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ARBEITERSTIMME/242: Der Aufruhr in Großbritannien im Sommer 2011


Arbeiterstimme, Winter 2011/2012, Nr. 174
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Der Aufruhr in Großbritannien im Sommer 2011


Mark Duggan, allem Anschein nach ein Gelegenheitskrimineller, wurde am 4. August 2011 von der Polizei in Tottenham erschossen. Dies war der Auslöser für die Unruhen. Zunächst wurde behauptet, dass der Familienvater Duggan bei einer Auseinandersetzung auf einen Polizisten geschossen und diesen verletzt habe. Es stellte sich später aber heraus, dass er zwar eine Waffe hatte, diese aber in einem Socken eingewickelt war und er sie nicht benutzt hatte. Der verletzte Polizist war von einem seiner Kollegen angeschossen worden.

Die Randalierer in Tottenham beklagten sich über den Rassismus der Polizei, eine Klage, die schon seit Jahrzehnten erhoben wird. Während der nächsten vier Tage fanden in 28 Städten Unruhen statt. Fünf Menschen starben, über 100 verloren ihre Wohnungen, über 38.000 kleine Läden und größere Geschäfte wurden angegriffen oder angezündet. Einige Tage lang war die Polizei nicht in der Lage, dies zu verhindern. Erst als noch mehr Polizisten aus Orten, die nicht betroffen waren, zur Verstärkung geschickt wurden, gewann die Polizei die Kontrolle wieder. Die Regierung war im Urlaub. Als ihre Mitglieder wieder zurück waren, erklärten sie öffentlich, es wäre auf ihr Eingreifen zurückzuführen, dass die Ordnung wieder hergestellt wurde. Das war eine Lüge. Polizeichefs widersprachen dieser Darstellung und es kam deswegen zu Spannungen zwischen ihnen und einigen Ministern.

Einige Tage lang hatte der Staat die Kontrolle über die Straßen verloren und sie den Krawallmachern überlassen. Dies verursachte großen Ärger in Teilen der Öffentlichkeit, die entweder betroffen waren oder sich unsicher fühlten.

Die herrschende Klasse war durch den Aufruhr und den Verlust der Kontrolle über die Straßen ziemlich erschüttert. Als sie wieder die Oberhand gewonnen hatten, begannen sie, die Schuld einer "aufständischen jugendlichen kriminellen Unterklasse" zuzuweisen. Schlechte Eltern, Alleinerziehende, moralische Laxheit, Jugendgangs würden dahinterstecken. Die meisten der Randalierer waren Teenager. Die jüngsten Zahlen behaupten, dass 2/3 der Verhafteten und Angeklagten zwischen 10 und 17 Jahre alt waren. Von diesen hatten ¾ schon eine kriminelle Vergangenheit. Nur eine kleine Minderheit war bei Straßengangs. Sie waren erdrückend arm, arbeitslos und ohne viel Bildung. Aber auch einige Jugendliche, die eine Arbeit haben, machten bei dem Aufruhr und den Plünderungen mit. Die offizielle Anzahl der arbeitslosen Jugendlichen beträgt fast eine Million. Jugendzentren und Programme, die Jugendliche dabei unterstützen eine bessere Ausbildung und einen Arbeitsplatz zu erhalten und ihnen bei sozialen Problemen, wie Drogen, Alkohol, Obdachlosigkeit, Mißbrauch durch gewalttätige Eltern usw. helfen, werden eingestellt oder sind von den Einsparungen der Regierung betroffen. Ebenso wurden die Studiengebühren an den Unis verdreichfacht, wobei die Studentinnen und Studenten aus einer anderen sozialen Schicht stammen. Kritiker der Regierung weisen darauf hin, dass die Zahlen, die angeben, dass die Festgenommenen in ihrer Mehrzahl eine kriminelle Vergangenheit haben, ein falsches Bild ergeben, da die Polizei diejenigen leicht festnehmen konnte, die von Sicherheitskameras aufgenommen worden waren und deren Daten bereits bekannt und im Computer abgespeichert waren. Dieselben Zahlen sagen auch, dass 2/3 der Festgenommenen und vor Gericht Gestellten große Bildungsdefizite hätten und 1/3 im letzten Jahr von der Schule ausgeschlossen worden wäre. Auch waren 42% weiß, 46% schwarz und 7% asiatischen Ursprungs.(1)

Viele der Aufrührer, die interviewt wurden, sprachen von ihrer Verachtung der Banker, deren Missetaten unbestraft blieben, ihrem Hass auf die rassistische, korrupte Polizei (die engen Beziehungen zur Murdoch-Presse) und auf die korrupten Politiker, von denen nur ungefähr ein Dutzend ins Gefängnis mußte für ihre erschwindelten Ausgaben. Sie hatten sich unter den Nagel gerissen, was sie erwischen konnten, warum also sollten das die Jugendlichen nicht auch tun? In manchen Städten wurden die Banken angegriffen als Ausdruck des Protestes.

In manchen Städten hatten Arbeiterviertel unter der spontanen Revolte zu leiden, kleine Läden und Häuser wurden angegriffen oder abgefackelt. Leute, die nicht viel besser dran sind als die Krawallmacher, waren die Opfer. Aber in Manchester z.B. gingen sie in die Innenstadt, um die Läden mit Luxusgütern zu plündern.

Tausende wurden später eingesperrt und schnell verurteilt. Die Gerichte arbeiteten auch die Nacht hindurch und es gab Anweisungen, Exempel zu statuieren. Gerichtsurteile ergingen etwa für den Diebstahl einer Flasche Wasser, einer Packung Kaugummi oder einem Paar Hosen. Es werden Zahlen genannt, dass 42% der Verhafteten zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden; in normalen Zeiten sind es 12%. Dagegen gab es Proteste von Menschenrechtsorganisationen und Anwälten. UNICEF hat die Inhaftierung von Kindern verurteilt. Die Gefängnisse füllen sich, was die Gefahr von Unruhen dort vergrößert. Das Personal in den Gefängnissen ist darüber nicht erbaut. Die strengen Urteile und die Propaganda sind die Rache der Reichen an den Ärmsten der Gesellschaft.

In einigen Gegenden wurden Häuser und kleine Läden von der dortigen Gemeinschaft verteidigt, oft waren sie von verschiedener Religion und ethnischer Herkunft. In Birmingham verteidigten Sikhs z. B. Moslems während des Gebets. In Tottenham hielten mit Messern bewaffnete Türken und Kurden die Aufrührer von ihren Läden fern. In solchen Situationen können leicht rassistische Auseinandersetzungen entstehen und faschistische Gruppen ihren Vorteil daraus ziehen, wenn sie nicht von Antifaschisten vertrieben werden.

Es gab verschiedene Untersuchungen über die Vorfälle, eine davon gab korrupten Politikern die Schuld (Ausgabenskandal von Parlamentsabgeordneten). Die Regierung wies diese Darstellung zurück. Nach den Unruhen nahm die Repression zu. Einige Demonstrationen wurden verboten und die Regierung schlug vor, in Zukunft Wasserwerfer, Plastik- und Gummigeschosse einzusetzen, die in Nordirland und während der Unruhen in den 80er Jahren verwendet worden waren, aber die Polizei lehnte diese Vorstellungen ab. Es ist deutlich, dass die Ursachen in den über 30 Jahren neoliberaler Politik liegen und in einem moralischen Niedergang der Spitze der Gesellschaft, eher als an der Basis. Die Antwort kann nur starker Widerstand gegen eine solche Politik sein.


Was treibt die Koalition an?

Die philosophische, ökonomische und politische Theorie, die von der Koalition hochgehalten wird, ist eine Weiterentwicklung der neoliberalen Agenda von Mrs. Thatcher. Wie ein konservativer Gegner dieser Ideen damals sagte: Diese Ideen sind nicht neu, sondern eine Rückkehr zum Manchester-Liberalismus des 19. Jahrhunderts. New Labour verfeinerte diese Politik und setzte sie fort. Im Mittelpunkt steht das "the free possessing individual"(2), wie es Stuart Hall in seiner Analyse ausdrückt, die im Guardian vom 13.9.2011 veröffentlicht wurde, und der Staat wird als unterdrückend angesehen.

Aus dieser Sicht darf der Staat nicht die Gesellschaft regieren, die Wirtschaft regulieren oder sich in das Profitmachen oder die Schaffung von persönlichem Reichtum einmischen; er darf den Menschen nicht erzählen, wie sie ihre eigenen Angelegenheiten gegenüber dem Privateigentum regeln sollen. Der Markt muss herrschen und auf die Ungleichheit, die von ihm erzeugt wird, darf nicht störend eingewirkt werden. Der Wohlfahrtsstaat, der eingreift um den Reichtum umzuverteilen, der den Unterprivilegierten hilft, der Arbeitsplätze schafft und die Schwachen, Behinderten, unterdrückte Minderheiten usw. schützt, ist falsch. All das zerstört den Charakter, das Pflichtgefühl die Verantwortlichkeit und, das Wichtigste, es verletzt das Recht des Unternehmers, Profit zu machen.

Die Bankenkrise gab der Koalition die Chance, eine Konterrevolution zu realisieren, die bislang für unmöglich gehalten worden war, ein Zurückdrehen der Uhr zu der Situation zwischen den beiden Weltkriegen. Die Finanzierung des Staates muss in den Privatsektor abgewälzt werden. New Labour begann damit, indem sie Slogans wie "Reform" und "Wahlmöglichkeit" verwendeten, z.B. im Schulbereich, bei Krankenhäusern und im Wohnungsbau.

Diejenigen, die auf den Staat und öffentliche Dienstleistungen angewiesen sind, werden leiden. Die Bezahlung, die Arbeitsbedingungen, die Renten usw. der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst werden sich verschlechtern. Eine große Anzahl von Jobs wird verschwinden. Es trifft diejenigen, die von der Hilfe in bestimmten Situationen abhängig sind: taube oder blinde Kinder, solche mit Leseschwierigkeiten, oder pflegebedürftige Menschen. Staatliche Leistungen werden gestrichen und eine Obergrenze wird eingeführt. Die Arbeitslosen werden gezwungen, Arbeit zu finden. Abhängigkeit vom Staat muß abgeschafft werden.

Die Methoden der schrittweisen Privatisierung, die unter Blair angewandt wurden, werden gesteigert werden, sogar obwohl manche sich als unökonomisch herausgestellt haben (Private Finanzierungs-Initiativen oder die Lizenzvergaben an private Eisenbahnen). Mehr Teile aus dem Staatsbereich werden für private Firmen ausgeschrieben werden. Dadurch wird er von innen her ausgehöhlt. Staatsgelder werden mehr und mehr in privaten Händen enden. Sogar Gefängnisse werden zunehmend privatisiert. Der Gesundheitsbereich, das Erziehungswesen und der soziale Wohnungsbau werden noch weiter privatisiert werden und die Mieten für Sozialwohnungen werden auf das Niveau wie im privaten Wohnungsbau ansteigen.

Büchereien, Schwimmbäder, Parks, Jugendklubs, Stadtteilzentren, Sportzentren und Ähnliches werden privat betrieben werden oder sie werden geschlossen. Als die Koalition gebildet wurde, war viel davon die Rede, die USA zu kopieren, wo Wohlfahrtsverbände viele der Aufgaben übernehmen, die in Europa beim Staat liegen. Dadurch sind die staatlichen Vorkehrungen minimal; sie sind nur für die Ärmsten in der Gesellschaft. Aber kurz nachdem die Regierung gebildet worden war, war schon klar, dass eine solche Maßnahme nicht greifen würde, da die Wohlfahrtseinrichtungen ihre Mittel vom Staat erhalten, auf gesamtstaatlicher oder lokaler Ebene, und diese Mittel verschwinden. Spenden aus der Bevölkerung fließen nicht mehr, sie hat nichts mehr zu geben. Auf lange Sicht ist es auch das Ziel, den Geldfluss, der von der Zentralregierung an lokale Behörden gegeben wird, einzustellen. So werden diese ihre Finanzierung aus den örtlich erhobenen Steuern bestreiten müssen.

Bei genauerer Prüfung sieht dieses Projekt mehr nach einer Rückkehr zur Lage im 19. Jahrhundert aus und nicht nur zu der zwischen den zwei Weltkriegen. Es ist klar, dass die anhaltenden Kämpfe gegen dieses Projekt koordiniert und verallgemeinert werden müssen. Dem Streik einer Gewerkschaft im Öffentlichen Dienst und von drei Lehrer-Gewerkschaften, von denen eine noch nie in den über 100 Jahren ihres Bestehens einen nationalen Streik durchgeführt hatte, der am 30. Juni stattfand gegen die Einsparungen und die Angriffe auf das Altersversicherungssystem, muss ein weiterer am 30. November folgen, an dem mehr Gewerkschaften teilnehmen. In der nächsten Zeit sind Auseinandersetzungen mit der Koalition unvermeidbar. Wenn ihre Politik nicht verhindert wird, wird es mit Sicherheit noch mehr Aufruhr geben. Die Geschichte zeigt uns, dass Aufstände die Kampfform derer sind, die spüren, dass sie keine politische Vertretung haben und da die Labour-Partei keine Alternative darstellt und sogar die Streiks am 30. Juni verurteilt hat, ist das hier der Fall.
m.j., 27.10.11


Anmerkungen:

(1) Der Begriff "asiatisch" wird für Leute aus Indien, Pakistan und Bangladesh verwendet, nicht für Menschen aus Asien im allgemeinen.

(2) "the free possessing individual" : "das freie besitzende Individuum"


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 174, Winter 2011/2012, S. 25-27
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2012