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AUFBAU/509: Die Not in der Unterkunft


aufbau Nr. 90, September/Oktober 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Die Not in der Unterkunft


MIGRATION Unweit der Stadt Winterthur, im beschaulichen Kempthal, sind in der Notunterkunft zahlreiche Menschen untergebracht, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt die Machenschaften des Schweizer Migrationsregimes im Umgang mit "Illegalen".


(raw) Die Notunterkunft (NUK) in Kempthal liegt unmittelbar neben dem Bahnhof. In dem alten, dunklen Haus wohnen im Moment 70 Personen, welche in Dreier- oder Sechserzimmer untergebracht sind. Die meisten in der Notunterkunft in Kempthal sind Männer. Sehr selten wird im angrenzenden Haus eine einzelne Familie untergebracht. Eine Familie, die letztes Jahr dort platziert wurde, hatte in den ersten Wochen weder Kühlschrank noch warmes Wasser. Für die 70 Menschen im Hauptgebäude gibt es nur drei Duschen und drei Toiletten. In der Küche hat es verschiedene Kochstationen, wobei nur selten gemeinsam gekocht wird. In dem videoüberwachten Aufenthaltsraum stehen ein Ping-Pong-Tisch und ein Töggelikasten. Diese und das Putz-Ämtli sind die einzigen Beschäftigungen, welche angeboten werden. Internet gibt es im Haus keines. Das private Unternehmen ORS, welche im Staatsauftrag etliche Asylunterkünfte in der Schweiz, in Österreich und Süddeutschland betreibt, bietet nicht mehr. Ihre Aufgabe ist es, die Unterkünfte möglichst günstig zu unterhalten. Gespart wird nicht nur an der Einrichtung, sondern auch am Personal. Die ORS stellt für die Leitung und Betreuung der Unterkünfte selten geschulte Personen ein, sondern die billigsten Kräfte. So ist es keine Seltenheit, dass beispielsweise in den NUKs ehemalige Asylsuchende arbeiten. Diese haben kein Berufskollektiv im Hintergrund und müssen die oftmals schwierigen sozialen Situationen in den Unterkünften alleine regeln, was zu Gewaltanwendung führen kann.

In gut hörbarer Nähe zur NUK in Kempthal befindet sich die Autobahn in Richtung Winterthur, an welcher eine Raststätte mit einem Coop Pronto liegt. Der teure Tankstellenshop und der nahe Volg, ebenso ein Verkaufsladen, welcher nicht für Discountpreise steht, sind die einzigen Einkaufsmöglichkeiten im Dorf. Da es für viele in der NUK Kempthal stationierte Personen zu teuer ist, dort ihre Lebensmittel zu besorgen, fahren sie für den Einkauf nach Effretikon oder Winterthur. Dort existiert auch die Möglichkeit, Lebensmittel einzukaufen, die halal sind. Für abgewiesene AsylbewerberInnen, welchen eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit auf Gemeindeebene, also beispielsweise auf das Gemeindegebiet von Kempthal verhängt wurde, ist der Einkauf ausserhalb des Dorfes ein Risiko. "Illegale", welche mit 8.50 Franken pro Tag durchkommen müssen, machen sich also strafbar, wenn sie für ihr weniges Geld möglichst viel ihres täglichen Bedarfs abdecken wollen. Doch von diesen 8.50 täglichen müssen die Menschen in den NUKs nicht nur ihre Lebensmittel bezahlen, sondern auch Kleidung, Hygieneartikel oder die Nutzung ihres Mobiltelefons. Da der Betrag selten reicht, hat sich bei vielen BewohnerInnen die Gewohnheit ergeben, nur einmal pro Tag eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Nebst den rayonmässigen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit hat das Migrationsamt eine weitere Schikane eingebaut, um für die AsylbewerberInnen das Leben in der Schweiz so unangenehm wie möglich zu gestalten: Um den täglichen Unterhaltsbetrag erhalten zu können, müssen die BewohnerInnen zwei mal täglich eine Präsenzkontrolle durchlaufen, welche sie mit ihrer Unterschrift bestätigen müssen. Dies ist eine weitere Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit und verhindert beispielsweise, dass abgewiesene AsylbewerberInnen am Abend ausgehen, Leute treffen oder Ausflüge unternehmen.

Bald sind die Sommermonate vorbei. Der warme Sommer bot an, dass man sich draussen im Freien aufhalten konnte. Dies hebt ein wenig die Stimmung. Sobald es wieder kühler wird, werden sich die Konflikte im Haus wieder verschärfen. Der Platzmangel und die Fülle der Menschen aber auch die Langeweile fällt in den Wintermonaten schwerer zur Last. Hinzu kommt die Perspektivlosigkeit - abgewiesene AsylbewerberInnen haben alleinig die Option, die Rückreise in ihr Ursprungsland anzutreten oder als "Illegale" in der Schweiz zu bleiben. Für viele kommt eine Heimkehr nicht in Frage, schliesslich waren die Gründe zur Flucht keine Beliebigkeit, sondern ernste Bedrängnisse. Es gibt Menschen, die bleiben sehr lange in einer Notunterkunft. Der "Rekord" in der NUK Kempthal liegt bei 18 Jahren Aufenthalt. Doch obschon in der Schweiz gesetzlich alle Menschen, die hier leben, unabhängig einer Aufenthaltsbewilligung das Recht auf Nothilfe haben, sind die Bedingungen in den NUKs in dem Sinne menschenunwürdig, als dass sie weder Perspektive noch Alternative bieten. Das Scheinangebot der Notunterkünfte nicht zu nutzen, würde nur eines bedeuten: Eine weitere, tiefere Prekarisierung der Geflüchteten. Daher verwundert es wenig, dass viele Menschen in den NUKs unter psychischen Erkrankungen leiden. Depressionen und Posttraumatische Belastungsstörungen sind keine Seltenheit. Viele der Menschen sind abhängig von Medikamenten oder Drogen. Erst vor wenigen Monaten kam es in der Unterkunft in Kempthal zu einem Suizidversuch.

Der Blick in die Notunterkünfte der Schweiz zeigt den Rahmen des Migrationsregimes. Es macht aus abgewiesenen Asylsuchenden eine der prekärsten Bevölkerungsgruppen. Die Nothilfe scheint nicht viel mehr als eine Farce zu sein. Dies zeigt beispielhaft die Tatsache, dass in der Notunterkunft polizeiliche Kontrollen durchgeführt werden, die darauf abzielen, Menschen auf ihren Aufenthaltsstatus hin zu überprüfen. So finden in den staatlich betriebenen Unterkünften für Abgewiesene, die also zwingend den Status von Illegalen haben, Fahndungen nach Menschen mit illegalem Status statt. Es herrscht die paradoxe Situation, dass Menschen nach Abweisung ihres Asylantrags in einer NUK platziert sein müssen, gleichzeitig sind sie jedoch dort vor der Repression nicht geschützt: Regelmässig werden Personen, völlig willkürlich, innerhalb der NUK verhaftet und für einige Tage in Haft gesetzt. Die laufenden Verschärfungen wie die Präsenzkontrollen in den NUKs und die erweiterten polizeilichen Massnahmen erhöhen den Druck auf revolutionäre Bewegungen. In Zukunft gilt es zu diskutieren, wie sich bezüglich den abgewiesenen Asylsuchenden Kämpfe verbinden und Gegenmacht aufbauen lässt.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 90, September/Oktober 2017, Seite 10
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2017

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