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AUFBAU/298: England - Mehr Freiheit, weniger Universität


aufbau Nr. Nr. 66, September/Oktober 2011
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

SPARPOLITIK

Mehr Freiheit, weniger Universität


Das bereits angeschlagene Universitätssystem Englands wird in den kommenden Jahren einer Radikalreform unterzogen. In der Lehre wird gespart und geforscht werden darf nur noch nach Gusto der Regierung.


(az) Die Studentinnenproteste Englands von letztem Winter waren beeindruckend, allerdings angesichts einer Verdreifachung der Studiengebühren auf £ 9000 auch leicht verständlich. Bis zu 50.000 DemonstrantInnen versammelten sich in der Londoner Innenstadt, ein Teil davon griff militant den Hauptsitz der konservativen Partei "Tones" an und besetzte ihn kurzfristig. Ohne Wirkung jedoch: die Regierung sitzt den Massenprotest schweigend aus, genauso wie sie auf besorgte offene Briefe von Seiten der ProfessorInnen nicht reagiert. Die Universitätsapparate selbst stehen schon dermassen mit dem Rücken zur Wand, dass von ihnen kein Protest mehr laut wird, dabei geht es für viele Institute um die Existenz bei dieser totalen Umwälzung.

Der Vorgang ähnelt in der Art den Hartz-IV-Reformen in Deutschland: Die Labour-Regierung hatte der "Browne-Kommission" den Auftrag erteilt, eine Reform auszuhecken, die nun von der amtierenden Regierung ohne wenn und aber umgesetzt wird. Angriffe gegen die Universitäten sind in England nicht neu, seit Thatcher wird gespart. Aber bis 2004 blieben die staatlichen Universitäten gebührenfrei. Dann kürzte der Staat seine Ausgaben drastisch und 'erlaubte' den Hochschulen Gebühren bis hin zu £ 3.000 zu erheben, so die offizielle Sprachregelung. In Tat und Wahrheit nötigte er sie dazu, schliesslich mussten die Ausfälle irgendwie kompensiert werden. Jetzt streicht der Staat seine Beiträge an den universitären Unterricht auf einen Schlag um mehr als 40%, die Universitäten 'dürfen' dafür ab 2012 bis zu £ 9000 Gebühren erheben und alle werden es tun da wieder kein Spielraum für tiefere Gebühren besteht. Das steht im Widerspruch zur Marktlogik der Browne-Reform, die davon fantasiert, dass die Nachfrage sowohl den Preis als auch die Qualität der Ausbildung regeln würde. Dass die Qualität der Ausbildung an deren Inhalten gemessen werden müsste, ist die eine Seite. Die andere dass auch der Preis beim bestehenden Unterangebot nicht so reguliert werden kann. In einem Land, in dem gewöhnliche Berufsausbildungen eine Seltenheit sind und Diplome an Hochschulen erworben werden, werden die Jungen gezwungen jeden Preis zu bezahlen und sich zu verschulden, wenn sie eine Qualifikation erlangen wollen.


Forschen, was der Regierung passt

Der noch massivere, aber weniger beachtete Angriff vollzieht sich indessen im Bereich der Forschung. Deren Finanzierung wird aufgrund der Forschungsevaluation von 2014 neu verteilt werden, so dass sie die London Review of Books als "schlecht für die Naturwissenschaften und grausam gegenüber den Gesellschaftswissenschaften" anprangert. Und da zeigt sich, dass besonders jene, die den freien Markt predigen, diesem wenig vertrauen. Hier wird offenherzig überreguliert. So bleiben vorerst die wichtigsten staatlichen Budgets für Forschungsausgaben zwar bestehen, deren Vergabe aber sehr rigide gehandhabt: Um Chancen auf Beiträge zu haben, müssen Forschungsprojekte nachweisen, dass sie einen "Impact" auf Wirtschaft und Gesellschaft haben. Die Vorgaben gehen aber noch weiter und berauben die Universitäten jeglicher Möglichkeit, selber über die Forschungsinhalte zu bestimmen. Beispielsweise indem keine kleinen Projekte mehr akzeptiert werden sollen. Oder auch durch die Festlegung strategischer Forschungsbereiche. So wurde der Rat für "Arts and Humanities" (Künste und Gesellschaftswissenschaften) angewiesen, den Löwenanteil der zur Verfügung stehenden Gelder in sechs strategischen Forschungsbereichen auszugeben. Ein solcher strategischer Sektor trägt z.B. den bezeichnenden Titel "Bürgerwerte und aktive Bürgerschaft".

Nebenbei sei auch noch bemerkt, dass die von der Browne-Kommission überdeterminierte Forschungsfinanzierung gleichzeitig von den EntscheidungsträgerInnen frei und willkürlich gehandhabt werden kann. Da beispielsweise keine Definition von "Impact" vorliegt, sondern nur die Auflage, diesen nachzuweisen, liegt der Argumentationsnotstand aus Prinzip auf Seiten der Forschenden. Welche Forschung der Beiträge für würdig erachtet wird und welche nicht, ist weltweit eine Frage der Macht und führt überall zu einer grosszügigen Bevorzugung der Technik und Naturwissenschaften. In England allerdings trägt sich der entwickelte Kapitalismus gerade selbst zu Grabe, denn bahnbrechende Innovationen entwickeln sich immer wieder überraschend, die Bürokraten haben ganz gewiss nicht die Fähigkeit, sie vorherzusagen oder gar zu forcieren. Dass sich die Wirtschaft nicht gegen die Reform wehrt, ist deshalb der Punkt, der am allermeisten verblüfft. Leider vollzieht sich das Ganze in einer Form, die für eine Mehrheit der Bevölkerung eine weitere und massive Verschlechterung des Lebensstandards bedeuten wird.


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich Jagj)


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Quelle:
aufbau Nr. 66, September/Oktober 2011, Seite 9
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2011