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DAS BLÄTTCHEN/1729: Rahul Gandhi - ein Dynast bekennt sich


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
20. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2017

Rahul Gandhi - ein Dynast bekennt sich

von Edgar Benkwitz


Es ist ruhig geworden um Rahul Gandhi, den Nachkommen der wohl bekanntesten politischen Dynastie Indiens, der Nehru-Gandhi-Familie. Seit Jahren Vizepräsident der Kongresspartei, wurde der 47-jährige von vielen Indern als Hoffnungsträger für die Spitzenfunktion in seiner Partei und im Staat angesehen. Doch zur allgemeinen Enttäuschung konnte er sich nicht entschließen, als Minister in die bis 2014 bestehende Kongressregierung einzutreten. Auch für den Vorsitz in der Partei, den seit nunmehr 19 Jahren immer noch seine Mutter, Sonja Gandhi, belegt, begeisterte er sich nicht. Es verfestigte sich die Meinung, dass der Gandhi-Sprössling politisch zu unreif und unerfahren sei, es ihm zudem an Entschlusskraft und Willensqualitäten fehle, er Verantwortung scheue.

Während einer Reise durch die USA wurde Rahul Gandhi nun gleich zu Beginn mit Fragen zu seiner politischen Karriere und familiären Herkunft konfrontiert. Nicht ungewöhnlich, denn schließlich schaut er mit Vater Rajiv Gandhi, Großmutter Indira Gandhi, Urgroßvater Jawaharlal Nehru und Ururgroßvater Motilal Nehru auf eine beeindruckende Ahnenreihe zurück, die das neue Indien entscheidend geprägt hat. Insofern ist Neugier und Erwartungshaltung auch auf amerikanischem Boden verständlich.

Nun sind von Rahul Gandhi, der sich seit 2004 politisch betätigt, kaum Äußerungen über seine berühmten Vorfahren bekannt. Ganz im Gegenteil versucht er, seine Herkunft herunterzuspielen. So eben auch jüngst in der Berkeley University, wo er sich auf eine entsprechende Frage zwar als "politischer Dynast" bezeichnete, aber das für ihn unangenehme Thema mit der Bemerkung abtat, ganz Indien werde von Dynastien geführt. Und er fügte überraschend hinzu, dass er jetzt "absolut bereit sei, eine leitende Verantwortung zu tragen". Das war so von ihm noch nicht zu hören, und in seiner Heimat wurde sofort auf eine baldige Stabübergabe an der Spitze der Kongresspartei von Mutter Sonja an Sohn Rahul spekuliert. Inzwischen verdichten sich die Anzeichen, dass das schon im Oktober geschehen könnte.

Seine Bemerkung zu einer dynastischen Kultur im heutigen Indien, die er offensichtlich im Eigeninteresse als etwas Normales anzusehen wünscht, rief jedoch in seiner Heimat scharfe Kritik hervor. Ein "gescheiterter Dynast" verteidige diesen Zustand, den seine Partei überhaupt erst in Indien eingeführt habe, war zu hören. Finanzminister Jaitley, der starke Mann in der Regierung, geißelte die Bezugnahme als nationale Schande und einen Angriff auf die Weisheit der Inder.

Nun ist allerdings Fakt, dass die höchsten Ämter im heutigen Indien - so Präsident, Vizepräsident und Premierminister - von Vertretern aus einfachen, mithin nichtdynastischen Verhältnissen besetzt sind. Auch hält sich die hindunationalistische Regierung in Neu Delhi in ihrer Zusammensetzung weitgehend von dynastischen Vertretern fern. Das Thema ist aber trotzdem präsent. Berüchtigt sind Familienclans mit dynastischem Hintergrund in großen Unionsstaaten wie Tamilnadu, Uttar Pradesh oder Bihar, die immer wieder mit Machtmissbrauch, Korruption und Verbrechen in Zusammenhang gebracht werden. Eine Studie der Hyderabader Professoren Tantri und Thota belegt, dass auch das indische Parlament von Dynasten durchsetzt ist. Ihnen zufolge saßen hier in der Legislaturperiode 2004-2009 97 derartige Vertreter, von 2009-2014 sogar 136 (von insgesamt 545 Abgeordneten). Eine Untersuchung in deren Wahlkreisen förderte - verglichen mit Wahlkreisen nichtdynastischer Abgeordneter - beträchtliche demokratische und soziale Defizite zutage.

Hinter der Diskussion um die Rolle von Dynastien verbirgt sich jedoch mehr. Eine wachsende Mittelschicht, die selbstbewusst und oft nationalistisch auftritt, stellt kritische Fragen an die jüngste Vergangenheit ihres Landes. Im Mittelpunkt steht dabei, warum sich Indien in den ersten 40 bis 50 Jahren seiner Unabhängigkeit so langsam entwickelt hat und bis heute vor riesigen sozialen Problemen steht. Es werden Vergleiche mit anderen asiatischen Staaten angestellt, die eine ähnliche Ausgangslage wie Indien hatten, aber mittlerweile weit davon geeilt sind. So natürlich China, das wirtschaftlich 1970 mit Indien etwa gleichstand, heute aber vier- bis fünfmal stärker ist. Auch Südkorea und einige ASEAN-Staaten werden genannt. Schnell wird geschlussfolgert, dass die damalige politische Führung des Landes, die bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts fast immer durch die Nehru-Gandhi-Familie gestellt wurde, dafür die Verantwortung trägt. Ihr Festhalten an ideologischen Prinzipien habe in niedrigen Wachstumsraten und schleppender Entwicklung gemündet. Es wird sogar behauptet, J.Nehru und Indira Gandhi hätten mit sozialistischer Planwirtschaft, Säkularismus, Toleranz, Nichtpaktgebundenheit und Nähe zur Sowjetunion die Entwicklung Indiens entscheidend gehemmt. Auch werden Fälle genannt, wo fähige Politiker der Kongresspartei zugunsten der Wahrung dynastischer Ansprüche der Nehrus und Gandhis zurückgesetzt und ihnen hohe Ämter in Partei und Staat verweigert wurden. Diese Argumentation wird bewusst von hindunationalistischen Kräften voran getrieben und im politischen Tageskampf verwendet.

Man muss Rahul Gandhi zugutehalten, dass er solchen ahistorischen Vorwürfen und dem Gezänk darüber möglichst aus dem Weg gehen will. Trotzdem kann er der Debatte nicht ausweichen und muss sich darüber hinaus einer Stimmung in Kreisen der Kongresspartei stellen, die die Nehru-Gandhi-Familie als letztes Bindemittel sehen, um eine arg gebeutelte und zerfallende Partei zusammenzuhalten. Sie träumen davon, dass der letzte fähige Spross dieser Familie die Partei wieder einen und zu neuen Höhen führen kann. Doch ist dieses Wunschdenken weit von der politischen Realität entfernt. Die einst stolze Kongresspartei, die in den ersten 42 Jahren des unabhängigen Indien 37 Jahre lang regierte und dazu in den meisten Unionsstaaten die Landesregierung stellte, hält heute nur noch mit Mühe den Anspruch auf eine gesamtnationale Partei aufrecht. Im Unterhaus hat sie nur noch 44 Mandate. Und in den 29 Unionsstaaten regiert sie nur noch in fünf direkt oder mit Bündnissen.

Dagegen verfügt der große Rivale, die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP), im Unterhaus über 281 Sitze und regiert allein oder in Bündnissen in 18 Unionsstaaten. Sie stellt den Premierminister, den Präsidenten, den Vizepräsidenten(zugleich Sprecher des Oberhauses) und den Sprecher des Unterhauses. Die Kongresspartei - so die Meinung vieler Beobachter - hat den Anschluss an die politische Entwicklung verloren und tut nichts, ihn wieder herzustellen. Dagegen baut die BJP mit großem Einsatz und allen verfügbaren Mitteln ihre errungenen Positionen weiter aus.

In gut zwei Jahren wird in Indien ein neues Parlament gewählt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sich an der bestehenden politischen Machtstruktur mit hindunationalistischer Dominanz wenig ändern. Große Teile der politischen, aber vor allem der geistigen Elite des Landes sehen frustriert auf diese Entwicklung und geben der Führung der Kongresspartei eine Mitschuld an diesem Zustand. Diese begreife nicht - so ihre Aussage -, dass ihre Partei für die Gestaltung des Landes als Gegengewicht zu den hindunationalistischen Kräften dringend gebraucht wird. Fähige und kompetente Politiker sollten an ihre Spitze treten. Mit neuen konstruktiven Ideen könnte die noch vorhandene, aber vernachlässigte landesweite Parteistruktur reaktiviert werden. Verlorenes Vertrauen müsse wieder erarbeitet werden, denn nur so könne man parteiübergreifend die Vielzahl politisch williger Kräfte gewinnen.

Das Dilemma für den letzten politischen Großdynasten Indiens, Rahul Gandhi, charakterisierte treffend die Times of India, die seinen Ausspruch "Ich bin bereit" aufgriff und ihrerseits die Frage stellte: "Ist aber Indien bereit für ihn?"

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 20/2017 vom 25. September 2017, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 20. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2017

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