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ARBEITERSTIMME/390: Rezension - Die Wunde, die sich nicht schließt


Arbeiterstimme Nr. 205 - Herbst 2019
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Rezension
Die Wunde, die sich nicht schließt


Jahrestage können nerven, wenn sie dazu gebraucht werden, Ereignisse nicht nur reflektierend in Erinnerung zu rufen, sondern ihre Bedeutung benutzen, um die Gegenwart zu verklären. Der Gründungstag der deutschen Republik 1918, der Anlass zu zahlreichen Dokumentationen und Expertenrunden bot, ist ein typisches Beispiel dafür, denn, so der häufige Tenor, eigentlich sei das Ziel der Gründungsväter mit unserer Gegenwart erreicht.

Jahrestage können aber auch genutzt werden, sich der Vergangenheit und ihren Auswirkungen neu zu nähern, aus der Bestandsaufnahme neue, zeitgerechte Schlüsse zu ziehen und ihre Bedeutung für die Gegenwart auszuloten. Klaus Dallmer, der Autor der Untersuchung "Meuterei auf der 'Deutschland' 1918/19", versucht ohne Zweifel das letztere, und zwar, dies sei vorweggenommen, nicht immer mit derselben Überzeugungskraft. Er hat sich, das wird bei der Lektüre schnell klar, sehr viel vorgenommen: der Untertitel "Anpassung, Aufbäumen und Untergang der ersten deutschen Arbeiterbewegung" deutet sein Erkenntnisinteresse an. Doch der titelgebende Aufmacher führt eher in die Irre. Den entscheidenden Monaten in den Jahren 1918 und 1919 wird zwar breiter Raum gegeben, in dem die gesellschaftliche Transformation und die entscheidende Rolle der Arbeiterbewegung und ihren Parteien beschrieben und bewertet wird. Das Thema weist aber zeitlich deutlich über diesen Rahmen hinaus und dieser größeren Aufgabenstellung wird er nur phasenweise gerecht.

Kursorisch bis zum Vormärz der 1848er Revolution zurückgreifend nähert er sich rasch der Gründung der sozialdemokratischen Partei und der Reichseinigung von oben im Jahr 1871. Die danach folgende Etappe der Konstituierung der Arbeiterbewegung und ihres politischen Ausdrucks, der SPD, sowie der Auseinandersetzung zwischen den revolutionären und den bald anwachsenden reformorientierten Kräften gehört zu den überzeugenden Stärken des Buches. Zum einen wird dieser Richtungskampf seltener beschrieben und analysiert, zum anderen arbeitet Dallmer nicht nur nachbeschreibend, sondern gibt den Originalzeugnissen der Protagonisten Raum. Die Leserschaft vermag sich damit ein lebendigeres Bild von den Personen und ihrem Denken zu verschaffen. Besonders, wen wundert's?, Rosa Luxemburg, die große Theoretikerin und Agitatorin, hat es ihm angetan. Mit gut gewählten Zitatpassagen werden ihre Erfolge für die revolutionäre Sache deutlich, aber auch die Grenzen ihres Einflusses auf die Parteiführung und, erschreckender Weise, auf einen anwachsenden Teil der SPD-Anhängerschaft sichtbar. Die sozialistischen Friedensschwüre aus der Partei, dem Kaiser in den Rücken zu fallen, wenn er es wagen sollte, den Krieg gegen die französischen Klassenbrüder zu erklären, werden in dem Augenblick obsolet, in dem die Nation zu den Waffen gerufen wird. Eine fürchterliche Niederlage der Linken in der SPD, mit der die Weichen für das nächste Desaster am Ende des Weltkrieges gestellt werden. Die Tragödie wiederholt sich, aber diesmal nicht als Farce in der Weltgeschichte. Brutal wird der eigenen Klasse 1918/19 vor Augen geführt, was die Rolle und die Bedeutung der SPD im kapitalistischen Kontext angeht - und die Mehrheit der Klasse unterstützt ihre Partei dabei oder lässt dies mindestens geschehen. Detailliert zeichnet Dallmer den Ablauf der Geschehnisse dieser Jahre nach. Er greift dabei auf eine Reihe von Dokumenten- und Zeitzeugenquellen (Rote Fahne, Vorwärts, Richard Müller u.a.) zurück, arbeitet aber auch neuere Monographien zum Thema ein. Der Autor würdigt das mutige, ja todesmutige Wirken der Kriegsgegner, um mit dem Ende des Krieges auch das Ende des deutschen Kapitalismus herbeizuführen. Aber schließlich ist auch er nur in der Lage, die schreienden Widersprüche nebeneinander zu stellen, sie nicht mehr zu analysieren: "Einer Demonstration der Spartakusgruppe am 16. Oktober [1918] in der Innenstadt hatte sich die USPD nicht angeschlossen. Wegen geringer Beteiligung machte der Umzug dann nur einen kläglichen Eindruck. Zu einer großen Massendemonstration kam es dagegen am 23. Oktober - die Arbeiter holten den amnestierten Karl Liebknecht vom Bahnhof ab. (...) Am 27. Oktober rief die MSPD im Vorwärts zur Zeichnung der neunten Kriegsanleihe auf." (S. 118) Dallmer ersetzt Erklärungsversuche zu Motivation und Verhalten der Mehrheit in der Arbeiterbewegung zunehmend durch pauschale Urteile (Gehorsam, "Geschlossenheit, Parteitreue und Glaube an die Führungsinstanzen" (S. 131)), um das Scheitern der sozialistischen Transformation zu begründen. Neben Psychologie und Erziehung müsste die materielle Interessenlage der geführten ArbeiterInnen stärker in den Blick genommen werden. Übrigens auch im Vergleich mit der russischen Revolution, deren Methoden und Strategien mit Blick auf Deutschland durchwegs abgelehnt werden. Dallmers, in Anlehnung an Rosa Luxemburg entwickelte Vorstellung der "Dialektik von Kampf und Organisation" (S. 86), die sich zur revolutionären Krise steigere und "immer größere Massen" (ebd.) erfasse, wenn die kapitalistischen Widersprüche dazu tendieren, lässt sich auf die unterentwickelten Bedingungen Russlands nicht anwenden. Die Frage stellt sich aber, ob diese Annahme für Deutschland im Jahr 1918/19 realistisch war. Auch Luxemburg begreift zurecht den Sozialismus als emanzipatorische und emanzipierende Tat einer Klasse für sich, aber im Fall eines Falles gilt bei ihr doch: "Für die politische Leitung einer revolutionären Partei wäre es [das Abwarten der für den Kampf "reifen Zeit"] Armutszeugnis, moralischer Bankrott. Die Aufgabe der Sozialdemokratie und ihrer Führer ist nicht, von den Ereignissen geschleift zu werden, sondern ihnen bewußt vorauszugehen, die Richtlinien der Entwicklung zu überblicken und die Entwicklung durch bewußte Aktion abzukürzen, ihren Gang zu beschleunigen." (R. Luxemburg: Das Offiziösentum der Theorie [1912/13], in GW 3, S. 321, auch in Dallmer, S. 86f.)

Die Verwerfungen der untergehenden Monarchie sollten nach dem Willen der Sozialdemokratie in ein bürgerlich-demokratisches Korsett gesteckt werden, was von (Minderheits-)Teilen der Arbeiterschaft nicht widerstandslos hingenommen wurde. Das "Aufbäumen" (Untertitel) dagegen wird vom Autor als ein Verdienst gewürdigt, das die Möglichkeiten erahnen lässt, wenn die Arbeiterklasse einig gehandelt hätte.

Die endgültige Brechung der Klasse blieb am Ende Aufgabe des deutschen Faschismus.

Von der (M)SPD und ihrem Anhang in der Arbeiterklasse ist im Buch kaum mehr die Rede, wenn er sich im letzten Teil der Beschreibung dem "Untergang" (Untertitel) der Arbeiterbewegung widmet. Sein Augenmerk gilt der Politik der KommunistInnen in Deutschland, ihren Erfolgen und vor allem ihren Fehlern und Misserfolgen. Dagegen ist wenig einzuwenden, müssen sich doch alle sozialistisch und kommunistisch ausgerichteten Menschen der politischen Vergangenheit stellen, um zu lernen und sich selbstkritisch zu verbessern.

Inzwischen haben wir aus einer Vielzahl von Untersuchungen, auch aus Detailarbeiten ein genaueres Bild der Kämpfe und Verwertungen kommunistischer Parteiarbeit in den Zwanziger und den beginnenden Dreißiger Jahren gewonnen. Darauf nimmt Dallmer eher kursorisch Bezug und neigt zu schnellen, an der Oberfläche der Ereignisse bleibenden Urteilen über diese Epoche. Mehr würde den Rahmen der Arbeit sprengen, allein der eigene Anspruch des Autors, den Untergang der deutschen Arbeiterbewegung zu erklären, erfordert ein gründlicheres Vorgehen. So bleibt die Sozialdemokratie in dieser Dekade weitgehend außer Betracht, ihre Kungeleien und Finten, ihre Täuschungen und ihr hauptsächliches Anliegen: ihr Kampf gegen den Kommunismus. Nicht nur die - schließliche - Thälmann-KPD war Fremdeinflüssen unterworfen und beging tödliche Fehler. Am Untergang der Arbeiterbewegung wirkte die Sozialdemokratie aktiv und kräftig mit. Eine Partei, die sich dieser Vergangenheit - auch das war als Ergebnis des Gedenkens an 1918/19 überdeutlich zu sehen - gar nicht stellen kann, weil sie ihre eigenen Entstehungsursachen nicht sieht oder versteht.

Was bleibt also von der kommunistischen Politik in der Endphase der Weimarer Republik übrig? Die Tatsache, dass es neben dem unüberwindlichen Hass zwischen beiden linken Massenparteien bewusste GenossInnen aus beiden Lagern gab, bezeichnenderweise zwangsweise jetzt aber in eigenen Organisationen tätig, die verzweifelt versuchten, für eine Einheitsfront der Klasse gegen den Faschismus zu werben; außerhalb des Parlaments und nur als Massenaktionen durchführbar.

So schließt August Thalheimer 1932, jetzt KPD-Opposition, seine Untersuchung zur Frage, wie die Einheitsfront gegen den Faschismus geschaffen werden kann, mit dem Appell: "Kostbare Jahre sind verloren, darum darf jetzt kein Tag mehr verloren werden. Es gilt jetzt ein Wettlauf mit der Zeit am Tod und Leben. Unter der Bedingung, dass dies begriffen und dementsprechend gehandelt wird, ist noch alles zu gewinnen. Aber nur unter dieser Bedingung." (A. Thalheimer: Wie schafft die Arbeiterklasse die Einheitsfront gegen den Faschismus?, 1932; Broschüre, S. 34)

Dallmer erkennt diese Analyse an, die aus der Not geboren, aber von den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts gespeist, aus der Erkenntnis der Gegebenheiten abgeleitet und zugleich vom revolutionären Ziel überzeugt war. Allein, sie geht verloren im resignierenden Schluss seiner Darlegung ("Die Gewerkschaften hatten ihren Zweck gänzlich verfehlt. (...) Vor dieser Aufgabe [die Klasse zusammenzuführen] hat die KPD jämmerlich versagt. (...) Dann kann sie [die "wirklichen" Arbeiterparteien] niemand anderes zerstören als sie selbst (...) Das haben SPD und KPD in der Weimarer Republik vollbracht (...)", S. 306). Woraus der Autor dann in seinem Fazit (ab S. 307) den Optimismus zieht, von einer "moderne[n] Arbeiterklasse" (S. 310f.) zu sprechen, bleibt unter diesen Voraussetzungen sein Geheimnis. Sie werde "gefordert sein, das System gemeinwirtschaftlich und international zu überwinden, und eine neue Art von Selbstherrschaft zu entwickeln ..." Da wäre mehr Substanz zu erwarten gewesen.

Die Untersuchung hat, wie beschrieben, ihre Stärken. Mit einer Beschränkung auf diesen Kernbereich stellt sie einen Gewinn für alle Interessierten dar, die, auf einen aktuellen Stand der Literatur gebracht, viel Richtiges erfahren. Und - man kann dem Autor abnehmen, dass ihn das Thema selbst seit Jahrzehnten beschäftigte und nun zu einer intensiven Stellungnahme drängte.

Klaus Dallmer: Die Meuterei auf der "Deutschland" 1918/19.
Anpassung, Aufbäumen und Untergang der ersten deutschen Arbeiterbewegung.

Die Buchmacherei, November 2018, 12.00 EUR

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 205 - Herbst 2019, Seite 20 bis 22
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2020

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