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ARBEITERSTIMME/333: Das gesellschaftliche Klima wird rauher


Arbeiterstimme Nr. 192 - Sommer 2016
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Das gesellschaftliche Klima wird rauher


"Wo keiner mehr träumt von der Zukunft, wird das Volk wild und wüst."
Stefan Heym, Der König David Bericht


Die öffentlichen Reaktionen auf die Ankunft von etwa einer Million Flüchtlingen und die Wahlerfolge der "Alternative für Deutschland" (AfD) bei Landtagswahlen in Sachsen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben gesellschaftliche Widersprüche in Deutschland sichtbar werden lassen, die sich über lange Jahre entwickelt haben. Bemerkenswert daran ist, dass vor allem die politische Rechte davon profitiert zu haben scheint. Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass eine große Woge der Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung vielen Flüchtlingen das Einleben erleichterte - die sogenannte Willkommenskultur.

Bereits 1966, gegen Ende der Hochphase des deutschen "Wirtschaftswunders", gelang der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), einer eindeutigen Nazi-Partei, der Einzug in den Hessischen Landtag mit 7,9 Prozent der Stimmen, Zu jener Zeit regierte im Bund die erste Große Koalition aus CDU/CSU und SPD, die vor allem vom rechten Rand der Unionsparteien befeindet wurde. "Die Republikaner" wurden 1983 in München von ehemaligen CSU-Mitgliedern als rechte Protestpartei gegründet. Bei der Wahl zum Europäischen Parlament 1989 erhielten sie bundesweit über sieben Prozent der Stimmen. Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin Januar 1989 erreichten sie 7,5 Prozent, und von 1992 bis 2001 hatten sie Abgeordnete im Landtag von Baden-Württemberg. Die "Partei Rechtsstaatlicher Offensive", bekannter als "Schill-Partei" nach dem Mit-Parteigründer und Richter Ronald Schill, war von Oktober 2001 bis März 2004 an der Regierung Hamburg beteiligt. Sie betonte die Themen öffentliche Sicherheit, war wirtschaftsliberal und stellte sich mit Positionen von rechts gegen die Sozialpolitik der SPD/Grüne-Regierung. Alle diese Versuche, Parteien rechts der sogenannten Volksparteien CDU/CSU und SPD dauerhaft und bundesweit in den Länder- und Bundesparlamenten zu etablieren schlugen fehl, ihre Wahlerfolge blieben vorübergehend. Das heißt nicht, dass die Protestwähler danach ihren Frieden mit den etablierten Parteien gemacht hätten; viele gingen dann halt nicht mehr wählen.

Die gesellschaftliche Atmosphäre in Deutschland fügt sich ein in den europäischen Zusammenhang: Die Wahlerfolge der FPÖ, der "Freiheitlichen", in Österreich, des Front National in Frankreich, der Blocher-Partei in der Schweiz, der Nationalkonservativen in Polen, der Schweden-Demokraten (Sverigedemokraterna), UKIP und die Brexit-Kampagne eines Teils der Konservativen Partei in Großbritannien, um einige Beispiele zu nennen. Für die europäische Rechte ist insgesamt die Europäische Union das gemeinsame Feindbild, das für alles Schlechte verantwortlich gemacht wird. Aber auch auf dem amerikanischen Kontinent erleben wir den Stimmungswandel auf der politischen Ebene: Der Erfolg eines Donald Trump im Konkurrenzkampf innerhalb der Republikanischen Partei um die Nominierung zur US-Präsidentschaftswahl, der Sturz der "sozialdemokratischen" Regierungen in Argentinien und Brasilien durch Bündnisse der herrschenden Klassen dieser Länder, der wachsende Druck auf linke Regierungen in Bolivien und Venezuela.

Der gemeinsame Hintergrund dieses Aufstiegs der politischen Rechten in der Gunst der Wähler aus den lohnabhängigen Klassen ist gewiss die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise um 2008, deren Folgen in Gestalt von Arbeitslosigkeit und Abbau sozialer Leistungen fortwirken. Mindestens ebenso gravierend ist allerdings, dass viele Menschen in den genannten und auch weiteren Ländern keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft unter den gegebenen Bedingungen haben. Aber in Wirklichkeit reichen die Wurzeln dieses Unmuts viel tiefer in die Vergangenheit, wie wir oben bereits angedeutet haben - in die achtziger und neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Sozialistischen Lagers 1989 raubte den (west)deutschen Gewerkschaften einen wichtigen Verbündeten bei den Tarifverhandlungen mit den Unternehmern: Die DDR, die nach allgemeinem Verständnis in den Jahren davor stets (ideell) mit am Verhandlungstisch saß. Die Unternehmer wie auch die Regierungen mussten mit Blick auf diese Tatsache soziale Zugeständnisse an die lohnabhängigen Klassen machen, um die Überlegenheit des Kapitalismus auch für deren Lebensstandard zu demonstrieren. Mit dem Ende der DDR entfiel dieser Zwang. Die Tarifverhandlungen wurden härter, die Lohnsteigerungen geringer, die Tarifbindung in der Fläche ließ nach. Weitere Schritte waren die Privatisierung bzw. Quasi-Privatisierung öffentlicher Dienstleistungsunternehmen wie Bahn, Post und Telekom in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Schließlich mündete die Offensive der Bourgeoisie in die Agenda 2010 der rosa-grünen Schröder-Fischer-Regierung mit der Deregulierung bzw. Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zugunsten der Unternehmer und der Entkoppelung des Arbeitslosengeldes (nach kurzer Übergangsfrist) vom Erwerbseinkommen. Umgekehrt wurden die Unternehmer und die Reichen im Allgemeinen von der Vermögenssteuer befreit, die Unternehmenssteuern erheblich gesenkt - um nur einige Beispiele zu nennen. Vorbild für die Schröder-SPD war erklärter Maßen die britische Labour-Regierung unter Tony Blair.

Es war vor allem der wirtschaftliche Aufschwung Chinas, eines riesigen Marktes mit 1,4 Milliarden Menschen, und einiger anderer Schwellenländer, die damals verhinderten, dass sich die soziale Lage der lohnabhängigen Klassen in den westlichen europäischen Industrieländern dramatisch verschlechterte. Aber es gab auch keine wesentlichen Verbesserungen oder Hoffnungen darauf. In Deutschland stagnierten die Realeinkommen der Beschäftigten über 25 Jahre in Folge. Erst in den letzten beiden Jahren gibt es wieder (geringfügige) reale Lohnzuwächse. Gleichzeitig wird das Renteneintrittsalter (Rente mit 67 plus) hoch geschraubt und das Niveau der gesetzlichen Altersrenten nach unten (Zielmarke 43 Prozent des letzten Nettoeinkommens).

Der Druck der Unternehmer in den anderen Ländern der Europäischen Union ist groß, dem deutschen Beispiel zu folgen. Aber die Regierungen in Italien und Frankreich tun sich nicht leicht damit, weil sie in ihren Ländern auf deutlichen Widerstand stoßen - aber sie gehen gleichwohl in eine ähnliche Richtung, weil sie von ihren herrschenden Klassen aus Industrie und Finanzkapital dazu gedrängt werden. Das Kapital will und muss überall die gleichen Existenzbedingungen haben, wenn es sich im weltweiten Konkurrenzkampf behaupten will; und das lässt sich nur zu Lasten der lohnabhängigen Klassen erreichen.


Wie kommt es, dass ausgerechnet die politische Rechte davon profitiert?

Wenn die Protestwähler glaubten, der Schuss vor den Bug würde die Regierungsparteien in Berlin und den Ländern zum beidrehen bewegen, so haben sie sich geirrt. Zwar gibt es Signale aus der SPD: Arbeitsministerin Andrea Nahles zum Beispiel, die Zeitarbeitsverhältnisse zu regulieren verspricht, Sigmar Gabriel, der über Verbesserungen bei der Rente nachdenken will. Aber die Versprechen, Teile der Agenda-Politik zu reformieren gehen entweder ins Leere oder sie bringen nur Wenigen wenig. Auch die Unionsparteien finden nicht den finanziellen Spielraum, der es ihnen gestatten würde, größere Teile ihrer abhanden gekommenen Wählerschaft mit Wohltaten wieder an sich zu binden. Eine Rücknahme der Steuergeschenke an die Unternehmer und die Reichen, das prominente eine oder halbe Prozent der Bevölkerung, steht nicht zur Debatte.

"Die Sozialdemokratie lebt - ihr fehlt nur die Partei" leitartikelte "Der Spiegel" (16/2016). Viele Menschen geben den Parteien und ihren Politikern die Schuld an ihren (schlechten) Lebensumständen. Die Politiker gelten als abgehoben, die Parteien als verkrustet, nur auf den eigenen Vorteil bedacht und ohne Empfinden für die Nöte der "einfachen Menschen". Daraus folgt: Wenn diese nur volksnäher wären, wenn sie auf die Leute wirklich hören würden und sich für sie einsetzten, dann würde es wieder besser werden. Genau das versprechen die Rechten und die AfD - Gerechtigkeit für die Zu-kurz-Gekommenen, eine Programmatik, die in der ferneren Vergangenheit stets mit der Sozialdemokratie verbunden war. Aber es gehört tatsächlich auch zur SPD, dass sie an der Regierung stets die Politik der herrschenden Klassen betrieb und damit große Teile ihrer Anhängerschaft vor den Kopf stieß.

Die AfD ist spürbar noch in Gründung. Das wird sichtbar an den Positionskämpfen innerhalb der Partei, an programmatischen Kursänderungen. Zuerst verließ der Frontmann des wirtschaftsliberalen Flügels, Bernd Lucke, die Partei, dann gibt es Streit, wie ausländerfeindlich bzw. rassistisch sich die Partei in der Öffentlichkeit positionieren sollte, zuletzt am Beispiel des Parteivizevorsitzenden Alexander Gauland und seiner Bemerkung über den Fußballer Boateng. In gleicher Richtung die programmatische Abwehr von Islam und Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten (Drittstaaten). Die Abkehr vom Mindestlohn dagegen fand auf dem Parteitag Ende April/Anfang Mai keine Mehrheit; zur Steuer- und Wirtschaftspolitik gab es nur vage Äußerungen; die GEZ-Gebühren sollen abgeschafft werden, ebenso die Klimaschutzziele. Dafür soll der Atomausstieg rückgängig gemacht werden. Austritt aus dem Euro und Nein zur EU, Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht für Männer, Einführung von Volksentscheiden nach Schweizer Vorbild runden den Forderungskatalog ab. Das Sammelsurium spiegelt offenkundig die Meinungsvielfalt der Mitgliedschaft wider. Das muss für diese Partei kein Nachteil sein. Das Programm ist nicht entscheidend wichtig für deren Zukunft. Viel wichtiger für sie ist, wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, ob die Wähler in ihr eine wirkliche Alternative zu den etablierten Parteien sehen.

Wenn die Schill-Partei oder Die Republikaner scheiterten, weil sie zu früh gekommen waren, so sieht es derzeit aus, als käme die AfD gerade recht, um den von sozialer Stagnation und Abstieg bedrohten Mittelschichten eine politische Stimme zu geben. Ihr kommt dabei zugute, dass die etablierten Parteien sie an den Rand drängen, dass sie stets Opposition spielen kann, die Mängel und Fehler ihrer politischen Gegner bloßstellen kann, ohne sich selbst beweisen zu müssen. Sie selbst wäre auch nicht imstande, die kapitalistische Rationalisierungsspirale und den Arbeitsplatzabbau infolge des Konkurrenzkampfes zu stoppen. Die AfD steht stattdessen für den Konkurrenzkampf innerhalb der Arbeiterklasse - sie spielt den "deutschen" Lohnabhängigen aus gegen den Ausländer, den Flüchtling. Das ist ein Reaktionsmuster, das der politischen Rechten insgesamt vertraut ist - von den Nationalliberalen bis hin zu den Nazis. Deshalb kann die AfD auch gut als Türöffner für die extreme Rechte ins gutbürgerliche Wohnzimmer der Mittelschichten funktionieren.

Was können wir und die Linke in Deutschland dagegen bewirken? Ein sich moralisch überlegen gebärdender Linkspopulismus mit einer Mischung aus Anti-Rassismus und Anti-Nationalismus ist sicherlich keine gute Option für die Linke, um die unter Druck geratenen Schichten für sich zu gewinnen. Wir wollen statt des Kampfes der Lohnabhängigen gegeneinander den gemeinsamen Kampf gegen das herrschende Industrie- und Finanzkapital. Der Gegner muss klar benannt sein: Die Industrie- und Finanzbourgeoisie, national wie international. Auf dieser Basis sollten gemeinsame Aktionen der Linken stets möglich sein, über alle Differenzen im Einzelnen hinweg.

(3.6.2016)

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 192 - Sommer 2016, Seite 28 bis 30
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2016

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