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ARBEITERSTIMME/338: Geht der progressive Zyklus in Lateinamerika zu Ende?


Arbeiterstimme Nr. 193 - Herbst 2016
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Geht der progressive Zyklus in Lateinamerika zu Ende?


Einer der Themenblöcke, mit dem wir uns bei unserem Seminar im Mai in München beschäftigten, war die Entwicklung der linken Bewegungen in Lateinamerika. Wir hatten uns dazu einen sehr sachkundigen Gastreferenten eingeladen, der das Thema anhand einiger Länder, die er als beispielhaft herausgriff, aufbereitete. Das Referat trug den Titel: "Geht der progressive Zyklus in Lateinamerika zu Ende?".

Obwohl durch den Zeitablauf sich inzwischen manches geändert hat, haben wir uns entschlossen (wie in der letzten Nummer angekündigt), das Referat in der damals gehaltenen Form, mit kleinen Ergänzungen, abzudrucken.

Der Referent berichtete eingangs, wie er zur Beschäftigung mit diesem Thema gekommen war.

Der Ausgangspunkt war: Er hat - wie bereits im letzten Jahr - im Auftrag der ML am diesjährigen Seminar "Die Parteien und eine neue Gesellschaft" in Mexico-Stadt teilgenommen. Dieses Seminar fand vom 10. bis zum 12. März statt. Sein Thema war: "Partei, Demokratie, Volksmacht und soziale Bewegungen". Ausrichter war die mexikanische PT (Partei der Arbeit).

315 internationale Delegierte von 130 Organisationen - politische Parteien und Organisationen, linke und progressive Bewegungen - aus 41 Ländern und fünf Kontinenten nahmen an der Veranstaltung teil. Dazu kamen ein paar Hundert mexikanische Teilnehmer von PT, PRD, MORENA, PC.

Die meisten Teilnehmer waren natürlich aus Lateinamerika und der Karibik. Sie kamen aus Cuba, Venezuela, Brasilien, Argentinien, Ecuador, Bolivien, von der FMLN, FSLN,

Dieses Seminar bildete auch die Grundlage für den Vortrag.


Der progressive Zyklus

Seit der Wahl von Hugo Chavez zum Präsidenten Venezuelas im Jahr 1998 standen die Fortschritte, die Erfolge und Erfahrungen der Linksregierungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent im Mittelpunkt der jährlich stattfindenden Seminare.

Fast mit jeder Wahl kam eine neue Links- oder Mitte-Linksregierung dazu; in der Mehrzahl der Länder des lateinamerikanischen Kontinents wurde die Rechte von der Regierung verdrängt.

Die sozialen Bewegungen und Parteien, vor allem aus Lateinamerika, die in Mexiko präsent waren, hatten einen großen Anteil an diesen Entwicklungen Man hat gedacht, es kann nur noch vorwärts gehen.

Aber diesmal war es anders. Es ist zu sichtbaren Niederlagen gekommen.

Zunächst waren es die Präsidentschaftswahl 2015 in Argentinien, die für die linken Kräfte verlorengegangen ist. Ein Vertreter der Neoliberalen (Macri) ist seitdem an der Macht. Bei der Parlamentswahl in Venezuela im Dezember errangen die rechten Kräfte eine sehr große Mehrheit im Parlament. Im Februar scheiterte das Referendum in Bolivien, mit dem Evo Morales eine vierte Amtszeit als Präsident erreichen wollte, die nach der Verfassung nicht möglich ist. Damit scheiterte er zwar nur knapp, es passt aber ins Gesamtbild: Alles deutet darauf hin, dass sich die Oligarchie und die rechten Kräfte reorganisiert haben. Die Wirtschaftskrise und der Verfall der Rohstoffpreise untergraben die materiellen Möglichkeiten der progressiven Regierungen für Sozialprogramme. Dies führt zu einer Entfremdung der sozialen Basis von ihren Regierungen bzw. verstärkt diese, aktuell zugespitzt in Brasilien und Venezuela.

Dies war also die Ausgangslage, vor der das Seminar in diesem Jahr stattgefunden hat: Geht der progressive Zyklus zu Ende und was bedeutet das? Waren die linken Regierungen nur eine Episode in der Geschichte Lateinamerikas? Diese Frage zog sich durch viele Diskussionsbeiträge und Analysen.

Das soll auch der rote Faden des Vortrags sein.

Claudio Katz, ein linker argentinischer Ökonom, definiert den Begriff im Artikel "Lateinamerika: ein Prozess, der sich nicht radikalisiert, geht rückwärts" - erschienen auf Deutsch in Granma International 01/2016 so:

"Der sogenannte progressive Zyklus des letzten Jahrzehnts in Südamerika ist ein Prozess gewesen, der aus teilweise erfolgreichen Volksaufständen (Argentinien, Bolivien, Venezuela, Ecuador) hervorging, die das Kräfteverhältnis in der Region veränderten. Ein ökonomisches Szenario der hohen Rohstoffpreise und der Zufuhr von Dollar wurde anders genutzt, als dies in anderen Zeiten der Fall war".

Das heißt, er wurde genutzt, um einen Prozess der Umverteilung durchzuführen und so den sozial ärmeren Schichten die Möglichkeiten zu bieten, am sozialen Aufstieg teilzuhaben.

Die Regierungen und die Situation der Länder mit Links- oder Mitte-Linksregierungen sind sehr verschieden. Trotzdem lassen sich vielleicht gemeinsame Aspekte für die zurückliegenden 10-15 Jahre feststellen: Die Regierungen haben im Ergebnis harter sozialer Kämpfe und organisierter sozialer Bewegungen die Wahlen gewonnen.

Sie haben daraufhin mit Programmen gegen Hunger und Armut die extreme Armut deutlich gesenkt, die Arbeitslosigkeit reduziert; es ist eine erweiterte Mittelschicht entstanden; so konnte zum Beispiel in Venezuela die Armut von 43,9% Anteil an der Bevölkerung 1998 auf 26,7% im Jahre 2011 gesenkt werden, der Anteil der extremen Armut ging von 17,1% auf 7,0% im gleichen Zeitraum zurück; der Gini-Koeffizient (das Maß der Gleichheit oder Ungleichheit der Verteilung von Vermögen oder Einkommen in einem Land) ist von 0,498 auf 0,394 gesunken.

In einigen Ländern wurde die Straffreiheit bekämpft, d.h. es fand eine juristische Aufarbeitung der Militärdiktaturen bzw. der Bürgerkriege statt, z.B. in mittelamerikanischen Ländern.

Demokratische Freiheiten und Rechte wurden institutionell verankert (z.T. wurden neue Verfassungen installiert - Venezuela, Bolivien, Ecuador); in einigen Ländern wurden wichtige Schritte zum Aufbau einer Macht von Unten eingeleitet.

Der Bildungssektor wurde ausgebaut und für die armen Bevölkerungsschichten geöffnet (Alphabetisierungskampagnen mit Hilfe Kubas "Yo, si puedo");

Das Gesundheitssystems wurde ausgebaut bzw. für ärmere Schichten erst aufgebaut (auch hier mit der Hilfe Kubas; z.B. die "Operación Milagro" gegen den Grauen Star). Dieses Programm hat andere Länder in Lateinamerika unter Druck gesetzt, vergleichbare Programme aufzulegen, z.B. Peru.

In einigen Ländern wurde der gemeinwirtschaftliche Sektor gefördert (Kooperativen), aber: im Wesentlichen blieb die Macht der Oligarchie unangetastet, auch wenn es vereinzelt zu Verstaatlichungen kam, z.B. wurden in Bolivien die YPFB (Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos), die private Erdölfirma, 1997 teilprivatisiert, 2006 nationalisiert.

Vor allem blieben die Medienmonopole in privater Hand.

Parallel dazu fand eine Vertiefung der Integration in Lateinamerika statt: ALBA, CELAC-Gründung (alle Länder außer den USA und Kanada), MERCOSUR; die Aktionsfähigkeit der USA war durch Rückschläge bei der OAS und die erzwungene Anerkennung Kubas stark eingeschränkt.

Die wirtschaftliche Strategie war: Die Nutzung der Rohstoffrente (Erdöl und -gas), d.h., das Geld aus den hohen Rohstoffpreisen wurde genutzt, um 2.8. das Bildungs- und Gesundheitssystem auszubauen.

Wachstum sollte durch Stärkung der Nachfrage der ärmeren Schichten generiert werden; (Devise: "Umverteilen, um zu wachsen"). Dies war ein Bruch mit der alten Entwicklungslogik des neoliberalen Dogmas: "Investieren und später konsumieren").

Die Einnahmen aus dem Rohstoffexport wollte man nutzen, um die Wirtschaft schrittweise umzustrukturieren und z.B. eigene Verarbeitungsketten aufzubauen; es sollte eine nationale Industrie aus- bzw. aufgebaut werden.

Man strebte einen Ausbau der regionalen und Süd-Süd-Wirtschaftsbeziehungen (China; BRICS-Staaten) an.

Die Bevölkerung ist jetzt besser organisiert und hat ein höheres Bewusstsein; aber in den Mittelschichten ist der Konsumismus weit verbreitet (übersteigertes Konsumverhalten zum Zweck der gesellschaftlichen Abgrenzung oder des Strebens nach Identität, Lebenssinn und Glück; die Tendenz vieler Menschen, sich mit Produkten oder Dienstleistungen zu identifizieren und ihr Selbstwertgefühl davon abhängig zu machen).

Der Aufstieg in die Mittelschicht führte zu einer Änderung des Bewusstseins.


Die drei Phasen der Linksregierungen:

Es lassen sich drei Phasen in der Entwicklung der Linksregierungen unterscheiden:

Die 1. Phase (bis 2008)

Sie war mit einem hohem Wirtschaftswachstum und steigenden Devisenreserven verbunden.

Lateinamerika war als Rohstofflieferant in der internationalen Arbeitsteilung integriert.

Die Sozialprogramme, die Millionen Menschen aus der Armut geholfen haben, wurden aus den Gewinnen eines außergewöhnlichen Rohstoff-Booms (China als Hauptabnehmer der Rohstoffe) finanziert; die Vermögen der Reichen und die Profite der großen Unternehmen wurden nicht angetastet.

So wurde z.B. in Venezuela eine Bodenreform durchgeführt: 3 Mio. ha wurden verteilt (300 Aktivisten sind seit 2001 ermordet worden), vorrangig aus Ländereien im Staatsbesitz.

Teile der Oberschicht haben diesen Wirtschaftskurs unterstützt, da sie davon profitiert haben (so konnte z.B. eine neu entstehende kaufkräftige Mittelschicht mehr Konsumgüter kaufen). Die eigentlichen Machthaber, die Medienkonzerne, die Finanzindustrie (z.B. in Brasilien) waren von Anfang an gegen diesen Prozess und haben versucht, ihn zu torpedieren.

Im Prinzip haben alle sozialen Schichten in dieser Phase gewonnen.

Die 2. Phase (ab ca. 2008)

Mit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise in den kapitalistischen Zentren leiteten die Linksregierungen eine antizyklische Wirtschaftspolitik ein, um das Wachstum aufrechtzuerhalten und die Sozialprogramme zu finanzieren. Die Programme waren erfolgreich, aber sie hatten eine wachsende Verschuldung zur Folge.

Versuche einer progressiven Steuerreform (Umverteilung!) wurden nicht umgesetzt oder scheiterten - nicht überall (→ El Salvador), aber ein typisches Beispiel ist Ecuador: die Regierung von Rafael Correa versuchte, eine Steuerreform durchzusetzen, die die Superreichen - 2% der Bevölkerung - betroffen hätte. Es gab einen Aufschrei der Mittelschicht, die davon gar nicht betroffen gewesen wäre, so dass der Entwurf zurückgezogen werden musste! Die Medien, die auch in Ecuador in den Händen von wenigen sind, war es gelungen, die Leute so zu beeinflussen, dass das Gesetz nicht umgesetzt werden konnte. Es sagt sich immer so leicht, dass die Veränderungen radikalisiert und vertieft werden müssen!

Ein spezielles Problem in Ecuador ist, dass soziale Bewegungen häufig nur die Interessen von kleinen Teilen der Bevölkerung verfolgen und das Gesamtinteresse ignorieren. Dieses Verfolgen von partikularen Interessen führt immer wieder zu Spannungen zwischen der Regierung und Teilen der sozialen Bewegungen (z.B. mit Indígenas).


Die 3. Phase (ab ca. 2012/13)

Diese Politik der staatlichen Sozialprogramme und der Verschuldung hat sich nun erschöpft, sie bleibt in ihren eigenen Widersprüchen stecken.

Die Rohstoffpreise sind gesunken; - u.a. weil die chinesische Regierung daran geht, das eigene Wirtschaftsmodell umzustellen. Sie will weg vom Export von Billigprodukten zu einem mehr binnenwirtschaftlich orientiertem Wirtschaftsmodell.

Als Folge davon werden weniger Rohstoffe importiert. Dies führt zum Fall der Rohstoff-Preise und zur Rezession. Um die ärmsten Bevölkerungsschichten zu schützen, versuchen die linken Regierungen, auf Austeritätspolitik umzuschalten.

Für neue Investitionsprogramme fehlte nun das Geld.

Dies hat zur Folge, dass die Mittelschichten auf der Straße randalieren, um ihre "kleinen" Privilegien gegen die Armen zu verteidigen.

Die Kräfteverhältnisse zur Durchsetzung radikaler Reformen verschlechtern sich noch mehr. Die Regierungen entfremden sich noch mehr von ihrer sozialen Basis.

Die aktuelle Situation, exemplarisch an den Beispielen Brasilien, Venezuela und Bolivien dargestellt:

1. Venezuela

Warum gerade Venezuela? Es hat immer einen zeitlichen Vorlauf gehabt und wirkt deshalb beispielhaft.

Venezuela steht - wegen seiner wirtschaftlichen Ressourcen (Erdöl!) seit dem Wahlsieg von Hugo Chavez 1998 im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen zwischen der Linken in Lateinamerika und den neoliberalen Kräften (die interne Oligarchie; äußere Unterstützung v.a. durch USA und EU).

Die Auseinandersetzungen werden hier Von Anfang an äußerst erbittert geführt: Putschversuch, Wirtschaftsblockade 2002 (Ölstreik), das Abwahlreferendum gegen Chavez 2004. (Dies hat aber damals gezeigt, dass die Mehrheit Chavez unterstützt.)

Trotz dieses Widerstandes gelangen der venezolanischen Linken (aus den Chavistas entstand der PSUV; dazu Verbündete, z.B. der PCV) große Erfolge: Venezuela war der Motor der Lateinamerika-Integration, bei der Ablehnung des ALCA-Planes der USA, bei der Gründung und Entwicklung von ALBA, CELAC usw.

Die Erschöpfung des Wirtschaftsmodells war 2012/13 erreicht. Roberto Cabezas, der Vizepräsident der Regierungspartei PSUV sagte damals in Mexico:

"2012/13 bei einem Ölpreis von mehr als 100 $ pro Barrel betrug das Haushaltsdefizit 7,9% des BSP Die Öl-Einnahmen müssten jährlich um 12 Prozent steigen, damit die Wirtschaft 3% wächst. Für ein Wachstum der Wirtschaft wäre ein Ölpreis von 135 $ pro Fass erforderlich."

Wenn man die Sozialprogramme vor allem für die Ärmsten weiterführen will, muss man wirklich umverteilen zu Lasten anderer: z.B. eine Steuerreform durchführen.

Ein Ausdruck dieser Situation war der äußerst knappe Wahlsieg von Maduro bei den Präsidentschaftswahlen 2013.

Heute beträgt Erdölpreis nur noch ca. 40 $/Fass , d.h., der wirtschaftliche Spielraum noch geringer geworden.

Die Deviseneinnahmen sind vom Januar 2014 bis und heute, also Mai 2016, um 97,5% zurückgegangen!

Die Währungsthematik besteht einerseits wegen der Manipulation der Währung (Website Dollar Today). Es gibt einen offiziellen Kurs und einen subventionierten Kurs. Dies hat zu mehr Korruption geführt. Auf der anderen Seite gibt es Briefkastenfirmen, die sowohl multinationale Konzerne als auch pro-chavistische Unternehmer nutzen.

Seit Anfang 2014 gibt es Versorgungsprobleme bei Lebensmitteln und bei Gütern des täglichen Bedarfs. Dies hat zur Entstehung eines Schwarzmarktes und zu verstärktem Schmuggel geführt.

Carlos Wimmer von der venezolanischen KP war in Deutschland und berichtete folgendes: Diese Unterversorgung besonders mit Artikeln des Grundbedarfs und Medikamenten habe krisenhafte Ausmaße angenommen. Sie bedeute eine starke Belastung für Menschen mit geringem Einkommen. Ursache ist das Preisgefälle zwischen Schwarzmarkt- und offiziellen Preisen (die subventioniert sind). Das führt zu Warenhortung durch Zwischenhändler und Schmuggel (Konflikt mit Kolumbien!) Die hohe Inflation ist mittlerweile im dreistelligen Bereich angekommen. (700%?) Das sind Werte wie Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts in Deutschland.

Es gibt Korruption bei staatlichen Zentren, bei Supermärkten und in der Bürokratie (Devisenvergabe).

Das Preissystem wird stark reguliert; z.T. Sind die regulären Preise unter den Produktionskosten.

Es gibt viele stillgelegte Fabriken. Sie sind teilweise besetzt und produzieren jetzt weiter, darunter aber nicht wenige, die mit Verlust arbeiten. Die Opposition, die im Parlament über eine Mehrheit verfügt, will diese nach einem Jahr schließen lassen.

Auf dem Land lastet starker internationaler Druck: 50 hat der US-amerikanische Präsident Obama im März ein Gesetz unterzeichnet, das "Venezuela als Bedrohung für die nationale Sicherheit des Landes" einstuft.

Paramilitärs und konspirative NGO's arbeiten gegen die Regierung. Internationale Medienkampagne gegen das Land ist im Gange, auch bei der deutschen Berichterstattung (siehe amerika21 vom 22.05.16). Der Tenor lautet: Venezuela ist ein "gescheiterter Staat" mit einer humanitären und politischen Krise, zügelloser Korruption, nicht funktionierender Wirtschaft und massiver Kriminalität.

Der Wirtschaftskrieg ist in vollem Gange (Rückgang der Investitionen; siehe jw vom 02.05.16 zum Polar-Konzern).

Die rechte interne Opposition wird von außen unterstützt: z.B. Agieren des argentinischen Präsidenten Macri, das Wirken der OAS mit Generalsekretär Almagro.

Die nationale Opposition sieht zwei Optionen nach dem Wahlsieg bei den Parlamentswahlen:

a) Die Richtung von Capriles verhält sich "legalistisch", wie bisher, d.h. Sie setzt auf den Verschleiß der Regierung Maduro (Fortbestehen der schlechten Versorgungslage etc.) und steuert ein Abwahlreferendum an.

Der Parlamentspräsident Allup von der Acción Democratica rechnet mit einem Regime-Wechsel innerhalb von 6 Monaten.

Anfang Mai wurden durch das Oppositionsbündnis MUD angeblich 2 Mio. Unterschriften für die Abwahl von Maduro eingereicht, die durch den CNE (Wahlrat) geprüft werden.

b) Lopez will eine Rückkehr zu den "Guarimbas", d.h. Es kommt zu gewaltsamen Protesten mit Straßenblockaden und -schlachten. Dies führte zur Ermordung von Regierungsanhängern Ende März und zu Straßenprotesten im Mai. Dabei gab es insgesamt 43 Tote.

Diese Richtung will eine Situation am Rande eines Bürgerkrieges schaffen. Das würde zum Eingreifen von außen durch die USA führen (siehe dazu jw vom 20.5.: US-Spezialkräfte in Honduras, etc.).

Das venezolanische Militär steht zum großen Teil loyal zur Regierung. Das schließt aber nicht aus, dass einzelne Offiziere im Ernstfall nicht auf Seiten der Opposition stehen würden.

Es gibt laufend Konflikte zwischen Regierung und Parlament. Beispiele: das Amnestiegesetz der Opposition (letzte Woche in 2. Lesung verabschiedet; "Befreiung von Lopez"). Dagegen gibt es das Veto des Präsidenten. Die Kernfrage ist also: Regiert die Regierung oder das Parlament?

Ein anderes Beispiel ist der Kampf um die Novellierung des Arbeitsgesetzes (LOTTT), 2012 von Chavez unterzeichnet (u.a. gegen Outsourcing, Begrenzung der Arbeitswoche auf 40 h). Die Fedecamaras fordern eine Modifizierung des Gesetzes.

Vorschläge bzw. Aktionen der Regierung Maduro vom Februar dieses Jahres waren: die Ausrufung des Wirtschaftsnotstandes (Sie wurde jetzt vom Obersten Gericht als rechtens erklärt.), Lebensmittel- und Warenverteilung: Das staatliche Versorgungsnetzwerk (Mision Alimentaria, Mercal, Farmapatria, Bäckereien) soll umstrukturiert werden, alles soll zu einem Betrieb der Lebensmittelversorgung zusammengeführt werden, um die Korruption in den Griff zu kriegen. Ein neues System der Preisfestsetzung für die 100 Basisprodukte wird eingeführt. Es gab eine Preiserhöhung für Benzin für die Endverbraucher. (Benzin ist aber immer noch billiger als Wasser!) Die Erlöse sollen für neue Sozialprogramme verwendet werden. Ein neues System der Devisenbewirtschaftung wurde eingeführt. Es dient der Förderung von Tourismus und Exporten; der Wechselkurs für prioritäre Wirtschaftsbereiche wurde von 6,3 Bs auf 10 Bs erhöht) Ziel ist die Beseitigung des Schwarzmarktes. Ein Schutz von Gehältern und Pensionen wurde beschlossen; das Mindestgehaltes um 20% angehoben etc. Ein neues Steuersystem soll eingeführt werden, um Steuerflucht und -betrug zu unterbinden.

Kurzfristiges Ziel ist die Verbesserung der Versorgung mit Artikeln des Grundbedarfs und Medikamenten. Hier bedeutet die Unterversorgung eine starke Belastung für Menschen mit geringen Einkommen.

Politisches Ziel ist der Versuch einer Verhandlungslösung unter Vermittlung der UNASUR.

Die zentralen Fragen sind:Wie soll der Kampf gegen Korruption, gegen alte und neue Bürokratien gestaltet werden? (Es gibt auch neureiche Chavistas!)

Wie soll die Mobilisierung der Basis erfolgen (Es gibt 40.000 consejos comunales, Arbeiterräte, Frauenbewegungen.), um das Abwahlreferendum zu gewinnen? Claudio Katz: "Die Rechte hat nicht so sehr deshalb gewonnen, weil der Chavismus der Rechten seine Stimmen gegeben hat, sondern weil die Leute nicht zu den Urnen gingen." - Steve Ellner auf amerika21 berichtet, "ca. 2 Mio. Chavistas wählten ungültig oder gar nicht."

Wie soll der "bolivarianische" Prozess weiterentwickelt werden? Ein Prozess der sich nicht radikalisiert, geht rückwärts (wobei sich das einfacher sagt, als es umgesetzt werden kann; siehe den Versuch der Steuerreform in Ecuador).

Maduro nimmt eine Position des Zentrums zwischen moderaten und linken Strömungen ein. Viele werfen ihm fehlende Führungskompetenz vor. Von den meisten seiner Anhänger sehen Maduro als zu zögernd.

Claudio Katz hat folgende Vorschläge bzw. Aussagen zu Venezuela:

Man muss Entscheidungen in zwei Bereichen treffen:

- im ökonomischen Bereich: Verstaatlichung der Banken und des Außenhandels, Änderung der Devisenbewirtschaftung;

- im politischen Bereich: Radikalisierung des Prozesses durch Auf- und Ausbau der Macht von unten, d.h. der kommunalen Macht (Gesetze und Struktur dafür bestehen schon).

Als Beispiel nennt er die Auflösung der Bicentenario-Supermarktkette (wegen Korruption) im Februar. Die Läden werden jetzt als Verteilungszentren für kommunale Räte genutzt.

Und: "Der progressive Zyklus und die Zukunft werden in Venezuela entschieden. Dies war der wichtigste Prozess und seine Auflösung wird den Kontext der ganzen Region bestimmen." (C.Katz)

Abschließend bleibt aber festzustellen: Der Prozess in Venezuela ist am weitesten fortgeschritten innerhalb des progressiven Zyklus.

Die Kernfrage ist, ob der Opposition die Übernahme der politischen Macht gelingt, egal, auf welche Weise. Dies würde den Stopp und das Rückdrehen des "bolivarianischen" Projektes bedeuten.

2. Brasilien

Die Entwicklung verlief ähnlich wie in Venezuela. Momentan steht es auch im Fokus wegen des kalten Staatsstreichs, der dort im Gange ist.

Vor der Regierungsübernahme durch Lula 2003 schloss er einen Pakt mit Teilen der Oligarchie: Gewinne, Zinszahlung, Inflation, Vereinbarungen mit dem IWF, etc. sollten eingehalten und nicht angetastet werden.

Dafür erhielt er freie Hand für seine Sozialprogramme (36 Millionen Menschen wurden in seiner Regierungszeit aus der extremen Armut geholt.) und eine selbstständige Außenpolitik, die auch gegen US-Interessen agiert; die Süd-Süd-Verbindungen wurden ausbaut (Entstehung des Begriffs der BRICS-Staaten!), die lateinamerikanische Integration wurde verstärkt. Der Binnenmarkt wurde angekurbelt, der Mindestlohn erhöht, es wurden verschiedene Sozialprogramme aufgelegt.

2008 wurden die öffentlichen Investitionen (Infrastrukturmaßnahmen) gesteigert, um die Auswirkungen der Krise abzuwenden.

2012 war auch in Brasilien dieses Wirtschaftsmodell abgenutzt, was maßgeblich zur derzeitigen Krise führte.

Claudio Katz beschreibt die Lage so: Die aktuellen Prozesse sind das Ergebnis einer Erschöpfung des Neo-Entwicklungs-Wirtschaftsmodells: 2008 ist momentan nicht wiederholbar. Dies führt zur Wirtschaftskrise und zur gegenwärtigen Haushaltssituation.

Die Regierung versucht, eine dritte Phase des Wohnbauprogramms "Mein Haus, mein Leben" einzuleiten, um gegenzusteuern. Es sind aber nicht mehr die Mittel verfügbar, um dies zu finanzieren.

Ohne Verteilungskämpfe (z.B. Steuerprogramme) ist keine Fortführung der Sozialprogramme möglich.

Es gab eine starke politische Verschlechterung nach den Wahlen 2014, diese führten zu neoliberalen Anpassungen (Kürzungen) durch den neuen Wirtschaftsminister Levy.

Die Arbeitslosigkeit stieg von 5% auf 10%. Dies hatte das Aufkommen sozialer Unzufriedenheit zur Folge. Daraufhin distanzierten sich wichtige fortschrittliche Sektoren Von der Regierung.

Der Druck seitens der Wirtschaft hin auf einen neoliberaler Kurs wuchs, ein Medienkrieg wurde angezettelt (Globo-Konzern!) und die Justiz tat das ihre dazu.

"Der Kampf geht jetzt darum, wer für die Krise zahlt." D.h., es sollen die Armen sein. Die Mittel sind die Kürzung von Sozialprogrammen, Privatisierungen, die Senkung des Mindestlohnes.

Die PT hatte auch in der Vergangenheit nie eine Mehrheit im Parlament; das Ergebnis der Parlamentswahl 2014 aber ist das rechteste Parlament seit Ende der Diktatur [2010 hatten PT und PCdoB 103 von 513 Sitzen im Abgeordnetenhaus; 2014 waren es nur noch nur 68; die Regierungskoalition bestand aus 13 Parteien!].

Alle Regierungsmaßnahmen werden im Parlament vom Koalitionspartner PMDB [rechtsliberale Partei der demokratischen Bewegung] und der Opposition blockiert. Steuererhöhungen auf große Vermögen sind jetzt noch schwieriger umzusetzen Es wurde ein Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff eingeleitet. Der Grund sind angebliche Haushaltstricks bei der Finanzierung von Sozialprogrammen, die Jahre zurückliegen und vom Kongress selbst nicht moniert worden waren; sie sind juristisch "Verstöße gegen das Haushaltsrecht". Initiator ist der Parlamentspräsident Eduardo Cunha von der PMDB, der selbst illegale Gelder auf Schweizer Konten hat, was eine Korruptionsanklage gegen ihn zur Folge hatte. Inzwischen ist er (im Mai) seines Amtes enthoben worden. Korruptionsvorwürfe bzw. Unregelmäßigkeiten bei der Parteienfinanzierung gegen den PT werden medial "aufgearbeitet" - der PSDB (Sozialdemokratische Partei, die wichtigste Partei der Rechten) hat deutlich mehr Korruptionsfälle. Hier wird aber nicht ermittelt, es findet keine mediale Berichterstattung statt. Dazu kommt noch der Korruptionsvorwurf gegen Lula. (Er ist der populärste Politiker Brasiliens.) Massendemonstrationen gegen den PT werden organisiert; es kommen Rufe nach einem Militärputsch auf. 400 Industrieverbände fordern den Rücktritt der Präsidentin. Am 29.3. kam es zum Bruch der Regierungskoalition: Der PMDB stieg aus dem Bündnis aus, aber 6 der 7 PMDB-Minister wollten an ihrem Sessel festhalten. Am 17.4. stimmte eine entsprechende Mehrheit des Abgeordnetenhauses für das Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin. Am 12.5. hat der Senat Dilma Rousseff für 180 Tage vom Amt suspendiert; der Vize-Präsident Temer (PMDB) fungiert seither als de facto Präsident. Er hat ein straffes neoliberales Regierungsprogramm: Kürzung von Sozialprogrammen, Sparmaßnahmen, Privatisierungen (Infrastruktur; Erdölvorkommen), Schließung des Kulturministeriums. Der Planungsminister Juca (PMDB) ist nach einer Veröffentlichung von Abhörprotokollen zurückgetreten. (Es ging um Putschpläne mit Richtern bzw. Militärs. Das Ziel war, ein Verfahren gegen PMDB-Politiker stoppen.) Das Bündnis der alten Eliten ist wieder hergestellt: Oligarchie, große Medien, Justizapparat ziehen an einem Strang. Gegen ein Drittel der neuen Regierungsfunktionäre ermittelt die Justiz.

Bei dem ganzen Vorgang handelt es sich um einen kalten Putsch: gegen Rousseff gibt es keine einzige Beschuldigung einer Straftat! Es ist offen, wie es weitergeht: alle Medien sind in der Hand der Konservativen und Rechten.

Es gibt Massenproteste seitens des PT und der Gewerkschaften gegen den kalten Staatsstreich: die zwei größten Gewerkschafts-Dachverbände erkennen Temer nicht an. Die Schließung des Kulturministeriums musste zurückgenommen werden. Es kam zu internationalen Protesten: Venezuela und El Salvador haben ihre Botschafter zurückbeordert; ALBA protestierte, UNASUR bezeichnet das Geschehen als Staatsstreich.

Unterstützung erhalten die neuen (alten) Herren von Argentinien, den USA, von der OAS. Iole Iliada vom PT sagt: "Der Kampf wird auf den Straßen entschieden."

In der Diskussion kam die Frage nach den sozialen Bewegungen, insbesondere der Landlosenbewegung, auf. Diese hatten ja damals im Vorfeld den Amtsantritt von Lula und den Regierungseintritt des PT maßgeblich mit ermöglicht.

Es wurde festgehalten, dass der PT die Verbindung mit den sozialen Bewegungen verloren hat. Beim Regierungsantritt des PT wurde damals nicht umverteilt. Es ist auch kein Land verteilt worden!

Teile der Basis wenden sich ab. Das Ansehen der Regierung ist durch die schwere Wirtschaftskrise zusätzlich sehr geschwächt worden. Das Bündnis mit Teilen der Bourgeoisie, mit dem man in die Wahlen gegangen ist, ist zerbrochen. Die Medien sind in der Hand von wenigen Konzernen. Der von ihnen entfachte Medienkrieg gegen die geschwächten Linken in der Regierung tut ein Übriges.

Die Frage nach der Niederlage der Linken stellt sich nicht: ob, sondern wie?

3. Bolivien

Bolivien wurde als Beispiel herausgegriffen, weil sich hier zeigt, dass auch gute wirtschaftliche Entwicklung und wirklich durchgeführte Umverteilungsmaßnahmen keine Garantie dafür darstellen, dass sich auf längere Frist eine stabile linke Mehrheit in der Bevölkerung erringen lässt.

Das Land ist ein Beispiel dafür, dass in links regierten lateinamerikanischen Ländern eine gute wirtschaftliche Entwicklung gelingen kann und soziale Erfolge erzielt wurden:

Die extreme Armut wurde von 38,2% auf 17,3% reduziert. Die registrierte Arbeitslosigkeit liegt heute bei 3%. Die Hälfte der Bevölkerung wird von Sozialprogrammen erreicht, der Analphabetismus ist überwunden; im Gesundheitswesen wurden große Fortschritte erzielt, auch mit Hilfe von kubanischen Ärzten.

In den 10 Jahren der Regierung Morales gab es ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 5,1%; die Inflation betrug 2,8%. Die natürlichen Ressourcen wurden verstaatlicht. [Garcia Linera spricht von Einnahmen aus diesem Sektor von 31 Mrd. US-$ in 10 Jahren; nur 2,5 Mrd. US-$ waren es in den 10 Jahren davor, als diese in Privatbesitz waren.] Etwa eine Million Bolivianer haben den Aufstieg von der Unter- in die Mittelschicht geschafft (bei einer Einwohnerzahl von 10,6 Millionen).

Trotzdem ist Bolivien auch ein Beispiel dafür, dass gute wirtschaftliche Entwicklung und soziale Erfolge alleine nicht ausreichen, um politische Mehrheiten für die Fortführung des linken revolutionären Projekts aufrecht zu erhalten.

Am 21. Februar 2016 wollte Evo Morales durch eine Änderung des Artikels 168 eine nochmalige Wiederwahl und - im Falle eines Wahlsieges - eine bisher nicht mögliche vierte Amtszeit erreichen. Morales ist seit 2006 im Amt und bis 2020 gewählt.

Die Wahl im Jahr 2014 hatte die MAS noch mit 61,3% gewonnen. Beim Referendum stimmten 51,3% gegen die Verlängerung der Amtszeit - ein Vorsprung von lediglich 135.154 Stimmen. Das war die erste Niederlage an der Urne für Evo Morales und die MAS.

Allerdings: Das JA ist für Evo, die MAS und die Regierung der gesellschaftlichen Veränderung, das NEIN kann sich keine einzelne Partei zugute schreiben; es kann jedoch das Startsignal für die Opposition sein, sich unter einem Dach für die kommenden Wahlen zu verbünden.

Warnzeichen dafür sind: Bereits bei der Kommunalwahl 2015 gab es gute Resultate für die rechte Opposition (u.a. in der Hauptstadt La Paz). Im Vergleich zu früher gab es eine effektivere und planvollere Kampagne der Opposition. Die gewachsenen Mittelschichten identifizieren "Demokratie" mit dem Parteien- und Regierungswechsel; Demokratie wird von ihnen nicht als die Möglichkeit verstanden, die eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen, ein politisches und soziales Modell im Interesse der arbeitenden Klassen aufzubauen. Im Bereich der Kultur haben die Neoliberalen eine Hegemoniestellung. (Auf Regierungsseite wird eine Debatte geführt: Wie kommen wir aus dem bürgerlichen Demokratieverständnis und Wahlsystem heraus, die immer zum Vorteil der bürgerlichen Parteien sind?)

Probleme dabei sind: Eine Jugend betritt die politische Bühne, die die neoliberalen Regierungen nicht mehr aus eigener Erfahrung kennt. Die Korruption, die für die neoliberalen Regierungen typisch war, auch jetzt nicht ausgemerzt.

Seit der Regierungsübernahme baut MAS eine Hegemonie gegen den Neoliberalismus und für das Projekt eines "gemeinschaftlichen Sozialismus" (socialismo comunitario) auf.

Man muss den "Kampf der Ideen" verstärken; man muss die Einheit stärken auf Grundlage einer Politik, die gemeinsam mit den sozialen Bewegungen erarbeitet wird und die Veränderungen weitertreibt, die Volksmacht von unten aufbaut, den gemeinwirtschaftlichen Sektor stärkt, die lateinamerikanische Integration vertieft.

Es besteht die Notwendigkeit einer politischer Nachjustierung: Verbesserungen in der Justiz (Bürokratie, Korruption, ineffiziente Justizprozesse) und im Gesundheitswesen sind nötig, eine Erhöhung der Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zur besseren internationalen Anbindung Boliviens (z.B. das Megaprojekt einer Eisenbahnlinie, die den Atlantik mit dem Pazifik verbinden soll - durch Bolivien, Brasilien, Peru). Dann kann aus einer "taktischen Niederlage ein strategischer Erfolg" in einer "neuen politischen Etappe" werden.

In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass auch in linken Kreisen Lateinamerikas das Bewußtsein verankert ist, dass mehrfache Amtszeiten verhindert werden müssen. Dies hat sich als wirksames Mittel erwiesen, im Rahmen der bürgerlichen Demokratie eine zu große Machtfülle Einzelner zu erschweren.

Kritisch wurde auch angemerkt, dass es ein Schwachpunkt linker Bewegungen sei, wenn die ganze Entwicklung nur an einer Person hänge - gibt es keinen Ersatz für Evo Morales?


Kuba

Die Ausgangslage war der 6. Parteitag der PCC der 2011 stattgefunden hat. Es kam dort zur Verabschiedung der Lineamientos (das sind 313 Leitlinien, die breit diskutiert wurden; Änderungsvorschläge wurden eingearbeitet). Das Mittel sollten weitreichende, strukturelle Wirtschaftsreformen mit dem Ziel der Aktualisierung des sozialistischen Wirtschaftsmodells sein. Ziel ist, dass es keine Restauration des Kapitalismus geben soll, sondern dass die Wirtschaft produktiver und nachhaltiger wird als Grundlage für den Anstieg des Lebensstandards; der Weg zum Sozialismus soll unumkehrbar werden.

Einzelne Schritte sind u.a. die Umgestaltung staatlicher Unternehmen: sie sollen mehr Autonomie und Eigenverantwortung erhalten, die Entlohnung soll nach Leistung erfolgen. Sie Landwirtschaft, das große Sorgenkind, will man produktiver machen, um so loszukommen von bisher notwendigen Lebensmittelimporten. Jedes Jahr muß sehr viel Geld dafür aufgewendet werden. Größe Flächen liegen brach. Man strebt eine dezentralere Leitung an. Es gab eine Verwaltungsreform. Privatwirtschaft wird als Ergänzung zum staatlichen Eigentum zugelassen. Die duale Währung soll beseitigt werden.

Im April 2016 fand der 7. Parteitag statt.

Die Bilanz:

Erst 21% der 2011 beschlossenen Leitlinien sind bisher umgesetzt werden. Vieles ist nicht leicht zu realisieren aufgrund der Mentalität, der Denkstrukturen. Das BSP wuchs im Durchschnitt um 2,8% (2015: 4%); das ist zu wenig, um einen Anstieg des Lebensstandards zu bewirken. Die Landwirtschaft bleibt ein "Problemkind". Land wurde hauptsächlich privat von Bauern gepachtet. Es müssen immer noch hohe Kosten für Lebensmittelimporte getragen werden. Die Produktivität ist zu gering gewachsen. Das hatte zur Folge, dass die Löhne weiter niedrig sind; sie sind nicht ausreichend, um dafür genügend Lebensmittel zu kaufen, um eine Familie zu versorgen. Deshalb konnte auch die libretta (das Gutscheinheft zum Bezug von Grundnahrungsmitteln) nicht abgeschafft werden. Der Privatsektor ist gestiegen: Er beträgt jetzt 30% bei der Beschäftigung, aber erwirtschaftet nur 12% des BSP, d.h. er hat nur begrenzten Charakter bei der Wertschöpfung. Das Marktexperiment in Havanna, Artemisa und Mayabeque ist gescheitert: Die freie Vermarktung von Lebensmitteln führte zu exorbitanten Preiserhöhungen, zur Bereicherung von Wenigen und Korruption. Daher wurde dieses Experiment wieder beendet.

Positive Ergebnisse gibt es dagegen im Tourismus zu vermelden (2015: 3,5 Mio. Besucher) und im Dienstleistungssektor. Es gibt bessere Bedingungen für Investitionen [Schulden konnten stark reduziert werden; Rußland, Mexiko, und der Pariser Club haben einen Teil der Schulden erlassen, der Rest wird in Zukunftsprojekte investiert]: auch aus dem Ausland (Frankreich, Spanien, China, Rußland). In der Sonderwirtschaftszone Marie] wurde ein Tiefseehafen errichtet.

Der Ausblick:

Zwei Dokumente wurden vorläufig verabschiedet: ein langfristiger wirtschaftlicher und sozialer Perspektivplan bis 2030 sowie Grundzüge des neuen Wirtschaftsmodells des kubanischen Sozialismus.

Über diese Pläne findet in der Gesellschaft eine breite Diskussion statt; die Ratifizierung im Parlament ist bis Jahresende vorgesehen.

Die Leitlinien von 2011 wurden aufgrund der gemachten Erfahrungen aktualisiert.

2018 (Wahlen zum Parlament) bzw. 2021 (Parteitag) soll ein Generationswechsel an der Spitze von Staat und Partei stattfinden.

Bis dahin soll eine Verfassungsreform erfolgen mit dem Ziel, Frauen und Menschen mit dunkler Hautfarbe stärker zu fördern.

Der 8. Parteitag soll 2021 stattfinden. In außenpolitischer Hinsicht gab es seit Dezember 2014 einen Prozess der Normalisierung der Beziehungen zu den USA: Es wurden beiderseits Botschaften eröffnet, der US-Präsident war in Kuba, eine Rücknahme bestimmter Restriktionen ist erfolgt.

Dies ist ein großer Erfolg des revolutionären, sozialistischen Kuba, seiner Überzeugungen, seiner Werte und Kultur, seines Widerstandes im historischen Konflikt mit den USA.

Es ist auch eine Anerkennung des Scheiterns der bisherigen Form der feindlichen Politik der USA (Invasion, Terrorismus etc.) gegenüber Kuba.

Aber: Das Ziel der USA ist es nach wie vor, eine Änderung des Gesellschaftssystems auf Kuba zu erreichen, eine Restauration des Kapitalismus.

Dies geschieht über das US-Kapital, die Kommunikationsmedien, die CIA und die Fünfte Kolonne. Man will eine Ausweitung des kubanischen Privaten Sektors erreichen, um so mit der Zeit die soziale Basis der kubanischen Gesellschaft zu transformieren.

In einem Artikel auf amerika21 beschreibt der kubanische Kommunist Augustin Lage Davila die ökonomische Schlacht des kubanischen 21. Jahrhunderts auf drei Feldern:

1. Dem der Effizienz und der Wachstumsfähigkeit der Sozialistischen Staatsbetriebe und deren Einbindung in die Weltwirtschaft

2. Dem der Verbindung der Wissenschaft mit der Ökonomie mittels Biotechnologie, Hochtechnologieunternehmen mit hoher Wertschöpfung an Produkten und Dienstleistungen, die unser Portfolio an Exporten bereichern

3. Dem der bewussten Eingrenzung der Ausbreitung sozialer Ungleichheiten durch das Eingreifen des sozialistischen Staates. (D.h.: Ja, es wird einen privaten Sektor geben, aber es wird genau geschaut, was sich da entwickelt.)

Um den ökonomischen Kampf erfolgreich führen zu können, muss der Kampf der Ideen gewonnen werden.

Das heißt, das Denken der kubanischen Menschen und den Konsens darüber zu festigen, in welche Richtung möchte die Gesellschaft gehen und über welche konkreten Wege.

Das kubanische Ideal einer menschlichen Gesellschaft ist: solidarisch, gerecht, soziale Gleichheit (über die Verteilung der Arbeitsergebnisse herzustellen).

Gemeinschaftliches Eigentum geht vor Privateigentum und Konkurrenz.

Die Politik der USA gegenüber Kuba ist eingebettet in eine Strategie des Rollback in Lateinamerika.

Nicht Kuba war in Lateinamerika isoliert, sondern die USA. Sie mussten hinnehmen, dass Kuba wieder in die OAS aufgenommen wurde.

Kuba ist führend in der Integration in Lateinamerika: Es war einer der Initiatoren bei ALBA, CELAC, UNASUR.

Man schafft Ruhe an dieser Front, um Kräfte frei zu haben für Venezuela, Brasilien etc.

Im Anschluss fand eine ausgiebige Diskussion über die Lage in Kuba statt. Die Ansichten über die Erfolgsaussichten des Reformprozesses waren nicht einhellig. Es herrschte z.T. Skepsis wegen der Gefahren, die durch die Öffnung für den privaten Sektor und die Einwirkungsmöglichkeiten des ausländischen Kapitals entstehen. Der Auffassung, ohne Reformprozess wäre das Land auf Dauer verloren und es gebe keine Alternative dazu, widersprach aber niemand. Verschiedene Problemfelder wurden angeschnitten. So schilderte der Referent bei dem Thema "freier Zugang zum Internet", dass dieser im Prinzip möglich sei. Es seien nur wenige dezidiert antikommunistische Seiten gesperrt, der Rest frei zugänglich. Das größere Problem sei, dass der Zugang für Kubaner (wegen des geringen Einkommens) sehr teuer sei aufgrund technischer Schwierigkeiten: Die USA boykottieren den Zugang Kubas zu bestehenden Unterseekabeln. Ferner verweigern US-Medienkonzerne Nutzern in Kuba eine Aktualisierungen ihrer Programme über das Internet.

Das Ansehen und das Vertrauen in die kubanische KP besteht bei großen Teilen der Bevölkerung nach wie vor: auf dem Land (soziale Programme, die initiiert werden, kommen dort auch an) ist es größer als in manchen Städten; dort gibt es auch mehr Menschen, die durch das entstehende Privateigentum ein anderes Bewußtsein entwickelt haben.

Im Land wird kritisiert, dass die (linken) Medien nicht mit der Zeit mithalten; eine realistischere Berichterstattung wird gefordert. Die maßgeblichen Kreise in der Partei sind der Meinung, dass man den Reformprozess steuern könne: die Nachteile könne man beherrschen, die Vorteile überwögen.

Als besonders riskant für die gesellschaftliche Entwicklung wird das Fortbestehen von zwei Währungen gesehen. Dies bewirkt eine gefährliche Spreizung der Gesellschaft. Das Problem der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit ist das Kernproblem.

Abschließend wurde noch auf die sehr verdienstvolle Rolle hingewiesen, die Kuba beim Friedensprozess in Kolumbien gespielt hat.


Perspektiven und Ausblick

Momentan findet ein massiver Angriff der internen und externen Oligarchie statt mit deutlich sichtbaren "Erfolgen" in Argentinien und Brasilien ("Staatsstreich"!) und der Situation in Venezuela. Deutlich zu sehen ist der Plan, auch in Venezuela den roll back zum Abschluss zu bringen und die Errungenschaften weitestgehend zu beseitigen.

Lateinamerika soll wieder neoliberal "auf Vordermann" gebracht werden (Hinterhof der USA; Neuauflage von Freihandelsverträgen - ALCA 2). Linke und alternative Konzepte sollen beseitigt werden.

Die alten Konzepte der linken Regierungen haben sich totgelaufen. Die "Rentenökonomie", mit Einnahmen aus Rohstoffverkäufen Sozialprogramme zu finanzieren, funktioniert nicht mehr.

Andererseits muß man aber feststellen, dass die "sozialdemokratische" Politik (im ursprünglichen Sinne) vielen Menschen in armen Lebensverhältnissen etwas gebracht hat.

Entscheidend wird sein, ob und wie es gelingt, massenhaften Widerstand dagegen auf allen Ebenen zu organisieren, vor allem auf der Straße.

Die Verbindung von Linken und sozialen Bewegungen, wie sie am Anfang bestanden haben, müssen wieder hergestellt werden und weiter gehen, d.h. radikalisieren.

Natürlich ist auch internationale Solidarität notwendig; nicht nur innerhalb Lateinamerikas (Reaktionen von Linksregierungen!), aber auch international, d.h. in diesem Fall hier in Europa!

In Lateinamerika muß der Prozess der Integration weiter vorangetrieben werden!


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Grafik S. 10 oben:
Armutsbekämpfung am Beispiel Venezuelas

Grafik S. 10 unten:
Nachfragestärkung, am Beispiel Venezuelas

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 193 - Herbst 2016, Seite 9 bis 16
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2016

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