Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

ARBEITERSTIMME/279: Arbeitende Klasse, Klassenmachtverhältnisse, Klassenmobilisierung


Arbeiterstimme, Winter 2013, Nr. 182
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Arbeitende Klasse, Klassenmachtverhältnisse, Klassenmobilisierung

von Ekkehard Lieberam



Die Klassenbetrachtung der Gesellschaft hat seit etwa Mitte der neunziger Jahre an Einfluss gewonnen. Das Gerede aus den sechziger und siebziger Jahren von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft ist noch gegenwärtig ("Klassengesellschaft als Phantom" titelte Die Welt vom 21. Februar 2013), aber in der Defensive. In der öffentlichen Debatte, in der Politik, auch unter Soziologen, wird wieder von Klassen und Klassengesellschaft gesprochen, wobei nicht übersehen werden darf: Der Inhalt dieser Begriffe ist nach wie vor sehr umstritten. Der herrschaftskritische Aspekt einer klassenorientierten Sicht auf die Gesellschaft ist sehr unterschiedlich und oft schwach ausgeprägt. Es gibt keine Einigkeit über das "Wie" einer Klassenanalyse.


Im Erfurter Programm der Linken von 2011 wird in Abschnitt V. darauf verwiesen, dass wir mit Sozialabbau und Entdemokratisierung Konflikte erleben, "die ein neues Klassenbewusstsein entstehen lassen können." Klargestellt wird, dass für die Entstehung und Durchsetzung von Klassenmacht "... gewerkschaftliche und politische Organisationen erforderlich (sind), in denen gemeinsame Interessen formuliert und Kämpfe zu ihrer Durchsetzung geführt werden." Die Occupy-Bewegung hat die Losung "Wir sind die 99 Prozent". Sie lässt keinen Zweifel daran: Unsere Interessen müssen gegen das eine Prozent der Superreichen, die über 50 Prozent des Vermögens verfügen und die Macht besitzen, durchgesetzt werden. Das Letztere ist sicherlich noch keine politisch tragfähige Definition der Strukturen unserer heutigen Klassengesellschaft. Aber diese radikale Formulierung der Klassenfrage in diesen Losungen lässt den Marxisten erfreut aufhorchen, weil die Klassenfrage als Kampfparole gegen die Herrschaft des Kapitals gestellt wird.


Klassentheoretische Debatte und soziale Polarisierung

Die erneute Popularität des Klassenbegriffs in der öffentlichen Debatte und im politischen Alltagsdenken hat offensichtlich gesellschaftliche Ursachen, speist sich vor allem aus der unübersehbaren sozialen Polarisierung, wie sie sich in der historisch ganz kurzen Zeit von kaum 20 Jahren vollzogen hat und weiter vollzieht. Die anwachsende soziale Spaltung, eine offenkundige Verschärfung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit hat auch eine ganze Reihe von Marxisten in Deutschland veranlasst, sich seit den neunziger Jahren wieder mit den Themen "Klassen, Klassenanalyse und Klassenkämpfe" zu beschäftigen. Vorher war mehr als zehn Jahre Flaute in der klassentheoretischen Debatte.

In Westdeutschland waren in den siebziger Jahren und Anfang der achtziger Jahre eine ganze Reihe ausgezeichneter Arbeiten zum Klassenthema aus marxistischer Sicht erschienen. Es gab zum einen ein Projekt des Instituts für Marxistische Studien Frankfurt a. M. (IMSF) mit Joseph Schleifstein, Heinz Jung, André Leisewitz und Frank Deppe). Zum anderen gab es das Berliner Projekt Klassenanalyse mit Joachim Bischoff und Sebastian Herkommer. Danach kam wenig.

Eben seit den neunziger Jahren änderte sich das, was folgende Beispiele deutlich machen:

Vertreter beider Projekte der siebziger Jahre (Heinz Jung, Joachim Bischoff, Sebastian Herkommer und Frank Deppe) publizierten wieder zum Thema Klassenanalyse und Klassentheorie.

Karl-Heinz Roth veröffentlichte 1994 die Dokumentation der von ihm ausgelösten Debatte zum Thema "Die Wiederkehr der Proletarität", eine scharfsinnige Analyse mit einer sich alsbald bestätigenden richtigen Prognose der sozialen Entwicklung.

Im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM), herausgegeben von Wolfgang Fritz Haug, Frigga Haug und Peter Jehle, wurden ausgezeichnete Beiträge zu den entsprechenden Stichworten veröffentlicht. Im Jahre 2007 erschien im Band 7/1 eine ausführliche Abhandlung zu unserem heutigen Thema von Michael Vester unter dem Stichwort "Klasse an sich/Klasse für sich".

In der Leibniz-Sozietät diskutierten ehemalige Soziologen und Geschichtswissenschaftler der DDR (Gustav-Wilhelm Bathke, Wolfgang Küttler, Helmut Steiner) mit westdeutschen Linken wie Michael Vester in einer Veranstaltungsreihe der Jahre 2006/2007 das Thema "Gesellschaftsklassen heute". Ich habe an dieser Veranstaltungsreihe teilgenommen.

Nicht zuletzt ist erwähnenswert: Wissenschaftler der Marx Engels Stiftung Wuppertal e. V. (MES), zu denen Werner Seppmann, Robert Steigerwald, Jörg Miehe, Herbert Münchow und auch ich gehörten, begannen im Februar 2003 an dem Projekt Klassenanalyse@BRD zu arbeiten. Im Rahmen dieses Projekts erschienen mehrere Dutzend Artikel und sieben Bücher. Das letzte Buch, Band 5 der Reihe Klassenanalyse@BRD, war die abschließende Publikation dieses Projekts. Es erschien unter dem Titel "Arbeitende Klasse in Deutschland. Macht und Ohnmacht der Lohnarbeiter" im Pahl-Rugenstein-Verlag (Bonn 2011). In diesem Buch haben sechs Autoren des MES-Projekts ihre Positionen dargelegt. Wegen unüberwindlicher Meinungsverschiedenheiten hatte Werner Seppmann sich aus dem Autorenkreis des Bandes 5 zurückgezogen und ein eigenes Buch veröffentlicht: "Die verleugnete Klasse" im Kulturmaschinenverlag. Es ging um Meinungsverschiedenheiten zur Realitätsnähe unserer Klassenanalyse, aber nicht zuletzt auch um Differenzen zum heutigen Thema: hinsichtlich der Klassenstruktur und des Begriffs der Arbeiterklasse bzw. des Subjekts zukünftiger revolutionärer Gesellschaftsveränderung.

Die wohl wichtigste Besonderheit des MES-Projektes (und der aus ihm hervorgegangenen Publikationen) im Unterschied zu den Projekten der siebziger Jahre war das Verständnis von Klassentheorie und Klassenanalyse als Einheit von Strukturtheorie/Strukturanalyse und Handlungstheorie/Handlungsanalyse. Helmut Steiner, er promovierte 1966 zum Thema "Klassenanalyse der Angestellten in Westdeutschland" bei Jürgen Kuczynski, meinte einmal: "Wer diese Dialektik bewältigt, hat den alternativen Nobelpreis verdient." Schon daran, dass auch wir vom Projekt Klassenanalyse@BRD diesen Preis nicht erhalten haben, erkennt Ihr, dass diese Dialektik sehr schwer zu fassen ist.

Die Autoren des Bandes 5 der Reihe Klassenanalyse@BRD gehen mit Karl Marx und Friedrich Engels insbesondere davon aus:

Klassentheorie ist Theorie der entscheidenden geschichtlichen Triebkräfte. Ihr Kern ist Revolutionstheorie (so bereits von französischen Historikern wie Augustin Thierry und Francois Guizot erkannt). "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen", heißt es im Kommunistischen Manifest. (MEW, Band 4, S. 462) Klassen und Klassenstrukturen sind an historische Phasen der gesellschaftlichen Produktion, an bestimmte Gesellschaftsformationen gebunden. Im Kapitalismus entsteht mit der zunächst ökonomisch und dann auch politisch herrschenden Klasse der Bourgeoisie die Arbeiterklasse, eine gesellschaftliche Kraft, deren Interessen danach drängen, gegen die Bourgeoisie zu kämpfen und eine neue Gesellschaft ohne Klassenherrschaft und Klassen zu schaffen. Für eine solche neue Gesellschaft werden im Kapitalismus die materiellen Existenzbedingungen "usgebrütet". (MEW, Band 13, S. 9).

Klassentheorie ist Gesellschaftstheorie und Politiktheorie. Die Klassenstruktur der Gesellschaft folgt, wie bereits Adam Smith schrieb, deren ökonomischer Struktur; nach Karl Marx: dem "unmittelbare(n) Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten" (MEW, Band 25 S. 799) im gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess. Sie ist also keine direkte Frage des Geldbeutels. Die ökonomische Struktur und die Klassenstruktur bestimmen das gegebene "Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis". Dieses Verhältnis ist "das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form". (ebenda)

Klassentheorie ist Entwicklungstheorie. Dies gilt für die kapitalistische Produktionsweise weitaus mehr als für vorangegangene gesellschaftliche Formationen. "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren." (MEW, Band 4, S. 465) Die in Klassen gespaltene bürgerliche Gesellschaft ist "kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und ständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus". (MEW, Band 23, S. 16)

Klassentheorie nach Marx und Engels schließt bestimmte Leitgedanken über die Wege und Stufen politischer Klassenbildung ein. Die Arbeiterklasse ist zunächst, wie Karl Marx im Elend der Philosophie entwickelt, eine objektive Struktur, Klasse an sich. "Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst." (MEW, Band 4, S. 180 f.) Im Kampf findet sie zur "Koalition" (Gewerkschaften, politische Organisation), "vereinigen und entwickeln sich alle Elemente für eine kommende Schlacht." Diese Skizzierung der Wege zur politischen Klassenbildung hat sich als richtig erwiesen.

In der heutigen Debatte unter Linken wird oft gesagt "Es gibt keine Arbeiterklasse mehr. Sie ist verbürgerlicht und nicht mehr aktionsfähig." Da ist was dran. Aber, hier mangelt es an begrifflicher Klarheit. Zu unterscheiden ist eben zwischen der Klasse als objektiv gegebene, sich immer wieder erneuernde und verändernde ökonomische Struktur, als gesellschaftliches Verhältnis bzw. gesellschaftliche soziale Gruppe einerseits und der Klasse als in ihrem Interesse gemeinsam handelnder kollektiver politischer Akteur andererseits. Die Meinung, die Arbeiterklasse verschwinde, existiere nicht mehr oder befinde sich "im Zustand der Auflösung" bezieht sich in der Regel auf den politischen Zustand der Arbeiterklasse, der von einer "Klasse für sich selbst" zweifelsohne weit entfernt ist.

Die heutigen Probleme der politischen Klassenbildung wie auch die Merkmale der strukturellen Veränderungen der Arbeiterklasse werden deutlicher, wenn man sie aus historischer Sicht analysiert und bewertet. Nach etwa 165 Jahren Klassenkämpfen und strukturellen Veränderungen ist Manches klarer geworden. Theorien sind eben reichhaltiger als Begriffe; die geschichtliche gesellschaftliche Praxis wiederum ist vielgestaltiger als die Theorie.


Erfahrungen mit der politischen Klassenbildung

Wir alle kennen die Prognose von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Kommunistischen Manifest: "Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen, Bourgeoisie und Proletariat." (MEW, Band 4, S. 463) Die "mehr und mehr" sich bildenden zwei großen feindlichen Lager waren eher die Ausnahme. Die tatsächliche geschichtliche Entwicklung verlief etwas anders als dies die Erfahrungen mit der geradezu elementaren politischen Klassenbildung in England der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zunächst nahe legten.

Eine bloße Stufenfolge von Eigentumslosigkeit, Verelendung, Empörung, Gegenmachtbildung und politischer Machteroberung gab es nicht. (Vgl. Michael Vester, Klasse an sich/für sich, HKWM, Band 7/1, S. 747) Aber es gab durchaus Zusammenhänge zwischen sozialer und politischer Polarisierung auf der einen Seite und politischem Widerstand und politischer Klassenbildung auf der anderen Seite. Es kam in den einzelnen Staaten (auch international) zu einem Auf und Ab der politischen Klassenbildung. Fortschritte und Rückschritte, große Siege und schwerwiegende Niederlagen folgten einander. Der Klassengegensatz drängte nicht nur zum Klassenkampf. Er verschärfte auch die Konkurrenz der Lohnarbeiter gegeneinander, beförderte individuelle Auswegsuche und politische Apathie.

Die herrschende Klasse selbst nahm systematisch und organisierend Einfluss auf das Denken und Handeln der Arbeiterklasse. Sie bediente sich neben traditioneller Methoden der "harten Hand" zunehmend subtiler sozialpolitischer und ideologischer Mittel und Methoden zur Regulierung der Klassenbeziehungen und zur Absicherung von Besitz und Macht. Sie tat dies gestützt auf ihre außerordentliche "geistige Macht", mit deren Hilfe sie es zu gewährleisten verstand, dass in aller Regel ihre Gedanken die herrschenden Gedanken waren. Mit dem Staat hatte sie alsbald selbst eine politische Form zur Verfügung, mittels derer sie ihre gemeinsamen Interessen direkt politisch geltend machen konnte. Sie setzte den Staat im Klassenkampf von oben ein, um den ohnehin schwierigen Prozess der politischen Konstituierung der Arbeiterklasse zu erschweren oder mittels Terror rückgängig zu machen (so mit der faschistischen Diktatur). Sie organisierte selbst die Massen unter den Losungen des Liberalismus, des Nationalismus und Rassismus und verstand es alsbald erfolgreich, selbst kapitalismuskritische und sozialreformistische Bewegungen und Parteien politisch zu integrieren und als Stützen ihrer Herrschaft zu nutzen. Die deutsche Geschichte ist für all das ein eindrucksvolles Beispiel.

Die Sozialdemokratie im deutschen Kaiserreich entwickelte sich zur stärksten Partei der Arbeiterklasse im internationalen Vergleich. Mit ihrem Erstarken und dem Aufkommen der Gewerkschaften aber bildete sich eine Sozialschicht von bezahlten Funktionsträgern, die eigene Interessen entwickelten, die von denen der Arbeiterklasse verschieden waren. Es kam mit der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD-Reichstagsfraktion zum Verrat vom 4. August 1914. Die Kämpfe in und nach der Novemberrevolution von 1918 führten bis dicht an die Eroberung der politischen Macht heran. Bemerkenswert waren die ersten erfolgreichen Versuche der Bourgeoisie (so mit dem Zentrum), ihrerseits die Massen politisch zu organisieren. Die Arbeiterklasse in der Weimarer Republik war zunächst, wie die Klassenauseinandersetzungen um den Kapp-Putsch 1920 und um die Sozialgesetzgebung 1923 zeigten, in vieler Hinsicht und in großen Teilen "Klasse für sich selbst" mit einem außerordentlich hohem Niveau an Klassenbewusstsein und Klassenhandeln. Sie war über ihre Massenparteien KPD und SPD und weitere Organisationen politisch hoch organisiert, aber gespalten. Sie war kämpferisch, aber infolge taktischer und strategischer Differenzen sowie sektiererischer und opportunistischer Fehler nicht in der Lage, einen erfolgreichen Kampf um Reformen und um die Macht zu führen. Die mit der Krise des Kapitalismus Ende der zwanziger Jahre einhergehende Verelendung politisierte die Massen, aber eben nicht nur im Sinne einer politischen Klassenbildung, sondern auch im Sinne einer mit dem aufkommenden Nazifaschismus entstehenden organisierten reaktionären Massenbasis der herrschenden Klasse auf der Grundlage von Chauvinismus, Militarismus, Rassismus und sozialer Demagogie. Die Klassenkämpfe der Weimarer Republik endeten so, bedingt durch die Spaltung der Arbeiterklasse und die gegebenen Klassenmachtverhältnisse, mit der Errichtung einer faschistischen Terrorherrschaft, der Zerschlagung der Arbeiterbewegung, der revolutionären wie der reformistischen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwei sehr unterschiedliche Entwicklungslinien in Deutschland. Im Osten konnte die in einer politischen Partei vereinigte Arbeiterklasse (SED 1946: 1,8 Millionen Mitglieder), gestützt auf die sowjetische Besatzungsmacht, die politische Macht ausüben. Für 40 Jahre wurde unter sehr schwierigen objektiven und subjektiven Bedingungen im Rahmen der "sozialistischen Staatengemeinschaft" eine neue Gesellschaft gestaltet. Dabei gab es bis in die siebziger Jahre hinein eine Aufstiegsphase und danach eine Stagnations- und Abstiegsphase. Sozialismus, so wurde deutlich, ist möglich. Aber in seiner gegebenen stark bürokratisch administrativen Form und angesichts der ökonomischen Stärke des Kapitalismus war er nicht wettbewerbsfähig. Bedeutsam sind besonders die wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Erfahrungen aus dieser Zeit für zukünftige Sozialismusversuche. Im Westen verfolgte die herrschenden Klasse auf der Grundlage eines zunächst prosperierenden Kapitalismus (Reallohnerhöhungen für die Lohnarbeiter von 1950 bis 1973 um etwa 300 Prozent) erfolgreich eine Politik des sozialstaatlichen Klassenkompromisses, die mit Antikommunismus und sozialpartnerschaftlichen Verheißungen, mit "Gegenmaßnahmen" und "Anpassungsmaßnahmen", "dem Klassenkonflikt seine 'revolutionäre Schärfe' nehmen soll(t)en". (Frank Deppe, Es ist eine Geschichte von Klassenkämpfen, Vortrag am 11. Januar 2010, S. 4).

Die politische Klassenbildung war seit Anfang der fünfziger Jahre unverkennbar rückläufig, bis hin zu Erscheinungen einer "Ohnmacht der Arbeiterklasse", von der Wolfgang Abendroth schon in den siebziger Jahren sprach. Im Zuge des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik 1990/1991 sorgten die Herrschenden der Bundesrepublik dafür, dass die Arbeiterklasse der DDR strukturell regelrecht entsorgt wurde (fast alle 145 Großbetriebe verschwanden). Die zunächst noch bestehende "DDR-Subkultur" in Gestalt von politischen Organisationen, gesellschaftlichen Wertevorstellungen und politischen Einstellungen verliert nach mehr als 20 Jahren sukzessive an politischer Bedeutung.

Die Fristen des Kampfes um eine neue Gesellschaft erwiesen sich als weitaus länger als erwartet. Zu diskutieren ist, in welcher geschichtlichen Situation dieses Kampfes wir uns heute befinden. Neue politische Herausforderungen für die Lohnarbeiter in ganz Deutschland ergeben sich aus der seit Anfang der achtziger Jahre anhaltenden neoliberalen Kapitaloffensive gegen Arbeiterrechte und soziale Leistungen und mit der 2008 begonnenen neuen tiefen Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise des Kapitalismus.


Strukturelle Veränderungen der Klassengesellschaft

Die Klassenstrukturen, darauf habe ich bereits verwiesen, verändern sich unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise mit der für diese Produktionsweise typischen, ununterbrochenen Revolutionierung der Produktivkräfte fortwährend. Sie sind auch nicht annähernd mit der in der bürgerlichen Soziologie und Propaganda dominierenden "Schichtentheorie" zu erfassen, nach der entsprechend dem Einkommen zwischen einer Unterschicht (zumeist 60 Prozent des Durchschnittseinkommens) einer Mittelschicht (zwischen 60 und 170 Prozent, unterteilt nach untere, mittlere und obere Mittelschicht) und einer Oberschicht (über 170 Prozent) unterschieden wird. Erforderlich ist eine Analyse der sich wandelnden ökonomischen Struktur der Gesellschaft, der sich verändernden Arbeitsteilung und Arbeitswelt, der Veränderungen in den Eigentumsverhältnisse, den Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen, auch der sehr differenzierten Reallohnentwicklung der Lohnarbeiter und nicht zuletzt eine Analyse der herrschenden Klasse, des Klassenkampfes von oben.

Die Untersuchung der sozialökonomischen Veränderungen muss die historische Situation vor Augen haben, in der Karl Marx und Friedrich Engels ihre Klassenstrukturanalyse vornahmen. Das war die Zeit etwa 80 Jahre nach Beginn der Ersten Industriellen Revolution in England (massenhafte Ersetzung von Handarbeit durch Maschinenaggregate) und zwanzig Jahre nach deren relativem Abschluss (etwa um 1830), als sich in England bereits die Fabrik- bzw. Industriearbeiterklasse entwickelt hatte. In England waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 35 Prozent der Beschäftigten Industriearbeiter. In Preußen, in der sich die die Erste Industrielle Revolution rund 40 Jahre später durchsetzte, waren es etwa fünf Prozent.

Die Klassenanalyse von Karl Marx und Friedrich Engels (Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1845) bezog sich zunächst hauptsächlich auf die Klassenlage der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Produktion, auf "die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt." (MEW, Band 4, S. 468) Diese Industriearbeiterklasse, also die Mehrwert produzierende Klasse, werde, so ihre Prognose, die neue Gesellschaft schaffen. Sie stand im Zentrum ihrer Klassentheorie, gerade auch ihrer Revolutionstheorie. In den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bezog Karl Marx die Arbeiter in der Zirkulation ("die Zirkulationsagenten": kommerzielle Lohnarbeiter, Transportarbeiter, Buchhalter, vgl. Das Kapital, Zweiter Band, Kapitel 6) in seine Untersuchungen ein, wobei er auch von einer "privaten Dienstleistungsklasse" sprach: den Dienstboten des Adels und der "Mittelklasse" (Synonym für Bourgeoisie).

Im 52. Kapitel des Kapital, Dritter Band, das leider nach eineinhalb Seiten abbricht, definiert Karl Marx 1864/1865 die den "Eigentümern von Kapital" gegenüberstehende Klasse bereits übergreifender. Er zählt sie zu den "drei große(n) gesellschaftliche(n) Gruppen" (hinzu kamen damals noch die "Grundbesitzer") und spricht von der Klasse "der Lohnarbeiter" bzw. der Klasse der "Eigentümer von bloßer Arbeitskraft", die "von der Verwertung ihrer Arbeitskraft ... leben." (MEW, Band 25, S. 892 f.).


Welche wichtigen strukturellen Veränderungen sind seitdem erfolgt?

Die gesamte Klassenstruktur der Gesellschaft hat sich gründlich verändert. Nach wie vor gibt es die beiden Grundklassen: die Eigentümer von Kapital und die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft. Aber beide haben sich erheblich gewandelt. Die Eigentümer von Kapital bzw. die Bourgeoisie ist heute eine in Unternehmerverbänden hoch organisierte, vom Finanzkapital dominierte hierarchisch gegliederte Klasse (etwa zwei Prozent der Erwerbspersonen), zu der auch hunderttausende Spitzenmanager in der Wirtschaft gehören. Das Kleinbürgertum, zu dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 35 Prozent der Beschäftigten gehörten, umfasst als gewerbliche Mittelklasse heute noch etwa sieben bis acht Prozent. Die Klasse der werktätigen Bauernschaft, als Teil davon, ist nahezu verschwunden. Zu einer beachtlichen Größe hat sich die lohnabhängige Mittelklasse des mittleren und oberen Leitungspersonals in Wirtschaft und Staat entwickelt. Bereits Karl Marx sprach im Kapital vor 150 Jahren von der Bildung einer "zahlreichen Klasse industrieller und kommerzieller Dirigenten" (MEW, Band 25, S. 402) Er kennzeichnete damit eine in sich differenzierte gesellschaftliche Gruppe (heute etwa 25 Prozent der Lohnarbeiter), die im Produktions- und Reproduktionsprozess der Gesellschaft eine Zwischenstellung zwischen Lohnarbeiterklasse und Bourgeoisie einnehmen. Die Angehörigen der lohnabhängigen Mittelklasse sind Lohnarbeiter, aber sie übernehmen auch Aufsichts-, Kontroll- und Herrschaftsaufgaben im Interesse des Kapitals. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass die Rolle der wissenschaftlichen Intelligenz in allen Klassen außerordentlich angewachsen ist. Gab es im Jahre 1950 in der Alt-BRD etwa 100.000 Studenten, so waren es im Wintersemester 2011/2012 etwa 2,5 Millionen.


Welche strukturellen Veränderungen gab es in der Lohnarbeiterklasse selbst?

Es bestätigte sich das von Karl Marx formulierte "Entwicklungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise" (MEW, Band 25, S. 892), das darin besteht, "die Produktionsmittel mehr und mehr von der Arbeit zu scheiden und die zersplitterten Produktionsmittel mehr und mehr in große Gruppen zu konzentrieren, also die Arbeit in Lohnarbeit und die Produktionsmittel in Kapital zu verwandeln." Etwa 89 Prozent der Erwerbstätigen sind heute in Deutschland Lohnarbeiter, Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, Lohnabhängige bzw. abhängig Arbeitende, wie es allgemein heißt. Allerdings gehören nicht alle zur Klasse der Lohnarbeiter (was in der DDR herrschende Lehre war). Ein nicht geringer Teil gehört zur "lohnabhängigen Mittelklasse" (s.o.).

Mit der fortschreitenden Arbeitsteilung unter den Bedingungen der anhaltenden Revolutionierung der Produktivkräfte entstanden in der Zirkulationssphäre immer neue private, unternehmensbezogene und öffentliche Dienstleistungsbereiche neben der Produktion, aber auch oft in enger Kooperation mit ihr. Das in dieser Sphäre eingesetzte Kapital ist mittlerweile größer als das im Bereich der Produktion eingesetzte Kapital. In den "Dienstleistungsbereichen" (Handel, Hotelgewerbe, Transport und Verkehr, Bildungswesen, Gesundheitswesen, öffentliche Verwaltung, Werbebranche, Information und Kommunikation, Showgeschäft usw.) waren zunächst Hunderttausende beschäftigt. Heute sind es viele Millionen, z.B. im Handel 6,3 Millionen Lohnarbeiter und im Bereich Kreditgewerbe/Versicherungen 1,1 Millionen.

Die außerordentliche Segmentierung und Differenzierung der Lohnarbeiter im heutigen "postfordistischen Kapitalismus" wird schon an den vielfältigen neuen Begriffen zur Beschreibung der modernen" Arbeitswelt deutlich, die zumeist bereits in die politische Umgangssprache eingegangen sind: Stammarbeiter, Scheinselbständige, Leiharbeiter, Mini-Jobber, Ein-Euro-Jobber, Niedriglöhner, Langzeitarbeitslose, prekär Beschäftigte, in Projektarbeit Beschäftigte usw. Neue Klassenfraktionen sind entstanden. Mario Candeias, Co-Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sieht eine Fragmentierung in ein "ausgesaugtes Prekariat", ein "individualisiertes Kybertariat" und ein "mehr oder minder organisiertes Restproletariat", gespalten entlang ethnischer, nationaler und geschlechtlicher Grenzen. Übergreifende Merkmale der Entwicklung der Lohnarbeiterklasse sind augenscheinlich eine vielgestaltige soziale Differenzierung, eine teilweise Verelendung und eine allgemeine soziale Unsicherheit.

Karl Marx sprach seinerzeit vom "offizielle(n) Pauperismus", von der "Lazarusschicht der Arbeiterklasse" und der "industrielle(n) Reservearmee" (MEW, Band 23, S. 673 f.) Heute ist die Rede von einer "Unterschicht/Unterklasse", den "Prekarisierten" bzw. dem "Prekariat". Dazu gehören unterbezahlte abhängig Beschäftigte ebenso wie arme Arbeitslose in der Größenordnung von mittlerweile deutlich mehr als zehn Millionen "Eigentümer von bloßer Arbeitskraft". Hinzu kommt die sogenannte "Generation Praktikum" oder das "Praktikariat", d.h. eine größere Gruppe von Jugendlichen in prekären Verhältnissen, die keine berufliche und soziale Perspektive sehen. Die Gesetzgebung und Praxis der Leiharbeit, der befristeten Arbeit, der Reallohnsenkungen gerade bei den Niedriglöhnern, der unbezahlten Mehrarbeit und der abnehmenden Tarifbindung der Löhne und ihrer Spreizung verschärfen diese Tendenz. Aber zugleich gibt es größere Gruppen von Lohnarbeitern, die wie die Kernbelegschaften der Großbetriebe oder ein Teil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst relativ gut verdienen. Auch für sie gilt die übergreifende und zunehmende Tendenz "Prekarität ist überall".

Nicht zuletzt veränderte sich die Industriearbeiterklasse selbst und zwar in mehrfacher Hinsicht. Die mikroelektronische Revolution macht immer mehr Handarbeit überflüssig. Immer weniger produzieren immer mehr. Im Jahre 2008 gehörten nach den Berechnungen von Jörg Miehe in den produktiven Sektoren der Volkswirtschaft noch 5,2 Millionen Arbeiter und 1,4 Millionen technische Angestellte zur traditionellen Industriearbeiterklasse. (vgl. Arbeitende Klasse in Deutschland, S. 156) Das waren etwa 16,5 Prozent aller Beschäftigten und rund 28 Prozent aller Lohnarbeiter. Die Zahl der sogenannten Stehkragenproletarier, der Angestellten, überflügelte in der Alt-BRD bereits im Verlaufe der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Zahl der Arbeiter. Ein Teil der Intelligenz (z.B. in den Forschungszentren) stieß zur Industriearbeiterklasse. Die Konzentration der Arbeiter in Großbetrieben mit über 1.000 Beschäftigten ebenso wie die Zahl der Arbeiter in diesen Großbetrieben stieg zunächst an (Alt-BRD: bis Anfang der achtziger Jahre auf mehr als 900 Betriebe, in denen rund 50 Prozent aller in der Industrie Beschäftigten arbeiteten) und ging dann immer weiter zurück (2007 noch 642 Betriebe mit 27 Prozent der Beschäftigten). (vgl. ebenda, S. 55)

All diese strukturellen Veränderungen verlangen heute Antworten auf zwei Fragen: Erstens: Welche Konsequenzen haben diese Veränderungen für die Definition des gesellschaftlichen Subjekts progressiver Gesellschaftsgestaltung in Richtung einer "neuen Gesellschaft" und demzufolge für die Revolutionstheorie? Zweitens: Vermag der im Zusammenhang mit der Ersten Industriellen Revolution entstandene Begriff der Arbeiterklasse als Synonym für die Industriearbeiterklasse diese Veränderungen noch sinnvoll und verständlich zum Ausdruck zu bringen oder verlangt die veränderte Klassenwirklichkeit nach einem anderen Begriff?

Das potentielle revolutionäre gesellschaftliche Subjekt ist nach Marx, Engels und Lenin die Industriearbeiterklasse, insbesondere jener Teil, der in den Großbetrieben konzentriert ist. Karl Marx sprach von der "Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse." (MEW, Band 23, S.790 f.) Diese Industriearbeiterklasse ist kleiner geworden, aber keineswegs verschwunden. Sie ist Kern der Klasse der Lohnarbeiter, weil ihre Ausbeutung unmittelbar erfolgt, weil sie direkt mit dem Kapital konfrontiert ist. Sie steht im Zentrum des ökonomischen Systems und ist damit potentiell auch das Zentrum von gesellschaftsverändernder und gesellschaftsgestaltender Gegenmacht. Das Subjekt progressiver Umgestaltungen insgesamt von seiner Interessenlage her ist die entlang des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit entstandene Lohnarbeiterklasse in ihrer Gesamtheit oder, wie es Jürgen Kuczynski am Ende seines Lebens formulierte, "das ausgebeutete Volk im Bündnis mit der linken und humanistischen Intelligenz". (Was wird aus unserer Welt?, Berlin 1997, S. 58) Wie aus dieser Möglichkeit, unter den Bedingungen der gegebenen außerordentlichen strukturellen Fragmentierung der Lohnarbeiterklasse, eine politisch handlungsfähige Gegenmacht entstehen kann, ist eine andere Frage.

Bekanntlich werden in der linken Debatte, gerade auch in der marxistischen Diskussion um eine aktuelle Klassenanalyse die unterschiedlichsten Begriffe für die Lohnarbeiterklasse verwandt. Es wird (so von der DKP) von der Arbeiterklasse im weiteren Sinne gesprochen. Üblich waren oder sind auch Begriffe wie Arbeitnehmerklasse, abhängig arbeitende Klasse, Lohnabhängigenklasse, arbeitende Klasse und (im Plural) arbeitenden Klassen. Die sachlichen Fragen sind: Welcher Begriff entspricht der heutigen Wirklichkeit? Ist der Begriff der Arbeiterklasse heute für die außerordentlich fragmentierte und sich strukturell und politisch differenzierende Klasse der den Eigentümern von Kapital gegenüberstehenden Klasse der Lohnarbeiter tauglich? Zumindest für nicht wenige Angehörige dieser Klasse ist er nicht überzeugend. Die z.B. auch für Verwaltungsangestellte verständliche und politisch sinnvolle Bezeichnung arbeitende Klasse (oder arbeitende Klassen) ist dies.

Bei der Bestimmung der Klassenstruktur und der Klassenfronten insgesamt (zwei Grundklassen und zwei Mittelklassen: die gewerbliche und die lohnabhängige Mittelklasse) dürfen wir im Übrigen nicht übersehen, dass in einem hohem Maße der Widerspruch zwischen den Interessen des großen Kapitals und den Lebensinteressen der großen Mehrheit des Volkes (gegen die Umweltzerstörung, gegen ein Steuersystem zu Gunsten der Superreichen , gegen immer neue Kriege, gegen wachsende Armut, Überwachung und Verdummung) die heutigen Klassenfronten und Klassenauseinandersetzungen bestimmt.

Illusionen über die gegebenen Klassenmachtverhältnisse. In der linken Debatte (z.T. auch unter antikapitalistischen Linken) dominierte im Bundestagswahljahr 2013 ein grundfalsches Politikverständnis. Das parlamentarische Regierungssystem samt seinen Parteien wird als Zentralachse des politischen Lebens hingestellt und begriffen, als autonome politische Sphäre. Kern der Illusionen ist die Erwartung, eine politische Wende hin zu sozialen und ökologischen Reformen und zur Bändigung des entfesselten Kapitalismus sei im Falle einer Mehrheit für SPD, Grüne und Die Linke nahe. Dann könne der Politikwechsel oder gar die antikapitalistische Transformation beginnen. Wer denn nur "will", kann danach "schnell" in eine andere Politik einsteigen, hieß es im Wahlprogramm Der Linken. Selten in der Geschichte des Kapitalismus hat es Deutschland eine derartige Ignoranz gegenüber den bestehenden Machtverhältnissen gegeben.

Nach der Wahl gibt es im Bundestag nun sogar eine solche "linke Mehrheit" mit immerhin zehn Abgeordneten. Ein wirklich "linkes Lager" aber ist nirgendwo zu erkennen, weder im Bundestag, im Parteiensystem noch in der Gesellschaft. Ein Politikwechsel ist nicht in Sicht. Er scheint lediglich greifbar nahe, wenn man den Aussagen von Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Bundestag, Glauben schenkt. Nur ist die Politik nicht das Feld, wo der Glaube entscheidet, sondern die machtpolitischen Gegebenheiten. In der Politik ging und geht es nun einmal, offen oder verdeckt, um Klassenfronten und nie um den Willen von Parteiführern oder gar um einen herrschaftsfreien Dialog über die weitere Staatspolitik. Entscheidend sind die gegebenen Klassenmachtverhältnisse. Und diese besagen: Das große Kapital sitzt derzeit in der Bundesrepublik politisch fest im Sattel. Es hat sein neoliberales politisches Konzept der Privatisierungen, der "marktkonformen Demokratie" und der Agenda 2010 im Rahmen seiner Offensive gegen die arbeitende Klasse in Staatspolitik und Recht umsetzen können. Der gesellschaftliche Widerstand dagegen war und ist gering. Die große Mehrheit der Menschen erklärt sich bei Umfragen mit den politischen Verhältnissen einverstanden.

Ohne eine grundlegende Veränderung der Klassenmachtverhältnisse, ohne mobilisierte Lohnarbeiterklasse wird es keinen Politikwechsel geben. Eine taugliche Strategie muss sich gegen das "rot-rot-grüne" Illusionstheater wenden und die Erkenntnis einschließen: "Die strategische Kernaufgabe Der Linken besteht darin, zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beizutragen, um eine solidarische Umgestaltung der Gesellschaft und eine linke demokratische, soziale, ökologische Politik durchzusetzen." (Erfurter Programm von 2011, Abschnitt V.) Ohne wirkliche Erfolge auf diesem Weg ist auch ein "neuer Sozialismus" nicht mehr als eine "interessante Idee" (Heinz Jung) oder ein "realitätsferner Mythos" (Antonio Gramsci). Wenn diese Grunderkenntnis fehlt und damit die zentrale Aufgabe der Schaffung politischer, organisatorischer und geistig kultureller Gegenmacht negiert wird, ist die Politik einer linken Partei nicht nur illusionär und ignorant, sondern bereits auf dem Weg, den Brückenschlag zu den Regierenden vorzubereiten.


Aktualität der Klassenmobilisierung

In der durch eine "Explosion der Ungleichheit" (Hans-Ulrich Wehler) gekennzeichneten, wieder deutlich polarisierten Klassengesellschaft im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts steht die arbeitende Klasse in Deutschland vor einer außerordentlich schwierigen Situation. Sie ist strukturell hochgradig fragmentiert. Politisch tritt sie wenig in Erscheinung. Über einen langen Zeitraum waren Klassenbewusstsein und Klassenhandeln rückläufig. Im Westen hat sie über mehr als zwei Generationen hinweg nur punktuell (in einzelnen großen Streikaktionen und Bewegungen) die politische Bühne betreten. Im Osten dominieren, 25 Jahre nach der tiefen Niederlage von 1989/1990, politische Apathie und Individualisierung. Der neoliberalen Kapitaloffensive der letzten zwei Jahrzehnte hat sie nur hin und wieder Widerstand entgegen gesetzt. Entweder sie betritt wieder vernehmbar die politische Bühne, befreit sich von politischer Apathie und politischen Illusionen und führt entsprechend ihren Interessen den gewerkschaftlichen oder politischen Kampf oder die soziale und politische Verschlechterung ihrer Lage verschärft sich weiter. Auf eine Verstärkung der Kapitaloffensive im Falle eines dramatischen Crashs der kapitalistischen Weltfinanzen und Weltwirtschaft ist sie ebenso wenig vorbereitet wie auf die Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft, für die die materiellen Existenzbedingungen herangereift sind. Die gewerkschaftliche Organisationsmacht der arbeitenden Klasse ist gering und gekennzeichnet durch "strategische Lähmung" (Frank Deppe). Nur etwa 20 Prozent der Lohnarbeiter sind gewerkschaftlich organisiert. Fortschritte in Richtung einer politischen Revitalisierung im Zusammenhang mit den Wahlerfolgen der Partei Die Linke 2009 und deren programmatischer Orientierung auf dem Erfurter Parteitag 2011 haben keine Fortsetzung gefunden. Und noch mehr: Mit dem angestrebten Übergang zur Regierungspartei auch auf Bundesebene wäre die Ausrichtung des parlamentarischen Systems auf die Interessen der herrschenden Klasse wieder komplett. Denn ohne den Preis eines Ja zur "Bündnistreue" und eines Verzichts auf den Kampf gegen die Agenda 2010 wird "Regierungsverantwortung" nicht zu haben sein.

Ansätze für eine neue politische Klassenbildung dürfen bei all dem nicht übersehen werden. Eine solche Klassenbildung vollzieht sich derzeit in bescheidenem Maße vor allem über kleine Gruppen und Fraktionen der Klasse, die als politische Akteure auftreten. Dazu gehören aktive Gewerkschafter, sporadisch auch ein Teil der Prekarisierten, nicht wenige Jugendliche und Angehörige der Intelligenz in den sozialen und politischen Bewegungen. Widerstand gegen die neoliberale Kapitaloffensive gibt es allerdings lediglich als einzelne Lichtpunkte und nicht als eine Lichterkette.

Politisch bedeutsam ist, dass im Ergebnis eines Dialogs von linken politischen und gewerkschaftlichen Aktivisten in den letzten zwei Jahrzehnten über zentrale soziale und politische Konturen eines Klassenprojektes von unten Verständigung erzielt werden konnte. Ein solches Klassenprojekt hat vor allem den Sinn, im gewerkschaftlichen und politischen Kampf die verschiedenen Segmente und Akteure der arbeitenden Klasse zu vereinigen. Es geht um den Kampf für einen Mindestlohn, gegen prekäre Arbeitsverhältnisse, für soziale Gerechtigkeit und gegen die anwachsende soziale Ungleichheit, gegen weitere Privatisierungen und für eine deutliche Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich. In der politischen Auseinandersetzung sind die Eigentumsfrage und die Machtfrage zu stellen. Die Finanzinstitute, der Energiebereich und die Bereiche der Daseinsvorsorge sind zu vergesellschaften. Politikwechsel ist als Frage der Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu begreifen. Unabdingbar ist die Forderung, Auslandseinsätze der Bundeswehr und überhaupt die Militarisierung der Außenpolitik zu beenden.

Überzeugende Antworten auf weitere Fragen im Kampf um politische Klassenbildung, um organisierte politische und geistig-kulturelle Gegenmacht sind in der Diskussion. Dazu gehören: das Problem der Macht der kapitalistischen Meinungsmache und deren Durchbrechung, die Wege zur Erneuerung und Stärkung der Gewerkschaften als Klassenorganisationen der Lohnarbeiter, die Entwicklung eines konkreten Bündniskonzepts von arbeitender Klasse und gewerblicher sowie lohnabhängiger Mittelklasse, die Fragen einer Ausbruchsstrategie aus der kapitalistischen Produktionsweise, einer überzeugenden Konzeption für einen zukünftigen Sozialismus und das Problem des Fehlens eines politischen Zentrums in den sich abzeichnenden Klassenkämpfen. Weit entfernt sind wir augenscheinlich von der Schaffung einer marxistischen Partei der arbeitenden Klasse mit Masseneinfluss, wie sie die Lohnarbeiter in ihren Kämpfen brauchen werden. Eine solche Partei kann nach allen historischen Erfahrungen nur aus den Klassenkämpfen selbst hervorgehen. Wichtig ist zunächst, und da sind wir in den letzten Jahrzehnten deutlich weiter gekommen, die gewachsene Bereitschaft von Marxistinnen und Marxisten, unabhängig davon, in welchen Organisationen sie sich auch engagieren, in den gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen, bei der Entwicklung von Klassenbewusstsein und Klassenhandeln zusammen zu arbeiten.

*

Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 182, Winter 2013, S. 7-14
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
Die Arbeiterstimme erscheint viermal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 3 Euro,
Abonnement und Geschenkabonnement kosten 13 Euro
(einschließlich Versandkosten).
Förderabonnement ab 20 Euro aufwärts.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2014