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DA/483: Tschernobyl - Bei uns kann so etwas nicht passieren!


DA - Direkte Aktion Nr. 205 - Mai/Juni 2011
anarchosyndikalistische Zeitung der Freien ArbeiterInnen Union (FAU-IAA)

Bei uns kann so etwas nicht passieren!
25 Jahre Evakuierung der Stadt Prypjat

von Volker Born


Es ist der 26. April 1986, ein schöner Frühlingstag in der Ukraine. In Prypjat ist es warm in diesen letzten Stunden. Die Menschen haben leichte Kleidung an. Vor der Stadt haben sich viele auf einer Brücke versammelt und beobachten ein einmaliges Schauspiel. Im Block 4 des Reaktors von Tschernobyl ist ein Brand ausgebrochen. In allen Farben des Regenbogens brennen die Flammen, sie schlagen höher in den Himmel, als die Rauchwolken.

Prypjat ist eine Vorzeige-Sowjetstadt, die für die ArbeiterInnen des Atomkraftwerkes errichtet wurde. Kaum einer, der hier nicht Angehörige hat, die im Atomkraftwerk beschäftigt sind. Dieser Energie gehört die Zukunft, gehört die ganze Stadt.

Jedes Jahr kommen hier an die 1.000 Babys zur Welt. Es gibt mehr als 19 Kindergärten, eine Konzerthalle, ein Kino, ein Krankenhaus und vier Bibliotheken. Das Durchschnittsalter beträgt 26 Jahre. Am Wochenende wollen die ArbeiterInnen ihre Freizeit genießen. Für die Maifeierlichkeiten in vier Tagen ist ein Jahrmarkt mit Autoscooter und Riesenrad aufgebaut worden. Er wird nie eröffnet werden.


Am Schlimmsten trifft es die Menschen vor Ort

Am 27. April 1986 wird die Bevölkerung von Prypjat über Radio aufgefordert, sich auf eine dreitägige Abwesenheit einzurichten. Innerhalb von zweieinhalb Stunden werden 49.360 Menschen mit ca. 1.200 Bussen aus der Stadt Prypjat evakuiert. Es gibt kein Zurück.

Einen Tag später hat sich der nukleare Wind gedreht, er trifft auf eine Geisterstadt.

Im nur 4 km entfernten Atomkraftwerk von Tschernobyl ist 36 Stunden zuvor der Reaktorblock 4 während eines simulierten Stromausfalls außer Kontrolle geraten. Eine Notabschaltung von Hand bleibt wirkungslos. Der "Stresstest" führt zur Katastrophe.

Durch die folgende Explosion und durch die hohen Temperaturen des anschließenden Graphitbrandes werden große Mengen an radioaktiver Materie, insbesondere die leicht flüchtigen Isotope Iod-131 und Cäsium-137, in große Höhen geschleudert und über tausende Kilometer weit transportiert, bevor sie durch Regenfälle aus der Atmosphäre gewaschen werden und über Europa niedergehen.

Die (Welt-)Öffentlichkeit wird über die Katastrophe im Unklaren gelassen. Als in Skandinavien die Geigerzähler ausschlagen gibt man sich in der Sowjetunion auf Anfrage hin unwissend. Nach der behördlich erlassenen Nachrichtensperre berichtet das sowjetische Fernsehen am 28. April erstmals über einen Unfall. Es seien "Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie" ergriffen worden.

Noch am 30. April erklärt Wladislaw Terechow, Gesandter der Botschaft der UdSSR in der BRD im ZDF-Magazin heute: "Die radiologische Lage in diesem Gebiet ist stabilisiert, obwohl die Verschmutzung dort geringfügig die Normen übertroffen hat; aber nicht in dem Maße, dass irgendwelche Sondermaßnahmen erforderlich würden."

Am gleichen Tag wird dem deutschen Wetterdienst in Offenbach vom Bundesinnenminister untersagt, die Radioaktivitätswerte bekannt zu geben. In der DDR füllen sich die Obst- und Gemüseläden plötzlich mit den Erzeugnissen sozialistischer Landwirtschaft, die im Westen keinen Abnehmer gefunden haben.

In bis zu 30 km Entfernung des AKWs in der Ukraine und dem benachbarten Weißrussland leben nach dem Super-GAU weiterhin 116.000 Menschen. Sie sind schutzlos dem Fallout preisgegeben worden. Erst eine Woche später werden auch sie evakuiert, 76 Ortschaften werden aufgegeben.

Als erste Maßnahme fliegen sechshundert Hubschrauberpiloten Einsätze, in denen erst Sand, und als dieser zu schmelzen beginnt 2400 Tonnen Blei abgeworfen werden. Alle sterben an den Folgen der tödlichen Strahlung.

Hunderttausende Helfer, sogenannte Liquidatoren, werden von der sowjetischen Regierung zu Aufräumarbeiten in die Hölle geschickt. Die letzten Meter zu ihrem Einsatzort sieht man sie rennen, um dann eine Minute lang Schutt zu schaufeln.

Techniker, die über Kabelschächte bis an den Reaktorkern vordringen bringen entsetzliche Botschaft. Das atomare Magma ist so heiß, dass ein Durchschschmelzen droht. Gerade rechtzeitig, bevor die Betondecke unter der Hitze zusammenbricht können Feuerwehrleute das darunter angesammelte Löschwasser abpumpen. Die Gefahr einer zweiten, weitaus schlimmeren Explosion ist noch nicht gebannt. Zur Evakuierung der 320 Kilometer entfernten Stadt Minsk werden vorsorglich Eisenbahnwagons zusammengestellt. Bei einem Absinken der radioaktiven Masse durch den Betonboden in das Erdreich droht eine weitreichende Verseuchung des Grundwassers. Über den Fluss Prypjat würde diese bis nach Kiew und ins Schwarze Meer getragen werden. 10.000 Bergleute werden eingeflogen um dies zu verhindern. Sie graben zwölf Meter unter der Erde einen 150 Meter langen Tunnel. Bei 50 Grad arbeiten sie ohne Oberbekleidung. Die Atemschutzmasken haben sie ausgezogen, weil die Filter sofort feucht wurden. Als sie nach einem Monat unter dem Reaktor angekommen sind ist der Plan, dort ein Kühlsystem zu platzieren, aufgegeben worden. Stattdessen wird der Reaktor mit Beton unterfüttert. Mit primitivsten Mitteln wird um den explodierten Reaktor ein provisorischer Betonmantel gebaut. Die eingesetzten Roboter versagen unter der hohen Strahlung. Die durchschnittliche Lebenserwartung der am Atomkraftwerk eingesetzten ArbeiterInnen liegt bei rund 43 Jahren. Über 112.000 der etwa 830.000 Liquidatoren sind bereits gestorben. Im Inneren des Sarkophages der weiterhin einzustürzen droht, ist es 25 Jahre später immernoch 200° Grad heiß.


Desinformation und Beschwichtigungsversuche 2011

Wie vor 25 Jahren wird heute die japanische Bevölkerung weitestgehend im Unklaren gelassen über die Gefahren und das Ausmaß der Strahlung aus Fukushima. Nach dem Ausfall der Stromversorgung und damit des Kühlkreislaufes kommt es zur Kernschmelze von 3 Reaktorkernen und dem Defekt mindestens eines "Abklingbeckens".

Mitte April, einen Monat danach, weigert sich die japanische Regierung immernoch die Evakuierungszone auszuweiten. Kalkül? Wer später an Krebs erkrankt wird nicht nachweisen können, dass die Strahlung alleinige Ursache ist. Bei einer Evakuierung aber käme es zu hohen Schadensersatzansprüchen.

Im 9000 km entfernten Deutschland berichten die Medien merkwürdig inhaltsleer zunächst in einer Endlosschleife vom Tsunami. Immer häufiger wird auch auf die beschädigten Atomkraftwerke eingegangen. Wackelige Bilder, keine hochauflösenden Satellitenfotos, keine Wärmemessungen aus der Luft. Der Nachrichtensender n-tv meldet unkommentiert, in Fukushima habe eine "explosionsartige Entwicklung" stattgefunden.

Die Regierungen wirken kopflos. Die EU setzt in einer "Notverordnung" am 27.3. die radioaktiven Grenzwerte für Lebensmittel herauf, um sie am 8.4. wieder zu senken. Regierungssprecher Yukio Edano verzehrt auf dem Tokioer Gemüsemarkt vor laufenden Kameras strahlend eine Tomate und erklärt dabei: "Der Unfall selbst war sehr schwer. Wir haben jedoch die Priorität darauf gelegt, Gesundheitsschäden zu vermeiden."

Kanzlerin Merkel kündigt eine "3 monatige Denkpause" an.

Eine Ethikkommission soll danach über den Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg aber "mit Augenmaß" entscheiden. Sieben Atomkraftwerke werden abgeschaltet und die Lichter gehen trotzdem nicht aus.

Es ist noch mehr drin. Der Präsident des Bundesumweltamtes Flasbart erläutert in der Frankfurter Rundschau, dass der Spitzenbedarf in den letzten zehn Jahren in den strengen Wintern 2002 und 2010 rund 80 Gigawatt betrug, in Deutschland aber auch ohne die acht abgeschalteten AKWs 90,5 Gigawatt Leistung bereit stehen. Alle AKWs können sofort ausgeschaltet werden.


Deutsche Schrottmeiler in Hochwasser und Erdbebengebieten

Das Magazin KONTRASTE veröffentlicht ein geheimes Sicherheitspapier des Bundesumweltministeriums. Hier wird das sofortige Abschalten aller deutschen Atomkraftwerke gefordert, da diese nicht dem im Atomgesetz geforderten Stand von Sicherheit und Technik entsprechen. Die mangels eines Endlagers bis an die Decke gefüllten Abklingbecken, wie auch Zentrale Anlagenteile der AKWs sind nicht gegen Flugzeugabstürze, Hochwasserereignisse oder Erdbeben geschützt. Das Ministerium fordert zusätzliche Rohrsysteme für Notfälle. Notsteuerstellen und sämtliche Notstromdiesel müssen verbunkert werden. Aus Standortgründen fordert das Umweltministerium die sofortige Abschaltung von drei AKWs. Zwei davon laufen nach wie vor:

Das AKW Neckarwestheim 2 liegt in einem Erdbebengebiet und steht auf zerklüftetem, unterhöhltem Kalkgestein. Größere Flächen könnten bei einem Beben einstürzen. Heute dürfte hier wegen dieser Tektonik nicht einmal ein Industriegebiet gebaut werden.

Das AKW Brokdorf steht an der Nordsee, wie das zur Zeit abgeschaltete AKW Unterweser. Beide sind nicht ausreichend vor Hochwasser geschützt.

Wolfgang Renneberg, der ehemalige Leiter der Bundesatomaufsicht erklärt die Gefahr von Tsunamis an der deutschen Küste. Prognostiziert sei, dass ganze Berge an der schottischen Küste bzw. in norwegischen Fjorden in die Nordsee rutschen und bis zu dreißig Meter hohen Wellen verursachen könnten.

Auch wenn solch ein Tsunami ausbleibt, alleine Blitz oder Sturm führten zwischen 1977 und 2004 acht mal zum Ausfall wichtiger Instrumente, zum gefürchteten Notstromfall und im Atomkraftwerk Gundremmingen A am 13. Januar 1977 zum Totalschaden.

Während vier deutsche AKWs mit dem in Fukushima sowohl vom Alter als auch von der Technik vergleichbar sind, haben fast alle Reaktoren hierzulande ein schlechteres Containment. Dieser letzte Schutz vor dem Austreten radioaktiver Substanzen bei einer Kernschmelze ist in Fukushima aus Stahl und Beton. Die deutschen Containments sind fast alle nur aus (zu dünnem) Stahl. Sie würden bei einem schweren Unfall keinen Schutz bieten.


Empörung:

Die Antiatombewegung erfreut sich einer neuen Auszeichnung. Seit Fukushima wird ihr "Hysterie" vorgeworfen.

Während andere EuropäerInnen sich aufruhrartig gegen Rentenaltererhöhung oder Lohn - und Sozialabbau auflehnen erlebt die Antiatombewegung hierzulande eine neue Stärke. Ein sofortiges Ausschalten aller AKWs in Deutschland erscheint plötzlich durchsetzbar. Bei den professionellen Zermürbungskampagnen und Beschwichtigungsversuchen durch und über die Medien könnte sich das aber mittelfristig auch wieder ändern. Mit Hilfe der Beschwichtigungen und Hinhalteversuche der Politik versucht die Atomindustrie Zeit zu gewinnen, um ihre Millionenprofite über weitere Jahrzehnte abzusichern. Es gilt jetzt, das Zeitfenster allgemeiner Empörung zu nutzen!


Strahlendes Erbe

Der atomkritische "Trinationale Atomschutzverband" aus der Schweiz rechnet vor:

Ein AKW, egal ob Siedewasser- oder Druckwasserreaktor erzeugt in jedem Betriebsjahr pro Megawatt elektrischer Leistung etwa die Radioaktivität einer Hiroshima-Bombe. Die kleinsten der 17 AKWs in Deutschland, haben eine Leistung von 900 Megawatt.

Ein Endlager, das den bis zu einer Millionen Jahre strahlenden Müll sicher lagert wird es nie geben.

Angesichts des Ausmaßes dieses täglich wachsenden Verbrechens an der Menschheit ist es wichtig bei den kommenden Demonstrationen und Aktionen auf die "Verhältnismäßigkeit der Mittel" zu achten.


Link-Empfehlungen zum Weiterlesen:

http://odlinfo.bfs.de (Offizielle Messdaten aus Deutschland)

http://fukushima.grs.de (Offizielle Messdaten aus Japan)

http://www.anti-atom-piraten.de (Tägliche Zusammenfassung der Ereignisse)

http://www.ippnw.de/ (Internationale Ärztinnen zur Verhütung des Atomkrieges)

http://www.ausgestrahlt.de/sicherheitscheck (Wie "sicher" ist das AKW bei Dir nebenan?)


Anmerkungen: Regenerative Energien in Deutschland

Die erneuerbaren Energien Wind und Sonne sind in Verbindung mit möglichst dezentralen Speichern in der Lage 100 Prozent der Energieversorgung in Deutschland zu leisten.

Nach dem "Erneuerbare Energien-Gesetz" (EEG) können BürgerInnen, die umweltfreundlichen Strom produzieren, diesen "kostendeckend" einspeisen oder auch selber verbrauchen.

Das hat zu einem bisherigen Anteil der erneuerbaren Energien von etwa 18 Prozent am Gesamtstrombedarf geführt. Die Regierung hat zurückgerudert und die Einspeisevergütungen, insbesondere für Solarenergie, drastisch gekürzt.

Die großen Konzerne - RWE, EON, ENBW und Vattenfall - möchten weiter ihre Gewinne aus den längst abgeschriebenen Atomkraftwerken einfahren. Obwohl diese ins Horrorkabinett des Technikmuseums gehören, wird alles versucht, damit deren Laufzeiten verlängert werden.

Gegen alle Beteuerungen ist die "Viererbande" an erneuerbaren Energien nicht interessiert. Die dafür versprochene "kostendeckende Vergütung" nach dem EEG lohnt sich aus ihrer Sicht nicht. Statt dessen planen und bauen sie zwanzig neue Kohlekraftwerke in Deutschland.

Nicht nur die Konzerne investieren in die Energieversorgung: Tausende von SolarstromanlagenbesitzerInnen haben dafür gesorgt, dass in Deutschland an sonnenreichen Tagen um die Mittagszeit bereits der gesamte Strombedarf durch die ins öffentliche Netz eingespeiste Solarenergie gedeckt wird.

Hierdurch wird der Stromeinkauf für den Energieversorger billiger, weil der teuerste, aus Gaskraftwerken stammende Spitzenlaststrom verdrängt wird. Dieser sogenannte "Merit-Order-Effekt" wird allerdings an den Kunden nicht weitergegeben. Einzig die "Stromrebellen" von den Energiewerken Schönau stellen wahrheitsgemäß auf ihrer Website fest: "Besonders der Solarstrom kappt die Spitzenstrompreise."

Durch das "Erneuerbare-Energien-Gesetz" ist gewährleistet, dass auch Du kostendeckend Ökostrom produzieren kannst. Überlass Dein Geld nicht der Bank. Tu dich mit deinen FreundInnen zusammen und kaufe eine Solaranlage! Beteilige Dich an einem Windrad!

Bundestag und Bundesrat haben im Juli letzten Jahres die Einspeisevergütung für Sonnenstrom nach dem "EEG" drastisch gekürzt. Die am 9.7. 2010 beschlossene EEG-Novelle sieht bis zum 1.1.2012 in vier Schritten einen Rückgang der Solarstromförderung um bis zu 50 Prozentpunkte vor. Wir fordern eine Rücknahme dieser Kürzung, um Deutschland so schnell wie möglich auf 100% erneuerbare Energien umzustellen.


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Quelle:
DA - Direkte Aktion Nr. 205 - Mai/Juni 2011, Seite 8
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2011