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ARBEITERSTIMME/350: Eine Schwalbe macht keinen Sommer


Arbeiterstimme Nr. 195 - Frühjahr 2017
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Eine Schwalbe macht keinen Sommer

Die SPD inszeniert sich selbst zur wählbaren Alternative


Immer wenn die SPD von Wähler und Wählerin etwas will, wird sie leut- und vertrauensselig. Verlangt sie von ihnen einen sog. Vertrauensvorschuss. So auch unter ihrem gerade frisch nominierten Kandidaten Martin Schulz (Jahrgang 1955) für die Kanzlerschaft im kommenden September bei der nächsten Bundestagswahl. Dieser forderte in seiner ersten Rede vor SPD-Publikum, in Interviews und Medien (Anne Will, ARD; Berlin direkt, ZDF, beide vom 29.1.) gerade einen solchen neuerlichen Vorschuss für sich und die Partei ein, ohne dass genauer beschrieben und gesagt würde wofür. Man soll ihr praktisch im Vertrauen und Hoffen auf das richtige Programm und Handeln die Katze im Sack abkaufen, den zweiten vor dem ersten Schritt tun.

Ziel: Stärkste Kraft im Bundestag

Im Gespräch mit dem SPIEGEL (Nr. 6/4.2.2017) wurde Schulz hinsichtlich seiner arbeits- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen auch nicht viel konkreter. Bei der verheerenden Hartz IV-Politik kann es für ihn allenfalls nur Korrekturen nach zu prüfenden Einzelfällen geben. Auch diese dehnbare Ansicht ist nicht neu und eher eine Ausflucht. So soll mit der SPD etwa das ALG I auf 24 Monate verlängert werden. Die um zahlreiche Gesetzesentwürfe nicht verlegene Arbeitsministerin Nahles strickt an einem Konzept für ein System der "Arbeitswahl" (Teilzeitgesetz), was immer das dann genau ist und hat im November 2016 ein "Weißbuch Arbeiten 4.0" vorgelegt. Ein unter der Linken diskutiertes und z. T. gefordertes sog. garantiertes Grundeinkommen lehnt Schulz grundsätzlich ab. Er will mit seiner Partei die nächste Bundestagswahl gegen Merkel so gewinnen, dass sie keine Koalition als Juniorpartner mit der CDU/CSU mehr eingehen muss, sondern stärkste Kraft wird. Sie will die ganze Macht. Das sieht CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder im Umkehrschluss ganz ähnlich. Mit einer absoluten Mehrheit für die SPD rechnet selbst Schulz realistischerweise nicht, das künftige Finanz- und Innenressort würde er aber gerne für seine Partei beanspruchen. Den Außenministerposten müsste man aber an einen möglichen Koalitionspartner abgeben, so leid ihm das für Gabriel täte. Das grenzt schon an "postfaktische" Träume. Denn dann, so Schulz sinngemäß, könne die SPD auch wieder das tun, wofür sie steht, sich rückhaltlos ohne Abstriche in Arbeitsleben und Gesellschaft für soziale Gerechtigkeit und Sicherheit der arbeitenden Menschen einzusetzen. Dann müssten die anderen erst einmal auf sie zugeben, falls es allein nicht zur Regierung reicht und Koalitionen notwendig werden sollten. Wer diese anderen dann sein sollen oder könnten, darüber schweigt Martin Schulz geflissentlich, obwohl er sie natürlich kennt. Das soll aber das vorab verlangte Vertrauen freilich nicht schmälern. Viel zugemutet und erwartet auf einmal.

Schon Schulz' Nominierung war ein kurioser Alleinritt des ehemaligen Parteivorsitzenden und als möglichem Kanzlerkandidaten zurückgetretenen engen Schulz-Freundes Sigmar Gabriel, der sich und die Partei damit von einer quälenden Tonnenlast befreite und mit dem Außenministeramt selbst belohnte. Nach zwei von ihm in Auftrag gegebenen Meinungsumfragen zu seinen ermittelten dürftigen Wahl-Chancen und angeblich nur mit wenigen Partei-Vertrauten (Olaf Scholz, Hamburg; Hannelore Kraft, NRW; M. Schulz selbst) und dem Magazin STERN abgesprochen und abgestimmt, der in der vierten Woche mit dem Gabriel-Interview zu seinem Rücktritt und seiner Politikanalyse in die Schlagzeilen platzte. Dem SPIEGEL blieb nur das Nachsehen, der lediglich mit der Überschrift "Sankt Martin" ironisch nachtiteln konnte.

Aufwärtstrend im Umfragespiegel

Gemäß den von ARD-Deutschland Trend für den 24.2. ermittelten Zahlen stieg bei der Sonntagsfrage, welche Partei aktuell gewählt werden würde, der Wert für die SPD nach Bekanntgabe der Schulz-Kandidatur auf fast sagenhafte 32(20) Punkte, der der CDU/CSU fiel auf 31(37), Die Linke stand bei 7(9), Grüne bei 8(9), die AfD fiel zurück auf 11(15) und die FDP stand bei stabilen 6(5) Prozent-Punkten (in Klammern die Werte vom Januar). Auffallend ist, wie rasant die Zahlen sich momentan verändern. Sie sind natürlich zunächst vor allem als Momentaufnahme eines politisch eher naiven "Schulz-Reflexes" zu bewerten, bis zum Herbst ist es noch ein ganzes halbes Jahr, in dem vieles passieren und sich aufgrund heutzutage spontaner Wechselwählerschaften bis kurz vor Wahltermine noch ändern kann. Bei der Sympathiefrage für die Kanzlerschaft liegt Schulz jetzt mit 50 zu 34 Prozent klar vor Merkel (ARD-Deutschland Trend vom Februar). Wie es dabei für eine starke SPD bzw. in Koalition mit N. N. sicher reichen soll, ist allerdings auch mit diesen positiven Werten noch fraglich und eigentlich nur diskutabel, wenn man die FDP nicht im nächsten Bundestag sieht, was immer unwahrscheinlicher wird (für Parteichef Lindner ist es die Schicksalswahl). Christliche Leihstimmen wird es bei einer Pattlage zwischen Union und SPD für die Liberalen kaum geben können. Die SPD könnte auch damit spekulieren, den Stiel einfach einmal umzudrehen und stärkste Partnerin in einer Koalition mit der Union zu sein. Es könnte u. U. aber auch knapp für eine Dreierkoalition CDU, Grüne und FDP (sog. Jamaika-Koalition) reichen. CDU und Grüne experimentieren auf Länderebene schon länger mit Bündnissen. In Hessen bilden sie aktuell in kleiner Koalition eine Regierung, in Baden-Württemberg sind die Grünen sogar der stärkere Partner in einer Koalition mit der CDU. Im ungünstigen Fall könnte es also durchaus auch passieren, dass die SPD im Herbst zur stärksten Kraft wird - in der Opposition. Und Schulz' tiefer Fall nach rasantem Aufstieg ist durchaus auch noch denkbar.

Gibt es "Wunder" immer wieder?

Nichtsdestotrotz hofft man in der SPD mit "Sankt Martin" auf Wunder und einen ähnlichen Erdrutschsieg wie etwa 1998. Aber da waren die Zeiten und Konstellationen ganz andere. Sechzehn abgenutzte Jahre Schwarz-Gelb unter einem völlig verbrauchten Gespann Kohl-Genscher waren Vielen Menschen damals genug. Und nicht nur ihnen. Das Kapital und seine politische Klasse verlangte nach den immensen Kosten der Vereinigung und bei veränderter globaler Marktlage nach neuen wirtschaftsförderlichen Rezepten des Sozialsparens und weiterer Neoliberalisierung und Deregulierung der "sozialen Marktwirtschaft", jenem "Kosenamen für Kapitalismus" (C. Butterwegge). Da kam ihnen eine SPD auf dem Weg zurück zur Macht mit ihrem Schröderschen Modernisierungskurs gerade recht. Martin Schulz, seit 1999 dienstältestes SPD-Präsidiumsmitglied und daher immer vorne mit dabei, und einer dieser Modernisierer vom rechten Parteiflügel, war von 1987 bis 1998 Bürgermeister der Aachener Nordostvorstadt Würselen (heute ca. 39.000 Einw.), wo er heute auch noch wohnt. Seine demokratischen Basislehrjahre, wie er in Interviews nicht ohne Stolz eingesteht. Denn, so Schulz, alle Gesetzgebung im Bund und Probleme mit Mieten, Bildung, Bauen&Wohnraum, Industrieansiedlung, Arbeitsplätzen, Kindergärten usw. kämen schließlich in der Kommune an, liefen da zusammen und müssten dort praktisch umgesetzt und geregelt werden. Da käme man notgedrungen in nahen Kontakt zu den Menschen. Es trifft also so wie viele von der Presse zuerst unkten nicht zu, dass Schulz über gar keine innenpolitische Erfahrung und Kompetenz verfüge. Aber das ist auch schon wieder fast 20 Jahre her, seither hat sich in Deutschland vieles verändert.

Jugoslawien 1999, Afghanistan 2001-2015, Irak und Agenda 2010

Den Menschen blieb zunächst noch weitgehend verborgen, was unter Schröder-Fischer während der zweiten Legislatur ab 2003 im Konzert mit der Hartz IV-Kommission als grundsätzliche Arbeits- und Sozialreform, Agenda 2010 genannt, über sie kommen sollte. Schulz steht dazu, dass damals unter Schröder die BRD "fit gemacht wurde für die Zukunft". Das sieht auch Frau Merkel so. Vom Journalisten Frey (Was nun? ZDF) konkreter zu einer möglichen Revision der Agenda befragt, verwies er darauf, dass sie eine Diskussion des Jahres 2003 war, er aber wolle jetzt über die Erfordernisse der Zukunft sprechen. Sprach's und beließ es dabei ohne diese zu präzisieren. Deutlicher konnte Schulz seine Position in diesem Punkt nicht zugeben bzw. einer klärenden Antwort ausweichen. Vertrauensvorschuss verlangt aber gerade klares Stellung beziehen, auch wenn's unangenehm ist.

Den fatalen Fehler 1999 der aktiven militärischen Beteiligung mit Bombardements (Luftschlägen) am NATO-Jugoslawienkrieg zur Durchsetzung der Kosovo-Sezession wollte Rot-Grün nicht wiederholen. Man beteiligte sich - außer natürlich als verpflichteter Bündnispartner auf der Nachschubdrehscheibe und im Marine-Geleitschutz für US-Kriegsschiffe - nicht mehr direkt am nächsten Krieg der USA und seiner willigen Koalitionäre im Irak 2002/03. Und zeigte sich seitens des Außenministers Fischer "not convinced" (nicht überzeugt) von den fragwürdigen "Beweisen" von Bush, Blair und ihren Generälen als Rechtfertigung für eine Intervention gegen die angeblichen "Massenvernichtungswaffen" des irakischen Machthabers Saddam Hussein. So und mit Schröders wirksamer Selbstdarstellung als "Katastrophenmanager" bei den Überschwemmungen in Ostdeutschland im Sommer 2002 rettete sich Rot-Grün gegen den Unionskandidaten Stoiber mit einem knappen Sieg noch mal bei der Bundestagswahl über die Runde. Obwohl man noch 2001 in Reaktion auf New York/Washington DC 9/11 mit regulären Bundeswehreliteeinheiten mit in den Afghanistankrieg der USA gezogen ist, dort als Besatzungsarmee mit mehreren tausend Soldaten in drei Feldstützpunkten die Kriegsflanke im Norden des Landes abdeckte und sich aktiv in Kämpfe begab.

SPD im radikalen gesellschaftlichen Wandel

Die "Facharbeiter-SPD" verlor ab Mitte der 1970er Jahre mit den einsetzenden und sich verschärfenden wirtschaftlichen Krisen (Ölkrise 1973, Stahl- und Kohlekrise, globale Konkurrenz, Automatisierung und Mikroelektronisierung in der 3. industriellen Revolution) allmählich ihre starke traditionelle Basis in der Arbeiterinnenschaft. Im einst roten Ruhrgebiet gibt es heute keine SPD-Bastion mehr, sondern entstand eine zumeist konservative SPD-Wechselklientel. Die Arbeitslosenquote beträgt mit offiziell 11 Prozent mit die höchste in der Republik. In die ehemaligen Werkshallen von Opel Bochum ist ein Logistikzentrum eingezogen. Im Saarland, des einstigen linken SPDlers und jetzigen Linksparteilers Oskar Lafontaines Stammland, regiert schon länger die CDU mit wechselnden Koalitionen (seit 2012 CDU-SPD). Große Werften in Norddeutschland (Emden, Bremen, Hamburg, Kiel) mit traditionellen sozialdemokratischen Verankerungen mussten in den 1980er Jahren aufgeben und z. T. komplett schließen. Ersatzarbeitsplätze wie z. B. im danach neu errichteten Mercedeswerk in Bremen gab es nur bedingt. Stahl aus Asien in Südkorea und Japan war für Europa trotz der langen Transportwege deutlich billiger. Viele ältere Arbeitnehmer wechselten in vorgezogene Ruhestände, ließen sich abfinden, nahmen Rentenabzüge in Kauf. Traditionelle soziale Arbeitswelten, kulturelle proletarische Milieus und damit solidarische Bande gingen verloren. Die Arbeitslosigkeit nahm in bestimmten Teilen Westdeutschlands in Millionenhöhe dramatisch zu. Ein fester Sockel von Langzeitarbeitslosen entstand. Viele deutsche Großunternehmen wie Klöckner Stahl in Bremen (heute Teil von ArcelorMittal, weltgrößter transnationaler Stahlkonzern) gingen in die Hände und Verfügung ausländischer Konzerne über, die scharfen Konkurrenten Krupp und Thyssen fusionierten zum Übermonopol. Solidarisches und gewerkschaftliches Handeln wurde auf internationaler Konkurrenzebene zunehmend schwieriger. Arbeiterwiderstand und Streiks (Rheinbrückenblockade in Rheinhausen, längste Betriebsbesetzung bei Seidel/Portland-Zement, Erwitte), so wichtig sie in vielen Bereichen wie Metall, Chemie, Bau und öffentlicher Dienstleistung waren, gelangten kaum an den Punkt, wo sie die Systemfrage berührten oder gar stellen konnten. Als Partei verlor die SPD mit der Zunahme der Umweltprobleme und im Zug der atomaren Aufrüstung Westdeutschlands (NATO-Doppelbeschluss 1979 unter Helmut Schmidt) im Kalten Krieg auf Dauer ihren kritischen linken Flügel, der sich z. T. zunächst als grüne Öko-Bewegung abspaltete und von auf dem "langen Marsch" steckengebliebenen ehemals studentischen GenossInnen und früheren ultralinken Aktivisten aus sog. K-Gruppen verstärkt zur grünen Partei neu bildete. Sie zog 1983 erstmals in den Bundestag ein, wo sie sich bis heute zu vielen Fragen in rasantem Tempo intern säuberte (von radikalen Linken wie Jutta Ditfurth, Rainer Trampert oder Thomas Ebermann trennte), verbürgerlichte und gesellschaftlich bis zur Koalitionsfähigkeit mit der CDU weitgehend anpasste und entstellte.

Der große Einschnitt

Eine wesentliche historische Zäsur war dann das Ende des alten Ost-West-Konflikts, der rapide Zerfall der Sowjetunion und des sozialistischen Staaten-Blocks und die dadurch mögliche deutsche Vereinigung 1990. Der Kapitalismus feierte seinen Systemsieg und alleiniges globales Überleben, selbst im roten China. Gegen eine Geschichte von Klassenkämpfen wurde ihr Ende propagiert. Eine sozialistische Idee und Perspektive schien ein für alle mal ausgedient zu haben. Mit der späten Verwirklichung deutscher Einheit konnten sich CDU/CSU und FDP, die eigentlich Ende der 80er Jahre schon für eine Ablösung reif waren, getragen von einer konservativ-patriotischen Grundstimmung noch einmal acht weitere Jahre an der politischen Macht halten. Man erntete nationalpatriotisch und konservativ ab, wozu die sozialliberale Koalition mit Ostpolitik, Wandel durch Annäherung und einer Aussöhnung mit Polen (Brandts Kniefall in Warschau) den Grundstock und die Saat gelegt hatte. An Brandts mahnende Worte, dass erst noch zusammenwachsen müsse, was zusammen gehört, sei hier erinnert, während Kohl und Co. "blühende Landschaften" für alle im Osten versprachen, die zu blühenden weitgehend nur für das investierende gesamtdeutsche wie internationale Kapital auf der Suche nach neuen Anlagen und Aktienrenditen wurde. Vielen Beschäftigten hingegen blühten Entlassungen und Arbeitslosigkeit. Ein kurzzeitiger wirtschaftlicher Boom ähnlich jedoch nur einer Konjunkturblase war die Folge. Ein neues "Wirtschaftswunder" wie noch nach dem Zweiten Weltkrieg aber blieb aus. Die größere BRD musste für den abgewickelten Osten nach dem Ende der Treuhand 1994 zwangsweise ihren eigenen Milliarden schweren "Marshallplan" unter Einsatz der Rentenreserve West entwickeln (Solidaritätszuschlag, Subventionen), mit dem man vorerst für Jahre beschäftigt war und für größere internationale Machtambitionen weder Zeit noch finanziellen Spielraum hatte, was sich um die Jahrtausendwende dann allmählich mit der Übernahme "wachsender" internationaler (militärischer) "Verantwortung" anders darstellte.

Die Ausgangslage für die SPD heute

Kennzeichnend für die Gegenwart ist eine Abfolge von anhaltenden internationalen Krisen und kriegerischen Konflikten, von der nachwirkenden Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 bis zur EU- und weltweiten Flüchtlingskrise. Mit einem damit einhergehenden Erstarken rechtsnationaler Parteien und Aufkommen populistisch-reaktionärer Strömungen in vielen Bevölkerungen sowie Bedrohungen von außen durch einen terroristischen Kampf aus den durch Kriege und Konflikte teils verheerend verwüsteten Peripherien gegen die westlichen Metropolen. Hinzu kommt noch seit Trumps Wahlsieg in den USA und seiner Rechtsregierung eine gewisse neue transatlantische Verunsicherung, die im Konzert mit Brexit und möglicher neuer Annäherung USA-Russland die Bedeutung einer starken deutschen Führungsmacht (auch militärisch) in Europa eher erhöhen wird. Seit 1998, als die SPD mit Schröder die historische Kleine Koalition mit den Grünen unter Fischer bilden konnte, verlor sie kontinuierlich ungefähr 10 Millionen ihrer WählerInnen und bereits seit 1990 500.000 Mitglieder (von fast 1 Mio. auf unter 500.000). Der Anteil der Arbeiter unter den SPD-Mitgliedern sank von 1930 knapp 60 auf 2009 noch 16 Prozent, der der Angestellten erhöhte sich von 10 auf 30 Prozent. Die letzten beiden Kanzlerkandidaturen von Steinmeier und Steinbrück waren von Beginn an aussichtslose Fehlschläge. Ein nach 1998 unter Schröder angestrebtes "Bündnis für Arbeit" ähnlich der konzertierten Aktion schlug bald fehl. Es bildete sich vor allem aus Protest gegen das Agenda 2010-Regime eine aus knapp 9.000 Mitgliedern bestehende Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) aus meist unzufriedenen linken SozialdemokratInnen, z. T. aus der SPD ausgetretenen linken Intellektuellen, kritischen GewerkschafterInnen, und Mitgliedern aus Sozialen Bewegungen (attac) die sich 2007 mit der DDR-Staatserbin PDS zusammen zur Partei Die Linke vereinigte. Damit wurde diese auch eine linke Partei mit wenn auch bescheidenem organisiertem Anhang im Westen Deutschlands. Die Linkspartei kommt seither bei Bundestagswahlen auf ein stabiles Gesamtpotenzial zwischen 7 und 10 Prozent, das ausreicht, um die SPD vor das Dauerproblem zu stellen, entweder ohne sie nicht oder nur in einer Großen Koalition mit der CDU/CSU gegen sie mitregieren zu können, was nun mit Ausnahme von 2009 bis 2013 seit 15 Jahren der Fall ist. Und in diese Zeit der Notkoalitionen gegen links fällt auch ihr dramatischster Mitglieder- und AnhängerInnen-Schwund seit ihrem Bestehen. Da sind die seit Martin Schulz' Antritt als Kanzlerkandidat und neuer Parteivorsitzender verzeichneten etwa 6.000 online-Neueintritte in die Partei weniger als ein Tröpfchen auf den heißen Stein. 2013 bestand noch rein rechnerisch die Möglichkeit einer Mitte-Links-Koalition aus SPD, Grünen und der Linken, die nicht genutzt wurde. Die AfD, die mittlerweile das Achsensystem der Parteien deutlich nach rechts verschiebt, damals mit ihrem Vorsitzenden Lucke noch eine rechtslastige, wirtschaftsliberale eurogegnerische Professoren-Partei, schrammte mit gerade mal fehlenden 120.000 Stimmen (4,7 %) am Einzug in den Bundestag noch vorbei. Die sich wieder zu regenerieren scheinende FDP verfehlte ebenfalls die 5-Prozent-Hürde, sackte in den 2-3 Prozent-Keller ab. Voraussichtlich werden im nächsten Bundestag ab Herbst 2017 sicher sechs, wenn nicht mit einer wieder erstarkten FDP sieben Parteien vertreten sein, was auch Folgen für die Anzahl der Sitze jeder Partei im Parlament haben wird. In den Länderparlamenten existieren zur Zeit nicht weniger als elf unterschiedliche Koalitionen. In Brandenburg, Berlin und Thüringen gibt es Regierungen mit Beteiligung bzw. Führung der Linkspartei (PDL).

Schulz - ein glaubwürdiger Kandidat?

Subjektiv menschlich mag man diesen Eindruck von ihm vielleicht haben, mehr als von manch anderen verschlissenen Politikern. Er wirkt entschlossen, forsch und selbstbewusst, einen anderen als diesen Eindruck und solchen eines bemüht redlichen Charakters kann und darf er auch gar nicht hinterlassen. Er will und muss einen Ruck durch die SPD initiieren und sich für die von ihm auffallend häufig angesprochenen "hart arbeitenden Menschen" der produktiven gesellschaftlichen Mitte, "die sich an die (Steuer-)Regeln halten", in diesem Land als wählbar anbieten. In Merkels Reden heißt das fast gleichlautend die "fleißigen Menschen" in den Mittelpunkt stellen. Das macht also noch nicht den Unterschied. Themen, die ihm (und der SPD) wichtig sind, hat er mit mehr Steuergerechtigkeit (Kampf gegen Steuerflucht) und mehr innerer Sicherheit gegen die Angst der Menschen bisher nur vage umrissen und angedeutet, ohne den internen Diskussionen auf den nächsten Parteitagen im März (Kandidatenwahl) und Mai vorzugreifen, die sich dann programmatisch niederschlagen werden. Schulz betont, es sei ein Fehler gewesen, die Agenda 2010 zu betreiben, ohne gleichzeitig den festen Mindestlohn zu etablieren. Sein Freund Schröder brüstete sich 2005 beim Davoser Weltforum noch, Deutschland habe den größten Niedriglohnsektor, in dem sich heute ca. acht bis zehn Millionen Beschäftigte wiederfinden. Allein 1,2 Millionen sind sog. AufstockerInnen, die Hartz IV-Leistungen beziehen müssen, um auf das Armuts-Existenzminimum zu kommen.

Die SPD ist derzeit im Bund eine um 30 Prozent schwankende Partei. Die Mindestvorgabe als Ziel ist offenbar 30 Prozent plus X. Ihre möglichen alternativen Koalitionspartner sind lediglich die Grünen und die Linkspartei, obwohl sie aktuell ausgerechnet auch von dort ihre Zuwachsrate bezieht. Wahlen werden laut Schulz "in der Mitte" gewonnen. Deutlichere Einbrüche kann er daher nur im größeren Umfang bei der Union und im Nichtwählendenlager erzielen. Weitere Überlegungen hierzu sind zum jetzigen Zeitpunkt lediglich müßige Rechenexempel.

Schulz - ein harter EU-Parlamentarier

Fraglich ist auch, ob die im Titel angesprochene Schwalbe auch wirklich eine ist oder nur etwas anderes getarnt im Schwalbengefieder. Martin Schulz, EU-Parlamentarier seit 1994, ist zwar kein Anhänger offensiver restriktiver Flüchtlingspolitik, trägt aber den sehr fragwürdigen EU-Türkei-Plan von Ende 2015 zur Sicherung der Außengrenzen bisher mit. Der Eurokrat Schulz erwies sich im Amt als erster, richtig gewählter EU-Parlamentspräsident von 2012 bis 2016 nicht gerade als der Anwalt der Bedürftigen und Armen. Er tritt für sog. Eurobonds (Staatsanleihen) zur Schuldentilgung von EU-Mitgliedern ein, die auch in der Linkspartei (Ernst, Gysi, Lafontaine) befürwortet werden, die letztlich nur den Finanzeliten zugute kämen unter Abwälzung der Krisenlasten auf die arbeitende Bevölkerung. Mit dem konservativen EU-Kommissionspräsidenten Juncker verband ihn eine Art Hass-Liebe, mal zogen sie an einem Strang, mal kamen sie sich ins Gehege. Schulz vertrat die EU-Austeritätspolitik gegenüber Griechenland und anderen südlichen EU-Ländern entschlossen mit und pochte auf die nationale Umsetzung des EU-Spardiktats. Er ist für mehr, das kann ohne grundlegende EU-Reform nur heißen, eine noch bürokratischere, abgehobene, nicht für eine EU näher zu den Menschen. Gegen die Bitte um Vertrauensvorschuss steht die Tatsache, dass sich viele Menschen von Parteien wie der SPD zu oft schon getäuscht sahen und real enttäuscht wurden, man nehme nur das Beispiel 1998. Die Agenda 2010 war der letzte große Vertrauensbruch für die heute Millionen sozial Benachteiligten und prekär Beschäftigten, die hart arbeitenden MinijobberInnen, völlig unzureichend Niedrig- und Mindestentlohnten und Leiharbeitenden mit befristeten Werkverträgen in schlechten Jobs am Rand der Arbeitsgesellschaft und Armutsgrenze. Sie sind es vor allem, die trotz harter Maloche und belastender Mehrfachbeschäftigung auf keinen grünen Zweig mehr kommen. Diese wählen in ihrer großen Mehrheit aber schon lange nicht mehr CDU oder SPD, eher dürften sie wenn, dann zur Wechselklientel der AfD gehören, wenn sie nicht überhaupt zu den ca. 35-40 Prozent Nichtwählenden gehören. Durchgreifende Antworten oder Rezepte, wie die SPD diese für sich motivieren und mobilisieren will, hat sie und hat auch Martin Schulz bisher keine. Daran ändern alle geschickte, sozial verbrämte verbale Rhetorik und menschliche Sympathieträgerschaft nichts. Die SPD müsste jetzt sozial liefern ohne Bedingungen zu stellen. Das könnte sie in diesem Jahr auch schon bei anderen Wahlen tun wie im Saarland (März, Landtag), Schleswig-Holstein (Mai, Landtag) und NRW (Mai, Landtag). Dort hat übrigens Rot-Grün keine Mehrheit mehr und hat jüngst Ministerpräsidentin Kraft (SPD) der Linkspartei (z. Zt. bei 6-7 %) bereits eine klare Absage erteilt, die sie für nicht mitregierungsfähig erklärte. Sofern Rot-Grün trotz Schulz-Bonus nicht ganz abgelöst wird, bevorzugt sie offenbar ein Ampelbündnis à la Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz mit Rot-Grün-Gelb.

Was ist links im Wahljahr?

Zum Schluss nur ein paar orientierende Anmerkungen: Zur Zeit wäre ein Rot-Rot-Grünes Bündnis auf Bundesebene trotz Schulz-Aufwinds noch deutlich von einer Mehrheit entfernt. Auch wenn es rechnerisch anders wäre, ist so etwas wie ein gemeinsames gesellschaftliches Reformprojekt der drei Parteien weit und breit nicht erkennbar. Mit Rücksicht auf ihre klare Werbung in die angepeilte bürgerliche Mitte als Konkurrentin zur Union, will die SPD hier offenbar erst so spät wie möglich Farbe bekennen, womit sie sich selbst in einen Widerspruch manövriert. Die antikapitalistisch-sozialistische und marxistische Linke in der BRD muss jenseits der SPD und koalitionärer Gedankenspiele einer Sahra Wagenknecht eine eigene politische Kraft ausbilden und darstellen. In Berlin stimmten jüngst rund zehn Prozent der 4.000 PDL-Mitglieder gegen den Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen.

Unverzichtbare Prüfsteine für eine an einer möglichen Koalition im Bund mit der SPD pragmatisch orientierte Linkspartei können nur das entschiedene sozialdemokratische Revidieren und Abrücken von der Agenda 2010 (nicht nur Korrekturen, wie jetzt von Schulz angekündigt!) und neue Antworten auf die sozialen Fragen im Sinne der Betroffenen und Benachteiligten sein. Die schwammige, oft missbrauchte Formel "mehr soziale Gerechtigkeit" reicht als abgegriffenes Schlagwort nicht aus und müsste durch sicht- und materiell spürbare Konturen im immer schwieriger zu bewältigenden Alltag gerade vieler ausgegrenzter und abgehängter Menschen konkretisiert werden. Die "Rente mit 67" ist zurückzunehmen. Alles andere wäre täuschende hohle Phrase. Ebenso kann es in der Frage von Krieg und Frieden keinerlei Zugeständnisse und Kompromisse geben, die unter Missachtung des Kriegsverbots und Friedensgebots des Grundgesetzes erneut in irgendwelche künftigen deutschen Kriegsbeteiligungen oder -unterstützungen führen, die nur Not und Elend über andere Völker bringen und Menschen unter großen existenziellen Risiken zu Fluchten in benachbarte oder entfernte Länder zwingen. Rückzug der deutschen "Armee im Einsatz" aus allen Kriegsgebieten, keine Bundeswehrstationierung in NATO-Bataillonen in Osteuropa (Litauen) und Ab- nicht Aufrüstung sind das Gebot der Stunde. Solches kommt so in Schulz' Reden aber bisher nicht vor. Das Los der Menschen kann nicht davon abhängen, ob eine SPD noch so verlockende soziale Propaganda macht, um wieder ganz an die Macht zu gelangen. Kritisches, hinterfragendes Misstrauen und wo immer möglich zur Rede stellen der zur Wahl antretenden PolitikerInnen bleibt angebracht.

EK/HB, 26.2.2017


Literatur/Quellen:

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.): Weißbuch Arbeiten 4.0. Berlin 2016. Als Text seit 22.2.2017 verfügbar über:
www.weissbucharbeitenviernull.de/dialogprozess/weissbuch.html

Bernd Faulenbach: Geschichte der SPD Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 2012

Georg Fülberth: Sozialismus, Köln 2010

ders.: Finis Germaniae. Deutsche Geschichte seit 1945. Köln 2007

Axel Kuhn: Die deutsche Arbeiterbewegung. Stuttgart 2004

Ernest Mandel: Die Krise. Weltwirtschaft 1974-1986. Hamburg 1987

Rote Fahne, Magazin der MLPD, Heft 4/17.2.2017 zum Thema: Martin Schulz - Der neue Heilsbringer? (S. 12-25)

Franz Walter: Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie. Frankfurt 2013 (2. Aufl.)

ders. : Die SPD. Biographie einer Partei. Reinbek bei Hamburg, 2009 (S., erw. Neuaufl.)


Abbildung der Originalpublikation S. 3 im Schattenblick nicht veröffentlicht:
Ergebnisse der Landtagswahl in Saarland

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 195 - Frühjahr 2017, Seite 1 + 3 bis 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2017

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