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INTERVIEW/031: Aus dem Dunkel der Geschichte - Werkzeug der Solidarität ...    Daniel Cremer im Gespräch (SB)


Emanzipatorische Kunst als konkreter Lebensentwurf

Interview am 18. März 2015 in Hamburg


Der Autor, Regisseur und Performancekünstler Daniel Cremer arbeitet seit 2003 im deutschsprachigen Theater, seit 2006 zumeist als Regisseur selbstgeschriebener und gemeinschaftlich erdachter Stücke, aber auch von Opern und soziokulturellen Projekten, zunächst am Schauspiel Köln, wo er als Regieassistent angestellt war, später unter anderem am Theater Heidelberg, zuletzt am Jungen Schauspielhaus Düsseldorf, HAU Berlin und dem Studio des Maxim-Gorki-Theaters. Als Soloperformer sucht er seit 2010 nach Möglichkeiten, scheinbar alltägliche Situationen und Formen des sozialen Austauschs herauszufordern, zu verfremden und von ihrem belastenden Inhalt zu befreien. [1]

Am Rande der feierlichen Inauguration des Zentralrats der Asozialen in Deutschland (ZAID), die am 18. März auf Kampnagel in Hamburg stattfand, beantwortete Daniel Cremer dem Schattenblick einige Fragen.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Daniel Cremer
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Die Inauguration des Zentralrats der Asozialen in Deutschland erinnert an die finstersten Kapitel deutscher Vergangenheit. In welchem Maße stellt sie sich zugleich den Herausforderungen einer zunehmend repressiven Gegenwart in der Bundesrepublik?

Daniel Cremer (DC): Es geht uns insbesondere darum, eine Form des Zusammenlebens zu finden, die uns stärker macht. Denn das vorherrschende gesellschaftliche Konzept hat dazu geführt, uns sozial und wirtschaftlich zu vereinzeln. An die Stelle der vor die Hunde gegangenen Groß- und später der Kernfamilie, die nicht minder ein zerrüttetes Prinzip darstellt, ist nichts getreten - zum Glück auch keine Volksgemeinschaft. Dadurch sind wir so atomisiert, daß es unfaßbar einfach ist, sich von dem Leid, das in der Familie, im Freundeskreis, im Wohnblock oder auf der Straße passiert, zu distanzieren, weil es immer heißt, man muß sich auf sich selber konzentrieren. Dieses "Du mußt für dich selber sorgen" ist im Moment der herrschende Imperativ, der zudem immer stärker wird.

Ich denke daher auch nicht, daß die Menschen seitdem im psychologischen Sinne viel gelernt hätten, schon deswegen nicht, weil immer noch nicht vorhersehbar ist, wer weswegen verfolgt wird oder verfolgt werden kann. Georg Steigerthal, der damals in Farmsen eine sogenannte Versorgungsanstalt geleitet hat, die eigentlich ein Arbeits-Erziehungsheim war, hat einmal aufgelistet, warum dort Menschen im Grunde gefangengehalten wurden. Dazu gehörten Leute, die leicht reizbar sind, oder Querulanten. Im Prinzip konnte jeder über Denunziation oder schwammige Strafgründe verfolgt werden. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß das auch heute relativ schnell wieder passieren kann.

SB: Früher haben viele Leute gegen ihre Familie, ihre Eltern oder die gesellschaftlichen Strukturen aufbegehrt, weil sie über ihr Leben selbst entscheiden wollten. In der neoliberalen Gesellschaft von heute ist dieser Wille, sich nicht fremdbestimmen zu lassen, in einer bizarren Weise ins Gegenteil verkehrt worden, indem nun jeder für alles, was mit ihm geschieht, sei es nun Obdachlosigkeit oder sozialer Abstieg, selbst verantwortlich ist. Wie siehst du diese neoliberale Schuldzuweisung?

DC: Ich glaube, dagegen kann man nur etwas bilden, was keine Familie ist, aber trotzdem für einen funktioniert. Ich sehe darin auch eine große Chance, wenn man begreift, daß der Grund, weswegen man marginalisiert ist oder aus den Strukturen herausfällt, auch der Anlaß dafür sein kann, neue Verbündete zu finden, die vielleicht gar nichts mit der eigenen Marginalisierung zu tun haben. Hier kommen viele aus sogenannten Queeren-Kontexten. Für mich hat das nichts mit einem sexuell befreiten Lebensgefühl zu tun, was eventuell auch wichtig sein kann, sondern damit, wie man die eigene Marginalität produktiv machen und solidarisch gegen ein nationales, kapitalistisch wirtschaftendes Kollektiv agieren kann, das von einem verlangt, Kinder zu kriegen, arbeiten zu gehen und einen bestimmten Lebenswandel zu führen. Meines Erachtens können die Bündnisse, die dadurch möglich werden, die Vereinzelung aufheben. Es ist zwar schwieriger, so etwas heute zu denken als zur Zeit, als Gramsci seine Texte geschrieben hat oder etwa operaistische Gedanken, daß Arbeiterinnen und Arbeiter sich in der Gewerkschaft finden, noch umgegangen sind. Aber irgendwie so etwas müßten wir trotzdem hinkriegen.

SB: Viele Lesben, Schwule und andere Gruppen hatten ursprünglich wohl auch ein politische Anliegen, sind dann aber in eine Art Lebensstil abgedriftet. Ist für dich die Utopie oder Vision davon, wie man leben möchte, in erster Linie ein politischer Kampf?

DC: Ja, denn das gilt für das Leben ja ohnehin. Wenn man aus politischen Gründen verfolgt und diskriminiert wird, sind das private Leben und alle Entscheidungen, die ich treffe, immer politisch. Jean-Luc Godard hat einmal gesagt: Ich mache keine politischen Filme, sondern ich will politisch Filme machen. Aus dem gleichen Grund würde ich nicht sagen, daß wir hier an einem Projekt gearbeitet haben, auch wenn man das so vermitteln muß, um Fördergelder zu bekommen. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus möchte ich nicht in einer Gesellschaft leben, in der Menschen nur dann Wert haben, wenn sie Kinder kriegen und zur Arbeit gehen, wobei ich beides wunderbar finde. Wenn ich irgendwann jemand finde, mit dem ich gerne Kinder erziehen möchte, würde ich es tun. Ich mache selbst oft Kindertheater und habe einen großen Bezug dazu. Was aber nicht geht, ist dieser Imperativ und die damit verbundene Entsolidarisierung.

In den 50er Jahren haben sich Transen, Stricher, Schwule und so weiter in Kneipen getroffen, die gleichzeitig prekäre Orte waren, weil dort auch Obdachlose und Säufer saßen. Natürlich will man die Marginalität so gestalten, daß sie lebbar ist, aber dieses Raus aus der Marginalität ist ein Riesenproblem, weil man es dann mit verheirateten schwulen Paaren zu tun hat, die alles toll finden, weil sie doppeltes Einkommen und keine Kinder haben. Auf diese Weise reproduziert man jene Gesellschaftssysteme, denen schwule Männer in den 50er Jahren zum Opfer gefallen sind. Auch wenn es nicht unmittelbar vergleichbar ist, muß man trotzdem wissen, daß nach 1945 ungefähr 40.000 Männer nach dem Paragraphen 175 verurteilt wurden. Das entspricht der Zahl von Verurteilten nach diesem Paragraphen vor 1945. Das kommt aus der Verfaßtheit dieser bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Warum sollte man sie nachspielen? Man hätte dann nichts aus der Erfahrung mit der eigenen Marginalität gelernt.

SB: Heute wurde auch über die Lücke von 70 Jahren gesprochen, während der die damalige Verfolgung sogenannter Asozialer tabuisiert war. Könnte man nicht gleichermaßen von einer Kontinuität der Verfolgung unter neuen Formen der Unterdrückung sprechen?

DC: Diese Lücke hat es natürlich in Hinsicht auf eine gesamtstaatliche Anerkennung gegeben, denn egal, was man von der repräsentativen Demokratie bzw. der Staats- und Wirtschaftsform hält, in der wir leben, sehe ich in ihr viel mehr Chancen für ein gemeinschaftliches Leben, wenn man das Grundgesetz praktiziert. Auf dieser Ebene können wir sehr viel gestalten. Wichtig ist, worauf auch Tucké in seiner Rede zu sprechen kam, daß den Leuten gesagt wird: Du hast nichts falsch gemacht. Du bist nicht schuld. Das wurde den sogenannten Asozialen niemals gesagt. Diesen Spruch haben wir sinngemäß zitiert. In Neuengamme gibt es ein Gebäude aus den 80er Jahren, wo die Namen aller Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungsterrors in einer langen Reihe untereinander stehen. Dort hat irgendeine Person, vielleicht ein Angehöriger, an eine Fahne den Satz geschrieben: Es ist nicht deine Schuld. Du konntest nichts dafür. Das hat uns für die Eröffnungsrede inspiriert. 70 Jahre lang hat es keine finanzielle Entschädigung für bestimmte Opfergruppen gegeben, ihnen wurde in dieser Zeitspanne auch nicht vermittelt, daß ihnen ein Anspruch darauf zusteht. Insofern hat es auf jeden Fall eine Lücke gegeben.

Andererseits könnte man auch von einer Kontinuität sprechen. Die Konzentrationslager wurden aufgelöst, was aber nicht aufgelöst wurde, waren die schrecklichen Fürsorgehöllen, Waisenhäuser und Pflegeheime. Die Einrichtung in Farmsen nannte sich Versorgungsheim, jetzt stehen dort eine Flüchtlingsunterkunft und ein Altersheim. Seinerzeit waren dort Leute zur Arbeitserziehung interniert und mußten auch Häftlingskleidung tragen. Zum großen Teil saßen dort junge Frauen. Als sie später eine Entschädigung beantragen wollten, standen sie teilweise denselben Leuten gegenüber, die vor dem Krieg ihre Einweisung in das Versorgungsheim verfügt hatten. Ein anderes Beispiel wäre Käthe Petersen, die hier in Hamburg in großem Stil geehrt wurde, obgleich sie nach dem Krieg noch Tausende von Mündeln hatte.

Die Briten wollten bei ihrer Ankunft in Hamburg zunächst alle Lager und natürlich auch solche seltsamen Zwischenkonstruktionen wie Arbeitshäuser schließen und die Insassen befreien. Ihnen wurde jedoch von allen Verantwortlichen vermittelt: Nein, hier gibt es nichts zu befreien. Das sind gefährliche Leute, Schwachsinnige! Damals wurden 60 Prozent der Menschen, die man zwangssterilisiert hatte, als schwachsinnig bezeichnet. Sieht man sich jedoch die zugrundegelegten Kriterien an, sind diese so vage gehalten, daß praktisch jeder darunterfallen konnte, der einmal ein Widerwort gab. Dennoch wurden die Einwände gegen die Schließung von der britischen Besatzung anerkannt, denn die Leute, die in solchen Einrichtungen tätig waren, wurden gebraucht und deshalb einfach weitergeschleppt. Das ist auch eine Kontinuität, von der man sprechen kann. Natürlich stehen hier zum Glück Konzentrationslager nur noch als Gedenkstätten.

SB: Die verschiedenen Opfergruppen haben, je nachdem, ob sie eine Lobby hatten oder nicht, teilweise Anerkennung gefunden und eine Entschädigung bekommen, soweit man das überhaupt sagen kann. Die ehemaligen Psychiatrie-Insassen haben in den letzten Jahren erreicht, daß ihre Problematik zumindest wieder diskutiert wird. Gibt es insofern Parallelen zu den sogenannten Asozialen, als ihr versucht, sie auf ähnliche Weise wieder zum Gesprächsthema zu machen?

DC: Ja, denn man könnte schon davon sprechen, daß es nicht ökonomisch, aber gesellschaftspolitisch derzeit doch viele Fortschritte gibt. Wir sind in Deutschland den mutigen Leuten unendlichen Dank schuldig, die als Non-citizens, als Geflüchtete, aus ihren Lagern ausgebrochen sind, um auf die Straße zu gehen und auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Sie haben soviel aufgerissen und einen wirklichen Diskurs über Rassismus eröffnet, der nicht sagt, wir reden mal ein bißchen ohne die Betroffenen darüber, sondern mit ihnen spricht. Man sieht an vielen Stellen, wie langsam Dinge in Bewegung versetzt werden, so daß es eventuell auch endlich zu einer Entschädigung oder zumindest einer Entschuldigung gegenüber den schwulen Männern kommt, die vor 20, 30 Jahren nicht denkbar gewesen wäre. Damals hätte man überhaupt nicht darüber nachgedacht, daß das Unrecht war.

Noch spricht man meistens von Behinderten, wenn man Menschen meint, die in ihrem Alltag durch die Struktur der Gesellschaft behindert werden. Anders Begabte treten jedoch inzwischen mehr und mehr selbstbestimmt auf, so daß in Theatern Menschen mit Down-Syndrom selbstverständlich als Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne stehen. Insofern bin ich sehr optimistisch, daß sich vieles verändern wird. Ich bin allerdings dann wiederum skeptisch, wenn ich sehe, daß die Basis, diese tiefsitzende soziale Scham, die in allen Wertvorstellungen steckt, die wir kennen, letztlich unangetastet bleibt. Sie aufzubrechen geht wirklich an die Substanz, weil man dazu gegen das Wirtschaftssystem als solches zu Felde zieht.

SB: Wobei es ja immer mehr Menschen gibt, die von dieser Wirtschaftsordnung gar nicht mehr gebraucht und deswegen ausgegrenzt werden.

DC: Das ist ein solches Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das vermeintlich niemand zu verantworten hat, weil wir das an einen Markt abgegeben haben, der die blutrünstigste Gottheit ist, die bisher auf diesem Planeten angebetet wurde. Man glaubt, ihr müsse alles geopfert werden bis hin zum Leben von Menschen, die einfach nicht gebraucht werden, denen aber moralisch die Verantwortung dafür zugeschoben wird: Du bist selber schuld, daß du dir kein anderes Talent anschaffen kannst, das hier gerade gebraucht wird!

Tucké verfolgt das Projekt schon viel länger, ich bin ja dazugekommen, und das war für mich der ausschlaggebende Punkt: Einerseits dieses nicht geschehene Gedenken nicht nachzuholen, aber endlich anzufangen, und dann eben auch zu sagen, das geht genau an die Basis dessen, was hier falsch läuft. Dabei gab es in der Menschheitsgeschichte durchaus schon andere Modelle. Ich meine nicht den Staatskapitalismus nach sowjetischem Vorbild, sondern Gemeinschaften von Menschen, die anders strukturiert waren, matriarchalische Gesellschaftsordnungen, indigene Gesellschaften, die mit fünf sozialen Geschlechtern operiert haben. Das war alles schon einmal möglich. Meines Erachtens ist der Zentralrat der Asozialen in Deutschland ein Unternehmen, das versucht, die soziale Imagination wieder zu trainieren. Franco Bernardi, der in Italien unterwegs ist, hat dieses Wort geprägt. Wir brauchen einfach wieder eine soziale Imagination, weil wir die nicht mehr haben und uns jede Vorstellung fehlt, wie wir uns noch zueinander verhalten können. Das ist der Grund, warum wir das im Theater machen. Weil wir uns hier dazu treffen, weil hier niemand einen Zweck verfolgen muß, sondern wir in dieser Spielansage etwas ausprobieren, was soziale Imaginationskraft sein kann.

SB: Ist diese Form also zugleich ein Teil des Lebensentwurfs, den ihr anstrebt?

DC: Ja. Tucké sagte in seiner Rede, daß der ZAD ein Raum des Zusammenhalts und der Freundschaft ist. Ich bin nicht in der DDR groß geworden, aber mancher hat vielleicht bei "Freundschaft" ein blödes Gefühl - von wegen Pioniere. Aber das wäre doch eine Basis. Wenn man etwas schreibt oder Theater macht, dann macht man das nicht über, sondern mit - nicht über Menschen, sondern mit Menschen. In diesem Sinne machen wir nicht über die sogenannten Asozialen ein Stück, sondern wir machen etwas miteinander und gehen ein Unternehmen an, das uns wichtig ist. Wir machen keine Kunst über etwas, und darum kann man sagen, das ist ein Lebensentwurf.

SB: Daniel, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

[1] http://www.gorki.de/spielplan/zaid/daniel-cremer/


Bisherige Beiträge zum Zentralrat der Asozialen in Deutschland im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → KUNST → REPORT:

BERICHT/044: Aus dem Dunkel der Geschichte - und viele am Rande ... (SB)
INTERVIEW/030: Aus dem Dunkel der Geschichte - nach vorne voran ...    Tucké Royale im Gespräch (SB)

24. April 2015


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