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AUFBAU/229: Interview mit Emmely - Teil 1


aufbau Nr. 58, September/Oktober 2009
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Was ich nicht gemacht habe, gebe ich auch nicht zu"
INTERVIEW MIT EMMELY TEIL 1

Zuerst kämpfte sie für bessere Arbeitsbedingungen, dann gegen ihre Entlassung.


(agjk/az) Emmely streikte als Verkäuferin bei Kaisers, worauf sie nach 31 Jahren Anstellung per "Verdachtskündigung" entlassen wurde. Angeblich soll sie Pfandbelege im Wert von 1.30 Euro veruntreut haben. Ihr Kampf gegen die Kündigung wurde seit gut einem Jahr in der ganzen deutschen Medienlandschaft zum Symbol für prekäre Arbeit. Im folgenden Interview erzählt sie von der DDR und den Veränderungen der Arbeitsbedingungen nach der Wende. Im zweiten Teil - in der nächsten Zeitungsausgabe - fragen wir nach der grossen Solidarität, die ihren Kampf unterstützt, und nach der Rolle der Gewerkschaften.

FRAGE: Warum denkst du, wehren sich so wenige Menschen gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingung oder gegen Entlassungen?

EMMELY: Weil die Leute nicht begreifen, dass wenn Einer geht, sie die nächsten sind. Das ist überall das Problem. Die aktiven Leute werden schnell isoliert. Man muss sich zusammentun. Ich weiss nicht, warum so wenige Kolleginnen beim Streik mitgemacht haben. Wenn ich doch das Gefühl habe, da kommt was dabei heraus, und nicht nur für mich, sondern für alle, dann überlege ich nicht viel, dann tue ich es einfach. Andere Kolleginnen geben die Verantwortung ab, indem sie sagen: "Ich bin nicht so kämpferisch wie du, mach du das mal für uns". Aber im Grunde genommen sind das alles nur Angstpfeiffen.

FRAGE: Warst du schon immer so?

EMMELY: Ja, ich war immer so. Ich hatte drei Brüder zu Hause, da musste ich mich durchsetzen. Ich konnte mich doch als grosses Mädchen von solchen kleinen Piepels nicht verprügeln lassen. Da muss man schon ein bisschen Kraft entgegenbringen. Wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, dann wehre ich mich. Dann ist mir egal, was andere davon halten.

FRAGE: Hast du lange bei Kaisers gearbeitet?

EMMELY: Ja und nein, das muss man anders erklären. Kaisers gab es ja erst nach der Wende. Ich habe damals in der DDR bei der Handelsorganisation HO gelernt und gearbeitet. Nach der Wende hat Kaisers nach einer zweijährigen Zwischenlösung alle HO-Läden in Berlin aufgekauft. 170 Läden waren es damals und jetzt sind es noch 150. Und in Zukunft sollen es nur noch 80 sein. Alle fünf Jahre gibt es ein neues Konzept. Dabei werden alle Märkte umgebaut oder ganz geschlossen. Bei der Gelegenheit kündigen sie allen alten Kolleginnen. Kaisers will nur noch Jungvolk. Nur noch Ein-Euro-Jobberinnen, Minijobberinnen und Praktikantinnen, die in Vier-Stunden-Schichten eingestellt werden. Ein kleiner harter Kern von zwei Leuten soll in jedem Markt vorhanden sein, denen dann die Ungelernten zuarbeiten.

FRAGE: Was hat sich bei der Übernahme von Kaisers damals verändert?

EMMELY: Die Verträge blieben gleich, sie wurden mit den gleichen Bedingungen übernommen. Die Änderung der Verträge hätte Kaisers nur in Absprache mit der Gewerkschaft machen können und da hätte sich die Gewerkschaft gewehrt. Aber natürlich wurden viele nach der Wende entlassen und mit neuen Verträgen als Zeitkraft wieder angestellt. So wird das oft gemacht, zum Beispiel auch bei Opel. Die haben eine Zeitarbeitsfirma im Betrieb. Den Kollegen wird gekündigt und sie werden als Zeitarbeiter wieder angestellt mit einem neuen Vertrag. Sie haben dann also unter viel schlechteren Bedingungen wieder bei Opel gearbeitet. Bei Kaisers ging das über die Zeitarbeitsfirma easywork. Damals waren es in meiner Halle 144 Leute und jetzt sind es nur noch 36 mit altem Vertrag. Alle anderen sind schon ersetzt worden. Die Qualität der Arbeit wurde immer schlechter. Es gibt keine Kundenberatung mehr. Durch die Vier-Stunden-Schichten verhindern sie auch, dass wir uns gewerkschaftlich zusammentun. Der Kündigungsschutz fällt weg, weil nur noch Sechs-Monats-Verträge abgeschlossen werden. Zusätzlich wird durch die geringfügige Beschäftigung die Konkurrenz untereinander gesteigert.

Es gibt unterschiedliche Verträge in Ost und West. In der Gewerkschaft sollte es eigentlich keine Unterschiede geben. Eigentlich gilt, wenn es Tarifabschlüsse gibt, sollen diese gleich sein. Aber gleich heisst, dass die Osthälfte fast 200 Euro weniger verdient als die im Westen.

FRAGE: Es gibt also nicht nur die Diskriminierung zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen West und Ost.

EMMELY: Und nun sollten die Westlöhne an die Ostlöhne angepasst werden. Alle Zuschläge sollten abgeschafft werden und auch das Weihnachts- und Urlaubsgeld. Eine Lohnerhöhung habe ich quasi noch nie erlebt. Wir haben gesagt es muss jetzt endlich noch ein wenig mehr Kohle rüber kommen. Die Forderung von 6,5 Lohnerhöhung war ja nichts. Andere haben für 30% gestreikt.

FRAGE: Wann habt ihr angefangen euch zu wehren?

EMMELY: Vor zehn Jahren bin ich das erste Mal hellhörig geworden, da begannen sie die Leute zu ersetzen. Sie gingen mit den Stunden runter oder schlugen vor, dass die Alten in die Frührente gehen. Sie haben uns dann alle runter gedrückt mit den Stunden. Aber niemand wurde zusätzlich angestellt. Ich habe mich zuerst so wie alle anderen angepasst. Mein Gefühl das immer mehr Leute entlassen werden, wurde durch die Gewerkschaft bestätigt. Wenn die dann wieder Tarifverhandlungen hatten und ein neuer Tarifvertrag kam, da hat sich für keinen was verändert, gemacht haben sie genau das Gegenteil von dem was sie gesagt haben. Zwar stand im Tarifvertrag nach den Verhandlungsabschlüssen immer alles schön aufgelistet, aber bei der realen Arbeit konnte das nicht durchgesetzt werden. Es müssen weniger Leute das schaffen, was früher mehr Leute gemacht haben. Wir sind mehrheitlich Frauen in dem Niedriglohnsektor und können von unserem Lohn kaum leben. Es ist Wahnsinn, wir Alten werden mit den Stunden immer weiter gedrückt. Die Neuen werden für vier Stunden die Woche eingestellt und arbeiten aber dünn bis zu 20 Stunden.

FRAGE: Die Arbeitszeiten haben sich also stark verändert?

EMMELY: Ja, sie sind total flexibel geworden. Damals mit der Wende sind deshalb auch die meisten Ehen kaputt gegangen. Wir hatten damals geregelte 8 Stunden Arbeit pro Arbeitstag. Heute arbeitest du nicht so geregelt. Die haben uns die Arbeitszeit immer weiter auseinander geschoben und da ist natürlich in den Familien viel passiert. Viele haben sich gar keine Kinder mehr angeschafft, weil die Kindertagesstätten (Kita) ja gar nicht mit der Flexibilisierung der Arbeitszeit mitgezogen haben. Wir hatten damals in der DDR eine richtig gute Kita-Betreuung von 6 bis 18 Uhr. Meine Kinder waren 10 bis 12 Stunden täglich in der Kita. Es gab auch Wochenkinderkrippen für die Schichtarbeiterfamilien. Und für Alleinerziehende gab es viele staatliche Vergünstigungen. Deshalb gab es viele Alleinerziehende, die zwar einen Partner hatten, aber nicht verheiratet waren. Um die Vergünstigungen zu bekommen, musste man oft durch 100 Instanzen und auch Anträge stellen für die ganzen Sozialleistungen. Das war nicht so einfach.

FRAGE: Die KollegInnen aus deiner Generation kommen alle aus dem Osten?

EMMELY: Ja, die meisten. Es gibt auch einen Konflikt zwischen den Ost- und Westbürgern. Die Kolleginnen haben genau wie ich vor 30 Jahren angefangen. Zu diesem Zeitpunkt 1976/77 war das Jugendfestival hier in Ost-Berlin. Die Weltjugend wurde dort eingeladen, das gab es alle vier Jahre. Da haben sie die Besten aus den ganzen Regionen der DDR nach Ost-Berlin geschickt. Sie sollten helfen, drei Stadtbezirke aufzubauen. Eine Woche lang gab es viele Bühnen, Veranstaltungen und internationale Kontakte wurden geknüpft. Und das waren dann auch immer die Jahre mit der starken Geburtenrate. Die ganzen Jugendlichen kamen also und jetzt kannst du dir vorstellen: Die sind jetzt alle im Alter von 50 Jahren. Und die sind jetzt für den neuen Trend für Kaisers zu alt, die müssen alle ersetzt werden.

Ich bin auch mit 18 Jahren, frisch aus der Lehre, hierher gekommen. Ich habe Fachverkäuferin für Waren des täglichen Bedarfs gelernt. So hiess das früher zu DDR Zeiten. Es gab damals die Möglichkeit 1,5 oder 3 Jahre Lehrzeit. Das heisst, wenn du gute Noten hattest, hast du nur 1,5 Jahre gelernt. Und wenn jemand etwas langsamer gelernt hat, dann hat das auch gepasst, der hat dann halt 3 Jahre gelernt. Das war mehr an die Fähigkeiten der Leute angepasst.

FRAGE: Wie hast du den Mauerfall erlebt?

EMMELY: Ich bin vor dem TV gesessen und habe zuerst nur gedacht, der Nachrichtensprecher habe sich versprochen. Aber ich konnte ja nicht hingehen, denn ich hatte drei kleine Kinder zu Hause und musste früh auf Arbeit. Ich hab das nicht realisiert. Aber am nächsten Tag auf Arbeit, als nur 3 von 15 kamen, war uns klar, dass es kein Regiefehler war.

Die ersten Bilder im TV und die erste Euphorie und das Rüberfahren haben wir erstmal weggelassen, denn es war ja ein Donnerstag. Wir sind erst am Sonntag gefahren. Ich hab mich richtig raus geschmissen gefühlt. Es wurden Tausende von Menschen über die Brücke geleitet. Es war unglaublich. Man musste richtig aufpassen, die Kinder waren damals so klein, eine noch im Kinderwagen und die anderen links und rechts. Ich musste die richtig festhalten, damit die mir nicht in der Menschenmasse da verloren gingen. Und sie haben immer gesagt: "Mutti lass uns nach Hause fahren." Weil, als wir da in Kreuzberg ankamen, waren alle Häuser voll geschmiert und überall lag Papier auf dem Boden. Wir kannten das so nicht, bei uns war alles sauber.

FRAGE: Wo stehst du heute nach deiner Erfahrung im Streik?

EMMELY: Das ist ein ganzer Rattenschwanz, der da nach der Kündigung kam. Aber das Leben geht weiter. Ich kann mich nicht einfach aufgeben, als Kämpfernatur muss ich die Stange halten. Es gab auch viele Anfragen von KollegInnen, die auch von Repression betroffen waren. Als meine Arbeit habe ich die Zeit empfunden. Ich hatte während des Streiks bis heute, immer einen vollen Terminkalender. Zeit zum Nachdenken, was ich fühlte, hatte ich nicht. Die Aufgaben, die zu machen waren, habe ich gemacht. Der Solidaritätskreis hat sich nach meiner Kündigung gegründet. Vorher hatten wir eine Betriebsgruppe mit Kolleginnen aus verschiedenen Läden und unseren Stammtisch. Die Filmgruppe Kanal B1 war schon während dem Streik dabei, da haben wir uns angefreundet. Sie zeigten uns Aktionen und wie man einen Streik vielleicht durchführen kann.

Ich frage mich manchmal, ob ich nicht genauso gehandelt hätte wie viele andere, wenn ich das Solidaritätskomitee, bzw. damals noch den Stammtisch, nicht gehabt hätte. Die anderen haben gesagt, wir nehmen die Abfindung und das gute Zeugnis und lassen uns kündigen. Ich wollte schon mein Recht haben. Ich habe nichts gestohlen und warum sollte ich dann die Abfindung nehmen und gehen. Was ich nicht gemacht habe, gebe ich auch nicht zu.


Anmerkung:

(1) Der Film zum Streik "Ende der Vertretung"

Mehr Informationen zum Streik und zu der Kampagne auf www.labourNet.de


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Arbeitsgruppe Winterthur (agw), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur)


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Quelle:
aufbau Nr. 58, September/Oktober 2009, Seite 9
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Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2009