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AUFBAU/258: In nordirischen Provinzen wächst der Widerstand gegen das Karfreitagsabkommen


aufbau Nr. 60, März/April 2010
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"They're still a rich man's police force, to serve a rich man's state..."


IRLAND - Fast zwölf Jahre nach dem Karfreitagsabkommen sind die nordirischen Provinzen alles andere als stabil. Der Widerstand gegen das Abkommen wächst ebenso wie die Repression gegen die Widerständischen.


(gpw) Die momentane Lage im besetzen Gebiet Irlands ist geprägt von einer wachsenden Angst der bürgerlich-loyalistischen und "nationalistisch"-reformistischen Parteien, wie beispielsweise die einstmals revolutionäre Partei Sinn Féin, sowie der britischen Regierung, dass republikanische Organisationen, die sich gegen das verräterische Karfreitagsabkommen stellen, an Einfluss und Macht gewinnen könnten. Die Medienhetze gegen diese Kräfte wächst mit jedem Tag und auch die britische Polizei warnt vor einer Erstarkung der militärischen und politischen Organisationen des Widerstandes. Der ehemalige IRA Kommandant und heutige stellvertretende Vorsitzende der reformistischen Sinn Féin, Martin McGuinness, welcher seine früheren revolutionären Aktivitäten für einen bequemen Sitz im britischen Parlament und Ferienhäuser am Strand eingetauscht hat, bezeichnete im vergangenen März die heute aktiven IRA Militanten, als "Verräter". Diese Worte lassen nicht nur die Angst der in den sogenannten Friedenprozess integrierten Kräften vor militanten Aktionen erahnen, sondern stellen in bemerkenswerter Weise den Wandel dar, welche Sinn Féin durchlaufen hat. Die Verräter sind wohl diejenigen, welche wie Martin McGuinness heute die militanten Kräfte verurteilen, zu denen sie jahrelang gehört hatten.


Militante Kräfte legen zu

Die Angst des Establishments hat zwei Ursprünge. Einerseits sind es die zunehmenden und oft erfolgreichen militärischen Aktivitäten der Anti-Abkommen IRA Kräfte, die mehr und mehr Unterstützung aus der ArbeiterInnenklasse gewinnen, welche die classe politique beunruhigen. Obwohl Martin McGuinness diese Gruppen als "Mikrogruppen" bezeichnet, ist ihre Unterstützung in den republikanischen proletarischen Quartieren unübersehbar. Die dem Abkommen zustimmende Provisional IRA hat zwar ihre Waffen vernichtet und sich aufgelöst, und die marxistische Irish National Liberation Army (Irische Nationale Befreiungsarmee, INLA) lehnt heute den bewaffneten Kampf in jeglicher Form ab. Doch drei andere militärischen Organisationen, die "Real" IRA, die Continuity IRA und Óglaigh na h'Éireann vertreten die Position, dass sich die Bedingungen für den bewaffneten Kampf heute im Vergleich zu den 70er oder 80er Jahren verändert haben, dieser Kampf jedoch immer noch eine strategische Rolle spielen könne.

Andererseits stützt sich die Angst des Establishments auf die wachsenden Aktivitäten der politischen Organisationen, welche gegen das Abkommen sind, und die im Gegensatz zu den militärischen Organisationen nicht verboten sind. Organisationen wie die Irish Republican Socialist Party (IRSP), die Republican Network for Unity (Republikanisches Netzwerk für Einheit, RNU) und die 32 County Sovereignty Movement (32 Grafschaften Souveränitätsbewegung, 32 CSM), die alle das Ziel einer sozialistischen Republik verfolgen, gewinnen massiv an Einfluss und steigern auch den Grad ihrer Aktivitäten. Sie alle waren äusserst aktiv in Kampagnen zum "Nein zum EU-Lissabonvertrag", zu Wohnungsfragen und natürlich in Kampagnen für die Freilassung von politischen Gefangenen. Auch lancierten diese Organisationen Drogenpräventionskampagnen, um den Quartieren, in denen Drogen ein zunehmend ernsthaftes Problem darstellen, zu Hilfe zu kommen. In ihrer Neujahrserklärung 2010 hat die 32 CSM erklärt, dass die reformistischen und bürgerlichen Parteien die Quartiere im Stich gelassen hätten, diese aber - wenn sie sich gut organisieren würden - dennoch nicht ohne Macht seien.


Normalität soll Einzug halten

Diese Gruppen IRSP, RNU und 32 CSM arbeiten auch eng in der Kampagne zusammen, die sich gegen die "reformierte" britische Polizei richtet. Der Police Service of Northern Ireland (PSNI) hatte nach dem Freitagsabkommen die Royal Ulster Constablury (RUC) abgelöst. Nach dreissig Jahren Todesschwadronen, Folter und Inhaftierung von ArbeiterInnen sollte die PSNI gemäss dem Establishment nun plötzlich der sogenannte "Freund und Helfer" werden. Doch, wie der ehemalige republikanische Gefangene Ciaran Murphy es richtig zusammenfasst: "Sie sind immer noch eine Polizei des reichen Mannes, die dem Staat des reichen Mannes dient" (1).

Die PSNI versucht durch öffentliche Veranstaltungen und Treffen in den republikanischen Quartieren die Leute davon zu überzeugen, dass sie auf ihrer Seite steht. Die reformistische Sinn Féin leistet der PSNI, wo immer sie nur kann, Hilfe und versucht die Leute anzuregen, die PSNI mit Informationen über "Terroristen" und "Dissidenten" zu beliefern; dies jedoch ohne Erfolg.

Die Versuche der britischen Polizei die Leute auf ihre Seite zu ziehen, müssen im grösseren Kontext des Projekts für eine sogenannte "Normalisierung" gesehen werden. Der besetzte nördliche Teil Irlands soll endlich Wieder "normal" und die Bestrebungen nach Unabhängigkeit und Antiimperialismus fallen gelassen werden. Englische und amerikanische Firmen sollen sich sicher genug fühlen, um in diesen Provinzen ihr Kapital zu investieren und die ArbeiterInnen auszubeuten. Die Profitrate soll endlich wieder steigen.

In einem ähnlichen Zusammenhang müssen wir auch die neulich stattgefundene Selbstentwaffnung der probritischen paramilitärischen Ulster Defense Association (UDA) sehen. Jahrzehntelang terrorisierte diese Einheit mit der aktiven Hilfe der britischen Regierung republikanische Quartiere. Doch im heutigen politischen Klima, in dem die Arbeiterklasse durch den Reformismus gewonnen werden soll, haben diese Todesschwadrone für die britische Regierung und die herrschende Klasse nur noch einen geringen Nutzen. Die Leine wird also entsprechend enger angezogen. Das ist für die Loyalisten/Unionisten akzeptabel, da der Verrat der Provisional IRA und Sinn Féin vollzogen ist, diese Gruppen sich vom bewaffneten Kampf abgewandt haben, und das Karfreitagsabkommen die Besatzung zementiert hat.


Der reformistische Kurs ist nicht allseits beliebt

Doch scheint diesem reformistische Kurs der britischen Regierung und der Sinn Féin, der zu Beginn des Abkommens noch einigermassen funktionierte, längerfristig keinen Erfolg beschieden zu sein. Das Scheitern des Reformismus drückt sich auf zwei Ebenen aus. Einerseits erkennen viele UnterstützerInnen von Sinn Féin, dass sie mit dem Abkommen ein freies, sozialistisches Irland niemals erreichen werden und dass das Abkommen die britische Besatzung stärkt und nicht schwächt. Auch die von Sinn Féin der britischen Polizei gewährte Unterstützung scheint viele dazu zu bewegen, ihre Positionen nochmals zu überdenken. Mehr und mehr Leute schliessen sich aus diesen Gründen den Anti-Abkommenskräften an. Andererseits nimmt die Repression der britischen Polizei immer härtere Ausmasse an, was ebenfalls darauf schliessen lässt, dass der Reformismus doch nicht ganz zu funktionieren scheint. Diese Repression äussert sich in der Form von Hausdurchsuchungen, Schlägen und Inhaftierungen von. WiderstandskämpferInnen, ohne dass diese durch ein Gericht verurteilt würden.

Während die Sinn Féin um ihre Mitglieder und UnterstützerInnen bangen muss, scheinen die Anti-Abkommensorganisationen zuversichtlicher und grösser zu werden. Die Angst des Establishments scheint berechtigt zu sein und die Wörter des hingerichteten IRA Anführers Padraig Pearse gewinnen wieder an Bedeutung: "Ireland unfree shall never be at Peace" - "In einem unfreien Irland wird niemals Frieden herrschen".


Anmerkung:
(1) "[...] They're still a rich man's police force, to serve a rich man's state [...]", aus dem Lied von Ciaran Murphy, "They'll always be the RUC to me".


Irland unter der Lupe

Im aufbau Nr. 58 und 59 haben wir die Situation in Irland aus einer sozialistischen Perspektive historisch beleuchtet. Im dritten Teil dieser Dokumentation geht es nun um die heutige Situation und um die Bewegungen, welche sich gegen das Freitagsabkommen stellen.


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Arbeitsgruppe Winterthur (agw), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur)


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Quelle:
aufbau Nr. 60, März/April 2010, S. 13
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Bern, Postfach 87, 3174 Thörishaus
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
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aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich, Fax 0041-(0)44/240 17 96
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2010