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AUFBAU/321: Der Kapitalismus hat keine Fehler


aufbau Nr. 69, mai/juni 2012
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Der Kapitalismus hat keine Fehler



SYSTEMKRITIK Kapitalismuskritik ist heute wieder salonfähig. Seit dem Zusammenbrechen der Märkte im Zuge der sogenannten Finanzkrise gibt es kaum eine Zeitung, in deren Feuilleton nicht über "Alternativen zu unserem Kapitalismus" diskutiert wurde. Und auch in aktuellen Protestbewegungen, wie beispielsweise Occupy, spricht man gerne vom "System", das geändert werden soll. Wie aber unterscheidet sich unsere marxistische Kritik von dieser grossen Bandbreite an "kapitalismuskritischen" Positionen, die man heute zu hören bekommt?


Zuerst einmal betrifft das eine grundsätzliche Analyse dessen, was überhaupt als Kapitalismus oder als das System bezeichnet wird. Viel von der aktuellen Kritik, sei es in den Medien oder in den Protesten, bleibt an der Oberfläche der Phänomene stehen. Verständlicherweise ist die Empörung über die Arroganz von Bankern oder Politikern gross und nicht nur berechtigt, sondern auch wichtig, um Widerstandsbewegungen verschiedenster Art in Gang zu bringen. Denn nur wo sich etwas bewegt, entsteht massenhaft Bewusstsein. Allerdings bleibt die Kritik oft auf dieser Erscheinungsebene stehen: Sie beschränkt sich allzu oft auf einen moralischen Vorwurf oder Appell an die Mächtigen, ohne nach dem tiefer liegenden Grund zu fragen, weshalb dieses Personal des Kapitalismus denn ständig zum Nachteil des grössten Teils der Bevölkerung handelt.

Als KommunistInnen versuchen wir, hinter die Ebene der Erscheinungen wie Armut, Ungerechtigkeit, marode politische Systeme oder Korruption zu schauen. Wir versuchen, das Wesen des Kapitalismus, dass all diese Erscheinungen hervorbringt, zu verstehen. Das war auch Marx' Anspruch, der ihn von unzähligen seiner Zeitgenossen unterschied, die den damals entstehenden Kapitalismus zwar auch kritisierten, aber an seiner Oberfläche kleben blieben. Wer heute so vorgeht, mit dem Vorteil über Marx' Erkentnisse verfügen zu können, der wird schnell feststellen, dass man tiefer graben muss als nur bis zu den gierigen Bankern oder der Zinswirtschaft.

Eine marxistische Kritik versucht, die grundsätzlichen Widersprüche, die den Kapitalismus zu dem machen, was er ist, herauszuarbeiten: Der Klassenwiderspruch zwischen Bourgeoise und Proletariat, zwischen der gesellschaftlichen Produktion der Waren und deren privater Aneignung, zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte des Kapitalismus und der Schranken, die ihnen durch diesen aufgezwungen werden, zwischen den Bedürfnissen der Menschen nach Gebrauchswerten und der Realisierung von Tauschwerten für das Kapital - All diese Gesetze des Kapitalismus werden in ihrer Widersprüchlichkeit analysiert.

Aber das alleine macht noch keinen Marxismus aus. Ebenso wichtig ist es, diese Analyse in der Praxis anzuwenden. Aber was bedeutet das? Von Haus zu Haus zu gehen und die Leute von der wunderbaren Richtigkeit der marxschen Analyse überzeugen zu wollen?

Das war, im Gegensatz zu vielen anderen Sozialisten, nicht Marx' Herangehensweise. Er schaute vielmehr, wo diese Widersprüche des Kapitalismus Reibung erzeugen, wo durch diese Widersprüche Kämpfe entstehen, in denen letztlich das Potential vorhanden ist, diese Gesellschaft zu überwinden. Er erkannte, dass das Subjekt, das diese Kämpfe führte, das Proletariat war. Und dass es galt, die Analyse des Kapitalismus mit den Kämpfen des Proletariats zu verbinden. Verbinden bedeutet jedoch nicht, dass die Analyse bloss den ProletarierInnen "überbracht" werden muss, sondern vielmehr, dass wir als KommunistInnen Teil dieser Kämpfe sind, wie immer sie konkret aussehen mögen. Eben auch die Tatsache, dass die Analyse in der Praxis der Kämpfe angewandt, überprüft, verbessert oder teils auch verworfen wird, macht unsere marxistische Methode aus.


Die eigene Seite stärken

In diesen Kämpfen sind wir parteiisch und nehmen die Seite des Proletariats und der unterdrückten Völker ein. Diese sind die treibenden Kräfte, welche in den Klassenkämpfen die Interessen der Mehrheit durchsetzen und verteidigen können. Aktuell lässt sich international beobachten, wie diese in den verschiedenen Protesten, Bewegungen und Machtverschiebungen in den Auseinandersetzungen an der vordersten Front mit dabei sind. Sei es auf dem Syntagma-Platz in Athen, auf dem Tahrir-Platz in Agypten oder in den Occupy-Kämpfen in Oakland. Dabei gelingt es, dass die objektive Tatsache der Klassenzugehörigkeit mit dem subjektiven Bewusstsein der Klasse zusammenfällt. Das heisst also, nicht bloss im Abstrakten wahrnehmen, dass sich zwei Klassen gegenüberstehen, sondern sich als Teil dieser Auseinandersetzungen wahrnehmen. Handkehrum bedeutet es auch, dass die Interessen der einzelnen ProletarierInnen eben nicht einzeln und für sich betrachtet werden, sondern diese immer im Hinblick auf den grundlegenden Widerspruch zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat verstanden werden. Dort, wo dies gelingt, können aus einer fundamentalen Kapitalismuskritik Einzelforderungen zusammengeführt werden, so dass daraus eine grundsätzliche Infragestellung des heutigen Systems resultieren kann. Schliesslich sind die Probleme, die sich einem Arbeiter in Oakland stellen, nicht verschieden von denjenigen, mit denen sich die Kämpfenden in Athen oder Ägypten beschäftigen. Weltweit geht es darum, angesichts der Krise und ihren Auswirkungen für die Klasse die eigene Seite zu stärken, um so die Errungenschaften zu verteidigen und langfristig zu sichern.

Angesichts der Differenziertheit der Klasse und der Klassenzusammensetzung ist diese Aufgabe keine einfache. Die soziale, kulturelle und politische Homogenität war eine höhere, als in den klassischen Industriestädten die ProletarierInnen in der gleichen grossen Fabrik arbeiteten, im gleichen Quartier wohnten, die gleichen Schulen besuchten und dieselben Freizeitbeschäftigungen hatten (so sie denn Zeit dazu hatten). Die Komplexität der Arbeitsverhältnisse mit immer neuen Verstrickungen und Bedingungen erschwert es, das gemeinsame Element der Situationen und Bedürfnisse der Einzelnen festzustellen. Nicht unberechtigt kann man sich fragen, was denn die Situation eines Detailhandelsangestellten in Zürich mit derjenigen einer Pflegerin in Genf oder eines Industriearbeiters im Tessin gemeinsam hat. Schliesslich sind auf der Erscheinungsebene die Verhältnisse tatsächlich unterschiedlich, die Chefs sind nicht dieselben, die Arbeitsverträge auch nicht und die Löhne erst recht nicht. Werden nun diese einzelnen Beispiele zurückgeführt auf den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Proletariat und Bourgeoisie, also zwischen Arbeit und Kapital, dann zeigt sich das Verbindende auf: Die Chefs mögen unterschiedliche sein, doch die Interessen, die sie vertreten, sind selten diejenigen der ProletarierInnen und meistens diejenigen der Firmenbosse. Bei der Festlegung der Arbeitsverträge sitzt üblicherweise der Chef am längeren Hebel, egal ob auf dieser Seite des Gotthards oder auf der anderen. Und die Löhne werden in Zeiten der Krise zurückgefahren, in besseren wirtschaftlichen Zeiten nur dann zugestanden, wenn sie eingefordert werden.


Heute mit Sicht auf morgen

Darum ist der Revolutionäre Aufbau Schweiz so organisiert, dass diesen Unterschiedlichkeiten der Klasse Rechnung getragen wird. Jeden einzelnen Kampf genau gleich zu behandeln, würde den subjektiven und objektiven Umständen der einzelnen Kämpfe nicht gerecht werden. Es braucht Möglichkeiten, um auf die speziellen Situationen einzugehen und dabei entsprechend den jeweiligen Umständen angemessen zu handeln. Gleichzeitig braucht es eine Kollektivierung der einzelnen Erfahrungen, so dass diese als Teil eines allgemeinen Problems namens Kapitalismus wahrgenommen und angegangen werden können. So können Kämpfe verbunden und vorangetrieben werden, eine Aufgabe, die in Zeiten einer linken Schwäche wichtig ist. Denn in den einzelnen Kämpfen zeigen sich die verschiedenen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, die unter anderem durch das Zusammentragen und politische Analysieren dazu beitragen können, dass aus vielen einzelnen Forderungen eine grundsätzliche nach der Überwindung des Kapitalismus werden kann. Dabei nützt es nichts, so zu tun, als ob alles neutral zu beachten sei. Unsere Analyse und Arbeit verrichten wir aus einer proletarischen Position mit Blick in Richtung einer kommunistischen Gesellschaft, in der die Produktionsmittel allen gehören und nicht einzelnen. So, dass die Klassen abgeschafft sind und nach den effektiven Bedürfnissen der Gesellschaft produziert wird und nicht nach der Logik eines vermeintlich freien Marktes.

Diese Perspektive bedeutet aber nicht, dass wir uns auf die Vision dieser Gesellschaft beschränken wollen. Anders gesagt: Trotz dieses Blickes in die Zukunft bleibt unsere politische Realität eine andere. Das heisst, die Fragen, die sich uns jetzt stellen, sind nicht notwendigerweise die, wie in einer zukünftigen Gesellschaft jeder einzelne Bereich des Lebens bis ins Detail geregelt sein würde. Würden wir uns darauf beschränken, dann würden wir die heutige Situation aus den Augen verlieren. Es gilt, sich im Jetzt die Frage zu stellen, in welcher geschichtlichen Situation wir uns befinden, um über den revolutionären Prozess und durch das Verstehen des "Woher?" die Perspektive zum "Wohin?" aufzumachen. Heute stellt sich uns die Frage, wie wir in der aktuellen Lage mit einer kapitalistischen Krise und ihren verschiedenartigen Auswirkungen (beispielsweise die Zunahme reaktionärer Werte oder die Verschärfung der Repression gegen revolutionäre Kräfte) aufzeigen können, dass es sich lohnt zu kämpfen, und, dass eine langfristige Sicherung der Rechte der Mehrheit nur durch eine Revolution stattfinden kann. Darum intervenieren wir heute mit Sicht auf morgen und wollen einen revolutionären Prozess aufrechterhalten, der eine andere Perspektive als die des Kapitalismus aufzeigt. Es genügt nicht, alle praktischen Aktivitäten auf einen mysteriösen Tag X zu verschieben, an dem auf einmal alles anders wird. Wir können mit den Erfahrungen. die in den heutigen Klassenkämpfen gemacht werden, unsere Theorien überprüfen und anpassen sowie durch die Organisierung versuchen, die subjektiven Kräfte zu bündeln und stärken. Als Teil der Kämpfe können wir ihre Dynamik erkennen und so verstehen, wie sie sich bilden, sich entwickeln und umsetzen.


Gegenmacht aufbauen

Die Theorie und die Praxis bedingen sich gegenseitig, sie sind Teil eines dialektischen Paares. Die eine Seite losgelöst von der anderen zu betrachten, würde dem nicht gerecht werden. Überspitzt gesagt: Widmet man sich nur der Theorie und beschränkt sich beispielsweise auf die Diskussion von politischen Inhalten, kann man den Anschluss zur aktuellen Klassenkampfsituation verlieren, da man nicht Teil davon ist, und wird Schwierigkeiten haben, die Theorie korrekt auf die Praxis anzuwenden und zu überprüfen. Handkehrum ist eine von der Theorie losgelösten Praxis, die ohne Rücksicht auf die Analyse der jeweiligen Situation und ohne stringente Richtung eingreift, wohl selten die ideale Intervention. Geht man also davon aus, dass beide Elemente zusammen gehören, dann kann man nicht Klassenkampf predigen und Sozialpartnerschaft leben. Wenn wir von, einer fundamentalen Bruchposition gegenüber dem Kapitalismus ausgehen, dann schlägt sich dies auch in unserer Arbeit nieder. Die revolutionäre Militanz, die sich als Ausdruck dieses Verhältnisses versteht und eine politische Basis hat, ist ein Beispiel dafür. Der Kapitalismus basiert auf Gewalt und der Unterdrückung der Mehrheit (erinnert sei an imperialistische Kriege, die Niederschlagung von Arbeitskämpfen oder das Aufwärmen von rassistischen Vorurteilen), will man sich diesem System entgegenstellen, muss man davon ausgehen, mit Gewalt konfrontiert zu werden.

Daher ist für uns die revolutionäre Militanz ein Bestandteil dessen, was wir als den Aufbau von Gegenmacht bezeichnen. Gegenmacht aufbauen bedeutet, in den verschiedenen Orten der Klasse zu intervenieren, dabei eine Alternative zum jetzigen Zustand aufzuzeigen und zu verbinden. Dies betrifft verschiedenste Aspekte, wie die Kultur, die Arbeit und die Politik. Findet in diesen verschiedenen Bereichen ein revolutionärer Prozess mit gemeinsamer Stossrichtung statt, dann kann eine revolutionäre Perspektive fassbar werden. An den unterschiedlichsten Orten wird eine fortschrittliche Alternative zum jetzigen Zustand konkret. Für diese Entwicklung sind Elemente wie der öffentliche Raum (in dem unterschiedliche Kämpfe sich ausdrücken, zusammen kommen und anschlussfähig werden können) oder die internationale Solidarität, welche länderübergreifend die Kämpfe des Proletariats verbindet, um sich so gegenseitig zu stärken und auszutauschen, zentral. Daher muss derartigen Elementen eine grundsätzliche Bedeutung zugerechnet werden, die sich auch in der politischen Arbeit niederschlägt. Also: Der Kampf für den öffentlichen Raum und um die internationale Solidarität sind Bestandteile der Erhaltung und Wiedererkämpfung von den Orten, wo aus Einzelforderungen grundsätzliche Forderungen werden, die die verschiedensten Facetten des Proletariats umfassen und dabei revolutionäre Prozesse zu einer Perspektive werden lassen können. (gpw)

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 69, mai/juni 2012, Seite 1+3
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2012