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ARBEITERSTIMME/321: Jeremy Corbyn zum neuen Parteichef der Labour Party gewählt


Arbeiterstimme Nr. 190 - Winter 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Jeremy Corbyn zum neuen Parteichef der Labour Party gewählt


Der Rücktritt von Ed Miliband als Parteivorsitzender von Labour infolge der desaströsen Wahlniederlage im Mai setzte eine Bewegung in Gang, wie man sie in Großbritannien bisher noch nie gesehen hat. Sie führte zu einem großen Sieg des linken Sozialisten Jeremy Corbyn. Er erhielt 59,5% der Stimmen der 554.000 Abstimmenden und schlug drei Kandidaten aus dem Blair-Lager. Die rechteste von ihnen, Liz Kendall, erhielt nur 4,5% der Stimmen. Alle boten dieselbe Austeritätspolitik an, die zur Wahlniederlage im Mai geführt hat. Die Blair-Anhänger glaubten doch tatsächlich, dass Labour zu weit links aufgestellt war und sich zu sehr auf die Arbeiterklasse konzentriert hätte und nicht auf die "aspirierten Klassen", als ob die Arbeiter keine Aspirationen hätten.

New Labour hatte auf Menschen außerhalb seiner traditionellen Basis abgezielt. Sie hatte Werte und Attitüden der Mittelklasse angenommen und Individualismus höher gehalten als kollektive Lösungen. Sie übernahm eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Blair hatte, mit seinem Charisma und seiner öligen Art, in der Öffentlichkeit aufzutreten, breite Zustimmung bis zum Irakkrieg. Gordon Brown ersetzte ihn; aber ihm fehlte Blairs Talent für die Medien. Er sah sich bald mit den Auswirkungen der Finanzkrise und der Bankenkrise konfrontiert. Labour wurde dafür und für zu hohe Ausgaben verantwortlich gemacht, was sie nicht ernsthaft bestreiten konnten. Als 2010 die Wahlen anstanden, hatte sie keine Identität mehr. Öffentlichkeitsarbeit allein genügte nicht mehr.

Die Unterstützung der von den Tories geführten Koalition und ihre Führungsrolle bei der Kampagne gegen die Unabhängigkeit in Schottland führte zur Zerstörung ihrer traditionellen Anhängerschaft. Sie schwenkte um zu den Nationalisten, nicht aus Nationalismus, sondern weil die SNP eine sozialdemokratische Politik verfolgt und ein Schutzschild gegen die Herrschaft durch London und deren Austeritätspolitik ist. Die traditionelle Unterstützung für Labour ist während der Regierungsjahre von New Labour weggebrochen, da die Menschen aus der Arbeiterklasse sich seit 1997 von ihnen mißachtet fühlen.

Miliband änderte das System, wie der Parteiführer gewählt wird. Der Grund war, dass er von "Progress", den Anhängern von Blair, die durch Unternehmer finanziert werden, unter Druck gesetzt wurde. Die hatten protestiert, weil ein Funktionär der Gewerkschaft "Unite" als Kandidat in Falkirk aufgestellt worden war. Sie behaupteten, Schottland wende betrügerische Methoden an (eine Untersuchung fand nichts dergleichen). Miliband änderte also das Wahlsystem in "one member, one Vote", [d.h. "ein Mitglied, eine Stimme"]. Seit 1981 hatte ein Wahlgremium aus Gewerkschaften, Parteimitgliedern und den Parlamentsabgeordneten den Vorsitzenden gewählt. Das war das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung um [mehr] innere Demokratie, die auch dazu führte, dass die Abgeordneten sich nun bei jeder Wahl als Kandidaten [parteiintern] zur Auswahl stellen mußten, statt [wie bisher] "einen Job fürs Leben" zu haben, was es unmöglich machte, Karrieristen zu ersetzen. Bis dahin hatten, seit Gründung der Partei, die Parlamentsabgeordneten von Labour den Parteiführer gewählt.

Ebenso wie die Parteimitglieder wählen, so können auch Gewerkschafter und Unterstützer von Labour, wenn sie ein paar Pfund zahlen, das Stimmrecht erhalten. Die Vorstellung, die dahinter steht, ist, dass die Mitglieder dazu tendierten, "extremistisch" zu sein, während die Unterstützer gemäßigter seien. Die Satzung von Labour hat immer versucht, die Parlamentarier bzw. die Regierung vor den Mitgliedern zu schützen. Die Auflösung/Aufsplitterung [Auslieferung ... an] der Partei in ihre Unterstützer sollte das sichern - aber das Gegenteil geschah!

Blair begrüßte Milibands Reform. Er bedauerte, dass er nicht mutig genug gewesen war, es selber zu tun, obwohl er jede innere Demokratie beseitigt hatte und die Macht um sich selbst herum gruppiert hatte. Sein Ziel war immer gewesen, die Labour Party in eine Kopie der Demokraten in den USA zu verwandeln, wo keine fundamentalen Unterschiede zu den Republikanern bestehen und sich Unterstützer nur versammeln, um Kandidaten auszuwählen. Dann haben sie keinen weiteren Einfluß auf die Politik mehr.

Die Abgeordneten von Labour stellen immer noch die Kandidaten für die Führung auf. Corbyn hatte nicht genug Nominierungen, bis einige Rechte ihn unterstützten, um den Anschein einer demokratischen Wahl zu erwecken. (Seit 1945 war die Linke noch nie so schwach im Parlament vertreten. Abgeordnete aus der Arbeiterklasse sind nahezu verschwunden. Sie wurden ersetzt durch Karrieristen aus der Mittelklasse, die noch nicht lange die Universität verlassen haben, etc.)

Zwei der Kandidaten aus dem Blair-Lager waren in der Regierung gewesen. Ich erwartete, dass sie sich nach links bewegen würden, die übliche Bewegung eines Karrieristen, um Unterstützung zu gewinnen. Aber sie präsentierten "more of the same" ["das selbe noch einmal"], was zeigte, wie wenig sie Kontakt mit normalen Menschen hatten. Corbyn reiste im ganzen Land herum. Er sprach auf Versammlungen vor Hunderten und Tausenden. Es mußten zusätzliche Räume beschafft werden und Lautsprecher für die Leute, die nicht mehr in die Hallen hineinkamen. Die drei anderen Kandidaten hatten nur einen Bruchteil der Unterstützung wie Corbyn und erhielten so kaum Beachtung.

John McDonnell, Corbyns Schatten-Finanzminister, hat anscheinend eine Person gebeten, die vorher für ihn gearbeitet hatte, sich um Corbyns Wahlkampf in den Sozialen Medien zu kümmern. Das spielte eine Schlüsselrolle bei seinem Erfolg. Besonders junge Leute kamen in Scharen zusammen, um Corbyn zu hören. Es gefiel ihnen, was er sagte und sie traten der Labour Party als Mitglieder oder Unterstützer bei. Sie sehen ihn als ursprünglich/echt, als einen Mann/Menschen mit Prinzipien/Grundsätzen - seine Gegner erzählten, wie er einer der größten Rebellen im Parlament war, die es jemals gab - nicht wie die Politiker im allgemeinen, die "Lügner", "unglaubwürdig", "nur auf ihren eigenen Nutzen bedacht" sind etc. Viele dieser Jungen hatten nicht gewählt, weil sie keine der beteiligten Parteien leiden konnten. Frühere Mitglieder von Labour, die in der Zeit von Blair ausgetreten waren, traten wieder ein. Es wurden T-Shirts mit dem Slogan "Jazz we can" verkauft. (Die Jungen kürzen die Vornamen ab und fügen oft ein "zz" oder ein "zza" an; so wurde "Jazza" geboren. Der Slogan knüpft natürlich an Obamas "Yes we can" an.)

Es war sehr schnell klar, dass Corbyn gewinnen würde. Die Blair-Anhänger denunzierten all seine Ansichten und gruben all seine Taten in der Vergangenheit aus, die darin bestanden, dass er jede mögliche linke Sache unterstützt hatte/??. Sie forderten sogar, dass die Wahl annulliert werden solle. Blair selbst denunzierte Corbyn bei drei Gelegenheiten. Vor dem dritten Mal enthüllte er, dass seine Freunde ihm geraten hatten, es nicht zu tun, weil das nur noch mehr Leute ermutigen würde, für Corbyn zu stimmen! Ein riesiger Apparat mit hunderten von Computern wurde gesammelt, wo man die Ansichten und Taten jener nachschauen konnte, die Labour beitraten, um Corbyn zu unterstützen. Allen möglichen bekannten linken Persönlichkeiten wurde die Mitgliedschaft bei Labour verweigert, einschließlich des Filmregisseurs Ken Loach, mit der Begründung "sie teilen nicht die Ziele und Werte der Labour-Partei". Als ob irgend jemand nach all den Jahren von New Labour noch wüsste, was "die Ziele und Werte" eigentlich noch sind!

Die Medien waren massiv voreingenommen gegenüber Corbyn. Seit seinem Sieg haben sie eine widerwärtige Kampagne von Charakter-Ermordung fortgesetzt. Führende Blair-Anhänger sprachen davon, sich von Labour zu trennen und sie weigerten sich, in Corbyns Schattenkabinett mitzumachen. Er wurde dafür angegriffen, Frauen zu unterstützen/(protegieren) - die Feministen machten bei diesem Angriff mit - die 16 von 30 Posten erhalten hatten. Das war anscheinend nicht genug.

Seit Corbyns Sieg sind zehntausende der Labour Party beigetreten. Mehr als 2.000 traten nach seiner Rede als Parteiführer bei der Eröffnung der jährlichen Labour-Konferenz bei. Über 100.000 neue Mitglieder und Unterstützer traten ein, um für Corbyn zu stimmen. Eine Bewegung von "Corbynisten" wird organisiert, um weiter für eine alternative Politik zu der der Tory-Regierung zu kämpfen. Einige der kleineren linken Parteien lösen sich auf und treten Labour bei. Grundsätzlich haben wir eine neue Partei, die nicht die gleiche ist wie die, die die Wahlen im Mai verloren hat. Aber Corbyn habe die ganze Macht/das ganze Gewicht der herrschenden Klasse und ihrer Medien gegen sich. Es wird Kämpfe gegen die Regierung geben, aber dieses Mal wird die Labour Party ein Teil davon sein und nicht abseits stehen, wie sie es die letzten 35 Jahre gemacht hat. Es schaut so aus, als würden wir auf "interessante Zeiten" zugehen/kämen ... auf uns zu.

m. j.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 190 - Winter 2015, Seite 15 bis 16
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2016

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