesjustizbehörde in ihrem Antitrust-Verfahren unterstützt, was dazu führte, dass Standard Oil zerschlagen werden musste.

Rich, der zahllose Kolumnen geschrieben hat, in denen er davor warnt, die Opposition der Arbeiterklasse könnte anwachsen, strebt keineswegs die Rückkehr solcher Bedingungen an.

Die politische Vorherrschaft des Großkapitals und der Wall Street ist heute weit mächtiger als damals, als die Raubbarone ihre große Zeit hatten. Auch die soziale Gleichheit ist seither noch gewaltig angewachsen.

Außerdem war die kleinbürgerliche Intelligenz damals, an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert, viel stärker auf die Arbeiterklasse ausgerichtet und sozialistischen und revolutionären Ideen gegenüber aufgeschlossener als heute. In den radikalen und sogar einigen liberalen Kreisen ging vor hundert Jahren jedermann davon aus, dass soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und wahre Demokratie mit Kapitalismus unvereinbar seien.

In einem langen historischen Prozess hat sich das politische und moralische Gesicht der kleinbürgerlichen Intellektuellen stark verändert - und nicht zum Guten.

Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich die liberale Intelligenz in Amerika zum größten Teil dem Antikommunismus zugewandt, was bedeutet, dass sie sich auf die Seite der hegemonialen Ziele des amerikanischen Imperialismus geschlagen hat. Das hat dem politischen Leben des Landes gewaltigen Schaden zugefügt und den amerikanischen Liberalismus unwiderruflich beschädigt.

Dank der reaktionären, arbeiterfeindlichen Politik von Reagan und seinen Nachfolgern, einschließlich Obamas, hat sich das Einkommen vieler Liberaler in Amerika in den letzten dreißig Jahren beträchtlich vermehrt. Infolgedessen haben sich ihre politischen Ansichten nach rechts verschoben. Heute befürworten diese Leute offen die "freie Marktwirtschaft" und lehnen alle sozialen Reformen ab.

Rich ist ein typisches Beispiel für diesen Prozess. Er verkörpert den zeitgenössischen Liberalismus in Amerika, der sich auf Fragen der Identität und des Lebensstils konzentriert, und dem das Schicksal der Arbeiterklasse gleichgültig ist. Die intellektuelle und politische Kraftlosigkeit seiner Analyse und ihr verschleierndes und ausweichendes Wesen sind Ausdruck des Bankrotts des gesamten liberalen Denkens.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 10.06.2010
Frank Rich über Obama: Ängste und Illusionen eines Liberalen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2010