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ARBEITERSTIMME/310: Bremen hat gewählt - zur Hälfte


Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Bremen hat gewählt - zur Hälfte

Eine kritische Nachbetrachtung zur Bürgerschaftswahl am 10. Mai 2015 


Noch bis kurz vor der Wahl prognostizierten Umfrage-Institute für die regierende kleine Koalition aus SPD und Grünen eine sehr sichere Mehrheit von deutlich über 50 Prozent. Diese schrumpfte nun für viele überraschend klar auf unter 50 Prozent angesichts einer Minusrekord-Wahlbeteiligung von gerade mal noch 50,1 Prozent (Bremerhaven 41 %). Es gab leichte Zugewinne für die CDU und mit fast 7 Prozent den sicheren Wiedereinzug der Liberalen nach vierjähriger Erholungspause in die Gesamt-Bürgerschaft.

Als relative "Gewinnerin" mit fast 4 Prozent mehr gegenüber dem knappen Ergebnis von 2011 darf sich die Partei Die Linke betrachten. Die derzeit von Spaltung durch die internen Kämpfe zwischen rechtsnationalem (Petry/Gauland) und wirtschaftsliberalem (Lucke/Henkel) Flügel bedrohte AfD schaffte es dennoch auch in Bremen mit 5,4 % und 4 Mandaten parlamentarisch hoffähig zu werden, jedoch ohne Fraktionsstatus. Sie dürfte dabei vornehmlich mit den Themen Zuwanderung und innere Sicherheit gepunktet haben. Die erreichte neue Mehrheit nach anfänglicher Wackelpartie für SDP-Grüne beträgt 44 von 83 Sitzen. Mit über 2 Prozent mehr Stimmanteilen konnte die CDU jedoch gegenüber 2011 kein weiteres Mandat erringen.

Trotz der Schlappe sieht sich die Regierungskoalition dennoch bestätigt. Man sei, so der am Wahlabend noch amtierende, am Montag dann überraschend zurückgetretene Bürgermeister Jens Böhrnsen, trotz schmerzender Verluste mit Abstand wieder deutlich stärkste Kraft und fühle sich daher auch zur Regierungsbildung beauftragt. Das ändert jedoch nichts daran, dass diese Koalition besonders von der eigenen WählerInnenschaft ohne Wenn und Aber ob ihres ungenügend erfüllten Auftrags empfindlich abgestraft wurde. Und es ändert auch nichts daran, dass bei so niedrigen Wahlbeteiligungen umgerechnet auf alle Wahlberechtigte (siehe Tabelle) keine demokratischen Mehrheiten mehr erzielt werden. Verfassungsrechtlich zählt zwar nur die Mehrheit, doch faktisch wird nur noch minderheitlich "gegen" bzw. "jenseits" einer Mehrheit regiert, die sich aus verschiedenen Gründen von einer Teilnahme an freien und gleichen Wahlen keinen wirksamen demokratischen Einfluss auf die Politik mehr verspricht. Demokratie wird zu illegitimer Demokratur. Als ernstes Legitimationsproblem wird das freilich außer in Experten-Stellungnahmen von der Politik noch immer nicht eingestanden und zum Thema gemacht, sondern nach wie vor überwiegend ignoriert. Wie lange noch?


 Vorläufiges amtliches Endergebnis vom 13.5.2015 

Parteien
2015:
Anteil in %

Mandate
2011:
Anteil in %

Mandate
SPD
Grüne
CDU
Linke
FDP
AfD
Bürger in Wut
Andere
32,8
15,1
22,4
9,5
6,6
5,5
3,2
8,0
30
14
20
8
6
4
1*
-
38,6
22,5
20,4
5,6
2,4
-
3,7
6,9
36
21
20
6
-
-
1
-

*) Aufgrund der 6,5 % in Bremerhaven

Wahlbeteiligung: 50,1 Prozent

Stimmanteil von Rot-Grün zusammen (Umrechnung auf alle Wahlberechtigte nach infratest dimap): 23,3 Prozent, weniger als Viertel!


Die Spitzenkandidatin der CDU, die nach erfolglosen Zeiten in Bremen mittlerweile in Berlin als Bundestagsabgeordnete tätige Elisabeth Motschmann mit evangelikalem Profil, frohlockte zunächst nach Bekanntgabe der ersten Prognose. Die zweitstärkste Position nach der SPD sei wieder unangefochten zurückgeholt worden. Man wollte zwar 25 + x Prozent erreichen - woraus nichts wurde - habe es aber dennoch erreicht, dass die rot-grüne Vorherrschaft wie es aussähe "geknackt" wurde. Doch sie hätte den Abend nicht vor dem nächsten Tag loben sollen. Recht behielt sie hinsichtlich des Faktums, dass in Bremerhaven, wo gleichzeitig die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung stattfand, für die die 5-Prozentsperrklausel entfällt und nur das einfache Quorum zählt, die Rot-Grüne Mehrheit Verloren ging. Während sich die SPD auf gleichem Niveau hielt, büßten dort die Grünen mit über 11 Prozent Verlust 6 Sitze ein, während gleichzeitig CDU und FDP je 3 Sitze hinzu bekamen. Pannen bei der Auszählung in Form eines Stromausfalls im zentralen Wahlamt und ein neues aufwendiges Wahlrecht (fünf Stimmen für jede Wählerin, jeden Wähler) bewirkten, dass am Abend nach der Wahl auch nach 23 Uhr noch keine endgültig gesicherten Zahlenergebnisse vorlagen und sich die Auszählung über Tage hinzog. Diese konnte man sogar im livestream per Internet mitverfolgen.

Der die Demokratie bedenklich aushöhlende Abwärtstrend bei der Wahlbeteiligung aus den 2014er Landtagswahlen im Osten setzte sich im Westen nach Hamburg auch in Bremen deutlich fort. Sie betrug 2007 noch 57,5 und 2011 55,5 Prozent. Das hatte sich bereits am frühen Wahlnachmittag schon abgezeichnet. Die Abwanderungen ins Lager der Nichtwählenden sind sowohl bei der SPD mit 8.500 als auch der CDU mit immerhin noch 3.500 ein klares Zeichen. Die SPD erzielte im kleinen Stadtstaat ihr bisher schlechtestes Ergebnis seit 1946. An die CDU gab sie 5.500, an die FDP 2.000 an die Linke 1.500 und an die AfD 1.000 Stimmen ab. Dabei genoss ihr Bürgermeister Böhrnsen, dienstältester Landeschef seit 2005, allseits ein relativ großes Ansehen, an ihm kann das Desaster trotz gezogener persönlicher Konsequenz kaum gelegen haben.

Schon anders schlug bei den Grünen die Tatsache dämpfend zu Buche, dass ihre Spitzenkandidatin, Karoline Linnert, Finanzsenatorin, in Zeiten schmaler Kassen mit unpopulären Sparmaßnahmen (Stichwort: Länderfinanzausgleich als Dauerfehde zwischen Bund und Ländern und den Ländern unter sich) auch einen Teil der eigenen besser verdienenden Grünen-Klientel vergraulen musste. Mittlerweile über 20 Milliarden Euro Haushaltsverschuldung (natürlich nicht erst seit dieser Regierung) sind eine Ansage! Wie, womit will man das bis 2020 ausgleichen, wenn's nicht elementarer an den Geldbeutel der Reichen gehen soll? Für die erlittene Schlappe hatten die grünen SpitzenrepräsentantInnen bis hin zu ihrem Generalsekretär in der Bonner Runde einhellig den Verlust des längst schon abgeflauten Rückenwinds aus der Fukushimakatastrophe vom März 2011 ausgemacht. Das, so hieß es immer wieder und auch aus dem Mund der neuerdings mit weiser Staatsdame-Pose auftretenden Bremer Grünen Marieluise Beck, ließ sich nicht halten und war abzusehen. Kommen den Grünen etwa ihre wichtigsten ökologischen Themen abhanden, die sie einst parlamentarisch werden ließen? Kein Berichterstatter, keine Journalistin kam auf die Idee, hier gleich nachzufragen, warum es den Grünen nicht gelungen ist, ein solches Pfund stärker an sich zu binden und zu organisieren? Die Zeiten der Basisorientierung und Basismobilisierung sind eben lange schon passé. Dass das Fukushima-Argument auch eher eine Alibierklärung ist, zeigt der Umstand, dass die Grünen in alle Richtungen Stimmen verloren haben, darunter je 1.500 an SPD, CDU und FDP. 1.000 wanderten zur AfD, 5.000 zur Linken und 7.500 zu den Nichtwählenden. Man ist in der bürgerlichen Mitte angekommen und wird deshalb auch nach allen Seiten gerupft. Analog dazu fragten sich manche enttäuschte Kommentatoren, warum die CDU den (intern für Eingeweihte) absehbaren Aderlass von Rot-Grün nicht deutlicher für sich ausnutzen konnte oder noch schüren wollte. Denn ein "Wahlkampf" hatte bei nahezu völlig abstinenter SPD zwischen den Großen öffentlich so gut wie nicht wahrnehmbar statt gefunden, so mehrheitssicher waren sich selbst genügend die SPD- Hanseaten. Auch der präsidial auftretende Böhrnsen glänzte im Wahlkampf eher durch Abwesenheit.

Geradezu euphorisch und kämpferisch mit geballten Fäusten gebärdete sich die parteilose liberale Spitzendkandidatin und dynamische Jungunternehmerin, Lencke Steiner. Auf einer Sympathiewelle jungliberaler Hochrufe über den mehr als 4 prozentigen Zugewinn surfend, darunter 2.500 Rückkehrer-Stimmen von der CDU, erklärte die Bundesvorsitzende Junger Unternehmer wie zuvor schon angekündigt noch am Wahlabend ihren Beitritt zur FDP. Vize FDP-Chef Kubicki war extra angereist, um sich ebenfalls im Sympathielicht mal wieder feiernd bescheinen zu lassen, man ist da ja keineswegs bisher verwöhnt worden und hat Nachholbedarf.

Journalistisch weitgehend auf der Strecke blieben ob des ganzen oberflächlichen Medienbetriebs um Sympathien-Antipathien und hie und da gefährdete Stimmprozente bei den TV-Auftritten der PolitikerInnen die sachlichen Themen. Kaum, dass mal jemand nachhakend auf Konkreteres festgenagelt wurde. Alle durften sie rituell ihre hohlen Erfolgssprüchlein abgeben oder mit Bittermiene Niederlagen wundenleckend eingestehen. Es konnte einem wieder jener fernsehdenkwürdige Satz im Stakkatostil gesprochen von Herbert Wehner im Bonner Interview mit Dieter Lueg einfallen: "Lieber Herr Lüg, ich-weiß-nichts-und-Sie-wissen-nichts.../ /Vielen Dank, Herr Wehner. "

Dabei hätte es Ansätze dazu genug gegeben: Wirtschaftspolitik, leere Kassen für's Soziale, Bildung, Zuwanderung, innere Sicherheit, Kinderarmut, Lehrstellenmangel usw. 33 Prozent der Kinder sind in Bremen von Armut betroffen oder gefährdet, in Bremerhaven sind es sogar bis 40 Prozent. Viele allein erziehende Mütter müssen von Hartz IV-Mindesthilfe leben. Sehr reichen Stadtteilen wie Schwachhausen und Oberneuland mit vielen Villen und grünen Stadtrand-Arealen stehen stark benachteiligte Quartiere wie Blockdiek in der östlichen Trabantenstadt gegenüber, wo die Wahlbeteiligung nur noch 25 Prozent beträgt. Ausgerechnet Frau Motschmann hielt der SPD vor, dass soziale Gerechtigkeit in Bremen nicht stattfände.

Nichts Neues ist bei zwei getrennten Stadtparlamenten Bremen und Bremerhaven die übliche Rechtsverschiebung in der Überseestadt an der Wesermündung. Dort zumindest schafften es die rechtspopulistischen "Bürger in Wut" mit strittigen Lokalthemen wieder die Fünfprozent-Sperre zu überspringen und errangen so einen Sitz im Gesamtparlament. Grundsätzlich betonte Frau Motschmann, man stehe für eine Große Koalition zur Verfügung, aber dazu müsste sich die Politik in wichtigen Punkten im CDU-Sinn ändern. Auch die ihre Oppositionsrolle selbst lobende Spitzenfrau der Linken, Kristina Vogt, signalisierte Bereitschaft zum Koalieren mit SPD und Grünen, aber nicht als Steigbügelhalter. Doch wer will die Linke denn, wenn sie nicht gebraucht wird und es allgemeine Übereinkunft ist, sie aus einer Mitregierung herauszuhalten? Für den liberalen SPD-Hanseaten Böhrnsen, so sein Plazet hierzu, ist wie auch für die Bündnisgrünen Rot-Rot-Grün keine Option. Man wird sehen. Die Pokerrunde ist eröffnet, so oder so. Zunächst wird die SPD im parteiinternen Machtspiel eines KandidatInnen-"Castings" zwischen rechtem und linkem Flügel klären müssen, wer die Nachfolge des zurückgetretenen Böhrnsen antreten soll. Danach und nicht nach dem Willen der Wählenden entscheidet sich die Koalitionsfrage.

E. K., Bremen, 14. Mai 2015

*

Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015, Seite 25 bis 26
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2015

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