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AUFBAU/316: Matsushimas giftiger Stachel


aufbau Nr. 68, März / April 2012
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Matsushimas giftiger Stachel
Zwischen Schnitttechnik und Knastrevolte: Das Spiel von Form und Inhalt in einem japanischen Klassiker

Filmbesprechung



(gpw) Sasori - Skorpion(1) ist ein Film des japanischen Regisseurs Shun'ya Ito aus dem Jahr 1972. Es ist der erste Teil einer sechsteiligen Mangaverfilmung, wobei die weiteren Teile teilweise unter einem anderen Regisseur und mit anderen Schauspielern gedreht wurden. Die Bezeichnung Sasori bezieht sich hier nur auf den ersten Film. Er erzählt die Geschichte von Nami Matsushima, genannt Matsu. Nachdem sie sich in den Polizisten Sugimi verliebt, setzt er sie als Spitzel in einer Yakuza-Bande ein. Matsu wird enttarnt, von Mitgliedern der Bande vergewaltigt und von Sugimi fallengelassen. Als sie erkennt, dass sie für Sugimi bloss ein Werkzeug war, versucht sie sich zu rächen und ihn zu ermorden. Der Versuch misslingt und Matsu landet im Knast. Für die Misshandlungen durch die Wärter rächt sie sich geschickt, aber nicht nachweisbar und jegliche Folter um Aussagen von ihr zu erpressen, erträgt sie mit stoischer Ruhe und eisigem Blick. Im Zuge eines Gefangenenaufstandes gelingt ihr die Flucht und sie tötet sowohl die Mitglieder der Yakuza-Bande, als auch ihren ehemaligen Geliebten Sugimi. Am Ende des Films findet sie sich erneut auf dem Gang des Frauenknasts wieder.


Japans schöne harmonische Seele

Eines fällt in Sasori sofort auf: Alle vorkommenden männlichen Figuren sind ausgesprochen widerlich und brutal dargestellt. Der Regisseur, ein Gewerkschaftsaktivist, der aufgrund seines politischen Engagements lange keine grösseren Filme drehen konnte, entwirft das Bild eines repressiven, ausbeuterischen und manipulatorischen (Knast-)systems, in dem die weiblichen Gefangenen von einer handvoll Männer beherrscht werden. Die Analogie auf das Japan der 70er Jahre ist unübersehbar. Bezeichnend dafür auch die Szene, in welcher der Polizist Sugimi sich mit einem Yakuza-Boss trifft, um im Knast die Ermordung Matsus vorzubereiten. Während seine Limousine durch die Stadt fährt, bleibt die Kamera für einige Sekunden auf ein Banner konzentriert, das von einem Hausdach hängt: "Japans schöne harmonische Seele" steht darauf.

Man sollte sich von Genrebezeichnungen wie Exploitation, Sexploitation oder Pinky Violence, in die der Film eingeordnet wird, nicht abschrecken lassen. Zwar ist Gewalt, gerade auch sexuelle(2), ein integraler Bestandteil von Sasori, allerdings werden solche Szenen nie um ihrer selbst Willen gezeigt, sondern immer, um damit eine offensichtliche Gesellschaftskritik zu transportieren. Ausserdem ist keine dieser Szenen von unterhaltsamer Art, sie wirken auf den Betrachter vielmehr verstörend und abstossend. Insbesondere auch diejenigen Szenen, in denen sich die Hauptperson an ihren Peinigern rächt(3).

Drei Mal wird im Film die japanische Flagge gezeigt. In Form von Matsus Blut auf weissem Bettlaken, als sie ihre Unschuld an Sugimi verliert - eine Szene in Theaterform, wie weiter unten ausgeführt wird - und zu Beginn und Ende des Films jeweils als Flagge an einem Fahnenmast. So wird die japanische Gesellschaft und ihre Kritik deutlich als Rahmen der Handlung hervorgehoben.


Zwischen Vereinzelung und Kollektivität

Der Film zeigt die Brutalität des Knastsystems schonungslos. Die Misshandlungen durch die Wärter, die Zwangsarbeit, die Einzelhaft und vor allen Dingen die Vereinzelung der Gefangenen. Erfolgreich spielt die Knastverwaltung die einzelnen Gefangenen gegeneinander aus. Dazu verwendet sie in erster Linie zwei altbekannte Mittel. Einerseits existieren privilegierte Gefangene, so genannte Gefangenenaufseherinnen, welche Funktionen der Wärter übernehmen und diesen in ihrer Brutalität in nichts nachstehen. Andererseits werden Kollektivbestrafungen erlassen, um die anderen Gefangenen insbesondere gegen die unbeugsame Matsu aufzubringen, was auch zu weiten Teilen gelingt.

Trotz dieser hoffnungslos wirkenden Situation erleben wir in Sasori auch Momente der Kollektivität. Insbesondere natürlich den Gefangenenaufstand, der immerhin einen Sechstel des gesamten Filmes einnimmt und in dem sich die Frauen bewaffnen und sich mit einigen Wärtern als Geiseln verschanzen. Zwar wird auch im Zuge des Aufstands Matsu von ihren Mithäftlingen misshandelt, zumindest solange bis eine ihr nahestehende Gefangene den Zorn auf eine Gefangenenaufseherin ablenken kann. Doch geht es primär gegen das Knastsystem. Die Forderungen sind: "Ende der Erniedrigungen, der Sklavenarbeit und der Schläge". Und obwohl die Gefangenen nie ganz aufhören sich auch untereinander zu bekämpfen und der Aufstand schliesslich niedergeschlagen wird, weist er doch auf die kurz aufleuchtende kollektive Möglichkeit hin, sich gegen das Knastsystem erfolgreich zu wehren.


Das Aufbrechen der Illusion

Film ist in vielen Fällen ein illusorisches Medium. Nicht in dem Sinn, dass die ZuschauerInnen das gezeigte tatsächlich für real halten, aber sie sollen sich zumindest für die Dauer des Films bewusst der Illusion hingeben, sich völlig vom Film packen lassen und im eigentlichen Sinn vergessen, dass sie einen Film schauen. Typisch dafür ist beispielsweise die Schnitttechnik des klassischen Hollywood-Kinos, der so genannte "Unbemerkte Schnitt". Dabei wird so geschnitten, dass ZuschauerInnen die einzelnen Schnitte kaum mitbekommen und das Versinken im Film und der Handlungsfluss möglichst wenig gestört werden. Aber auch sonst werden aufsehenerregende Schnitte, Kameraeinstellungen oder Beleuchtung vom Publikum oft als störend für die Handlung empfunden und ausserhalb von unbekannteren Independence-Filmen selten angewandt.

Shun'ya Ito geht hier in Sasori einen anderen Weg. So benützt er die Beleuchtung beispielsweise oft in expressionistischem Sinn, um die Gefühle und Stimmungen der Protagonisten auszudrücken. Beispielsweise als die untergehende Sonne die Szenerie genau im Moment des beginnenden Aufstandes blutrot färbt. Weiter werden teils extreme Kameraeinstellungen verwendet. So ist in einer Einstellung die Kamera auf Höhe der Decke eines Gefängnisganges, als eine verletzte Gefangenenaufseherin auf einem Krankenbett den Gang entlang geschoben wird. Die Kamera folgt der Bewegung des Bettes, indem sie sich nach unten neigt. Als das Bett genau unter der Kamera durchfährt erfolgt jedoch kein Schnitt, sondern die Kamera und damit das Bild, drehen sich auf den Kopf, um dem Bett weiterhin folgen zu können. Auf diese Weise wird einem als Zuschauer die Kamera radikal bewusst. Andere Sequenzen, wie der erste Mordversuch Matsus an Sugimi, sind durch eine spezielle Stilisierung von Kleidung, Bewegung und Mimik und eine langsamere Ablaufgeschwindigkeit comichaft und referieren auf die originale Manga-Vorlage des Filmes. Am auffälligsten jedoch sind wohl diejenigen Sequenzen, die als Theater gehalten sind. So die Erinnerungssequenz Matsus, in der sie rückblendend von ihrer Beziehung zu Sugimi erzählt, welche sie in den Knast brachte. Hierbei wird eine typische Theaterbeleuchtung verwendet, sowie drehbare Theaterkulissen. In einer anderen Szene wird Matsu von einer Gefangenenbeauftragten angegriffen und schlägt dieser eine Glastür ins Gesicht. Als sich Matsus Gegnerin die Glassplitter aus dem Gesicht wischt, werden die Blutspuren darauf zur typischen Maske einer Schauspielerin des Kabuki, des traditionellen japanischen Theaters und der Kampf wird entsprechend theatralisiert zu Ende geführt.

All diese Techniken, die zur Entstehungszeit von Sasori teilweise gut als revolutionär bezeichnet werden konnten, haben eines gemeinsam: Sie irritieren den Zuschauer, brechen die filmische Illusion auf und stellen Dinge wie Beleuchtung oder Kamera mit einem Mal ins Zentrum. Während man als Film-Laie solche Instrumente oft überhaupt nicht mitbekommt, drängt sich hier plötzlich die Frage auf, was der Film mit dieser oder jener Kameraeinstellung, Beleuchtung oder Theaterszene eigentlich aussagen möchte und es wird Raum für spannende Diskussionen geöffnet.

Interessant ist hier ein Vergleich mit Berthold Brechts "Epischem Theater". Brecht fürchtete, vereinfacht gesagt, dass sich die ZuschauerInnen im gewöhnlichen Theater mit einer Person identifizieren und sich so durch Emotionen völlig ins Geschehen hineinziehen lassen. Sein Ziel war jedoch, dass das Publikum wirklich über das Gesehene nachdenke und nicht bloss emotional mitleide. Dafür war eine gewisse kritische Distanz zum Geschehen nötig, die Brecht mittels sogenannter Verfremdungseffekte erreichen wollte. Beispielsweise nahm sich eine Schauspielerin plötzlich ein Sprachrohr und kommentierte gegen das Publikum gerichtet das Geschehen auf der Bühne. Die Effekte, die Shun'ya Ito in Sasori einsetzt, lassen sich damit durchaus vergleichen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nicht nur die inhaltlichen, sondern auch die formalen Aspekte, Sasori zu einem sehens- und diskussionswerten Klassiker des japanischen Kinos machen.


Anmerkungen:

(1)‍ ‍Der japanische Originaltitel lautet: Joshu 701-go: Sasori. Der deutsche Titel: Weiblicher Häftling Nr. 701: Skorpion. Im DVD-Handel findet man die deutsche Version meist unter dem englischen Titel Sasori - Scorpion

(2)‍ ‍Sexualität als Machtinstrument wäre ein weiteres Motiv in Sasori, für dessen Analyse hier leider der Platz fehlt. Die Rolle der Sexualität bleibt den ganzen Film über die eines Machtinstrumentes. Sei es durch die sexuelle Misshandlung der Gefangenen durch die Wärter oder aber auch, als sich Matsu eine Informantin der Knastadministration dadurch gefügig macht, indem sie diese verführt. Weiter wäre auch die Szene zu nennen, in der die aufständischen Gefangenen über ihre männlichen Geiseln herfallen.

(3)‍ ‍Im scharfen Gegensatz dazu steht Quentin Tarantinos Kill Bill, der stark an Sasori angelehnt ist. Tarantino schafft es sehr erfolgreich, so gut wie alle gesellschaftlichen Aspekte aus den von ihm entlehnten Motiven zu entfernen und daraus ein gut erzähltes, allerdings rein privates Rachespektakel zu machen.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 68, März / April 2012, Seite 16
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2012