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INTERVIEW/013: Gefesselte Kunst - Alexander Stillmark zum Theater als soziales Labor (SB)


Spielerisch das Potential humaner Entwicklung erschließen

Interview mit Alexander Stillmark am 9. Februar 2012 in Berlin

Der Regisseur Alexander Stillmark hat nach langjähriger Tätigkeit am Berliner Ensemble und am Deutschen Theater Berlin, meist im Team mit dem Regisseur Klaus Erforth, als Dozent für Schauspielkunst an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" gelehrt. Seine Inszenierungen der Stücke Heiner Müllers und Bertholt Brechts wie auch des klassischen Theaters Schillers, Goethes und Shakespeares haben ihn auch international bekannt gemacht. Seit 20 Jahren ist er freischaffender Regisseur und hat in diesem Rahmen das Projekt "my unknown enemy" entwickelt, das in Deutschland, Bangladesh, dem Sudan und in Zypern zur Aufführung gelangte. Nach dem Workshop The encouragement of the fearless - "Creation under Occupation" auf der Konferenz radius of art beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Alexander Stillmark
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Stillmark, Sie haben in dem Theaterworkshop von zwei Quellen des von Ihnen vertretenen Theaters gesprochen, von Bertolt Brecht und Augusto Boal.

Alexander Stillmark: Das galt speziell für das Projekt des Centre for Theatre in Conflict Zones. Das waren die beiden Inspirationsfelder für den damit verbundenen ästhetischen Anspruch.

SB: Was unterscheidet dieses Theaterprojekt von konventionellen Bühnen?

AS: Der Unterschied ist, daß das Ziel nicht in der Performance für ein Auditorium besteht, sondern in der Arbeit mit dem Text. Mit dem Stück ist ein Selbsterfahrungsprozeß des Schauspielers und der ganzen Gruppe verbunden. Und so waren auch die einzelnen Lehrstücke von Brecht gedacht. Sie waren für die Arbeiter geschrieben, die sich über ihre Lage bewußt werden sollten. Daher wählte er ganz gezielt Themen, die etwas ferner lagen, damit ihre Situation an diesen Beispielen besonders deutlich gemacht werden konnte. Er wollte damit eigentlich eine Diskussion innerhalb der Gruppe anregen, und das auf einem hohen ästhetischen Niveau.

Brecht war damals mit der MASCH (Marxistische Abendschule) und auch mit Walter Benjamin eng liiert. Daraus entwickelte sich eine sehr gute Schule. Augusto Boal, der junge Theaterrevolutionär der 60er Jahre aus Brasilien, greift mit einem sicheren Gespür in die Brecht-Rezeption ein. Das interessiert ihn, das ist sein Handwerkszeug, damit kann er umgehen. Und daraus entwickelt er mit all seiner Kreativität eine Methode der Improvisation, von spielerischen Übungen, die auch Theater-ungeübte Menschen dazu bringt, sich zu öffnen, um in eine Diskussion zu kommen und darüber herauszufinden, was wir an unserer Situation ändern können. Diese Änderung, das eingreifende Denken, ist ein Terminus bei Brecht, der selten so klar wie in diesen Lehrstücken hervortritt. Deswegen haben wir uns vor allem auf Brecht und Boal konzentriert, weil das unabhängig von westlichen Werten funktioniert. Das epische Theater gibt bessere Möglichkeiten als eine dramatische Form, die bestimmte Traditionen bedingt.

SB: Im "Theater der Unterdrückten" scheint es auch um Selbsterfahrung in einem pyschotherapeutischen Sinne zu gehen, wenn man etwa an die Beteiligung traumatisierter Kinder denkt, die eine Menge aufzuarbeiten haben. Andererseits werden dort objektive Gewaltverhältnisse und materielle Widersprüche thematisiert. Wo würden sie diese spezielle Form in der Theaterlandschaft ansiedeln?

AS: Das Theater hat heutzutage viele Gesichter. Wir haben den großen Kommerz, der in der Öffentlichkeit sehr erfolgreich ist und mit traditionellen und auch neuen Formen durchgesetzt wurde. Wir haben die neuen Formen des Theaters, die diesen Rahmen sprengen. Die Gesellschaft hat das Theater als Möglichkeit entdeckt, auch therapeutisch zu arbeiten. Das Spiel des Menschen hat dadurch eine ganz andere Dimension bekommen. Früher war das Spiel in das Kinderzimmer verbannt, heute spielen viel mehr Menschen mit allem. Sie spielen virtuell im Internet, in Spielgruppen. Das Spiel hat heute viel mehr Dimensionen als früher. Insofern ist der spielende Mensch eine Erscheinung, die auf diesem Planeten absolut nötig zum Überleben ist, weil man da Dinge, befreit von allen Zwängen, durchspielen kann. Angesichts der globalen Gefahren besinnt sich ein Teil der Menschheit darauf, mit der Zukunft, Vergangenheit oder der Gegenwart zu spielen. Wir müssen das Spielerische erst einmal sehen. Was läuft da? Wie ist das zu bewältigen? Da bekommt das Spiel eine ganz andere Dimension. Das Kind eignet sich Realität an, indem es frei spielt. Wenn man das Spiel kanalisiert oder einschränkt, nimmt man dem Kind Erfahrungsbereiche.

SB: Erwachsene sehen in dem Spiel der Kinder häufig etwas, das nicht ernstzunehmen sei. Allerdings könnte man aus einer kindlichen Perspektive sagen, daß es für das Kind eigentlich keinen Unterschied zwischen Spaß und Ernst gibt. Für das Kind steht immer alles auf dem Spiel.

AS: Da steht alles auf dem Spiel wie im Theater auch. Der große Regisseur Max Reinhardt, der uns gegenüber im Deutschen Theater gearbeitet hat, sagte einmal: Wir Schauspieler und Theaterleute sind glückliche Menschen, wir haben die Kindheit in unsere Tasche gesteckt.

SB: Im Workshop wurde für die Boal-Schule erklärt, daß es nicht darum gehen soll festzustellen, daß es Theater ist. Könnte das bedeuten, daß eine Bühnenpräsenz auch dann von Authentizität erfüllt wäre, wenn der Charakter der Darbietung gar nicht mehr in Erscheinung tritt?

AS: Nein. Das soll man so verstehen, daß sie keine Bühne mehr brauchen. Sie können ihre theatralen Erkundungen in jeder Ecke eines Zimmers machen. Sie können auf einen Bahnsteig oder auf einen Marktplatz gehen und überall das Theater aufschlagen. Wenn Sie einmal den Blick etwas heben und sehen, wieviel Vorstellungen und Performances es in der Gesellschaft gibt, wer wen vorstellt, wo Theaterspiele sind, dann haben Sie das ganze Spektrum der menschlichen Existenz.

SB: Könnte man das Theater so als Bündelung aller Spielarten der sozialen Maskentänze und Rollenspiele verstehen?

AS: Ja, das Theater ist ein soziales Labor im Brechtschen oder Beuysschen Sinne: Jeder Mensch ist ein Künstler. Das Ganze bildet eine soziale Plastik. Das sind große Entdeckungen, die auf der Entwicklung des Menschen basieren. Wir sind grundsätzlich sehr verschieden und gleichzeitig doch wieder gleich. Unsere Vorfahren hatten ein völlig anderes Sensorium im Kopf. Bei uns sind ganz andere Bereiche angesprochen als bei unseren Großeltern oder zu Goethes Zeit, wo man über einen Brief weinen und weinen und weinen konnte. Sie hatten eine andere Kultur der Emotionen und der Sensibilität. Das ist heute auf andere Gebiete geschoben, aber der Mensch ist in bestimmten Bereichen genauso hilflos wie früher. In der Pubertät oder in der Beziehung zum anderen Geschlecht sind wir in bestimmten Fesseln oder Regeln gehalten und fahren bestimmte genetische Schienen, die jede Generation wiederholen muß.

SB: In dem Workshop ging es um Zugänge zu grundmenschlichen Erfahrungen, die immer mitspielten, auch in den einzelnen Schilderungen. Im Zentrum stand die Erfahrung von Körperlichkeit im Akt des Darstellens. Haben Sie den Eindruck, daß das im bürgerlichen Theater zu kurz kommt?

AS: Das kommt absolut zu kurz, weil die Schauspieler meistens nicht die Zeit haben oder die Fähigkeit, sich vollständig einzubringen, nicht verlangt wird. Sie erfüllen ihre Rolle und eignen sich darin eine bestimmte Routine an. Sie können dieses und jenes darstellen, wenn es von ihnen verlangt wird. Aber das wirkliche Abenteuertheater geht erst jenseits dieser sicheren Grenzen los. Da steht man vielmehr vor dem Unwissen, vor der Angst, vor den Krisen der Figur. Man läßt sie durch sich hindurch: wo sind deine Krisen, wie stellst du das in Beziehung zu dem, was die Rolle dir sagt? Du hast ja Texte zu sprechen, die mit dir übereinstimmen oder nicht. Wie komme ich dahin?

Man steht ja nicht einfach da und sagt etwas auf - das ist eine landläufige Vorstellung von Theater, aber die hat damit gar nichts zu tun. Ich gebe einem Moment Ausdruck, aber wieviel gebe ich da von mir? Ich muß alles von mir hineinlegen, sonst begreife ich das nicht, das heißt, ich muß mich auch in die Krise bringen. Das sind wirklich Kunstprozesse, die hier entstehen. Die Unterteilungen in episches oder dramatisches Theater steht für künstlerische Prozesse, die der Maler vor seinem Bild genauso durchstehen muß, wenn er ehrlich ist, wie der Schreiber, der alleine mit seinem Text ist und sich fragt: Wo führt mich dieser Text hin? Wie der Schauspieler, wie der Musiker, der sich mit der ganzen Kraft seiner künstlerischen Kreativität einen solchen Stoff erobert.

SB: Bei dieser Konferenz ging es auch um Kulturförderung. Haben Sie den Eindruck, daß alternatives oder avantgardistisches Theater in Deutschland ausreichend gefördert wird?

AS: Ich glaube, das ist ein Generationenproblem. Das bürgerliche Theater oder Stadttheater hat sich etabliert, die haben ihre Ringe und ihre Abonnements und werden nur danach beurteilt. Aber es wächst eine Generation heran, die nicht diese Probleme hat und andere Sichtweisen bevorzugt. Die ältere Abonnementen-Generation muß aushalten, daß neben ihr auch noch andere Leute ins Theater gehen und davon Besitz ergreifen wollen. Wenn sie Interesse haben, dann können sie sich diese Stücke ansehen, aber sie müssen nicht laut knallend die Türen hinter sich zufallen lassen, weil sie der Ansicht sind, daß das alles Quatsch sei. Das ist eine andere Generation, die macht anderes Theater. Und ihre Großeltern waren in derselben Situation, bloß damals war das Bürgertum noch so stark, daß es stolz darauf sein konnte, sich ein solches Theater zu leisten.

SB: Welche Zukunft wünschen Sie sich für das Theater?

AS: Daß die Gemeinden begreifen, daß sie diese Diskussionspunkte der Theater beschützen müssen. Deutschland hat eine einzigartige Theaterlandschaft. Wir haben die meisten Theater außer Finnland. Mit etablierten Theatern ist Deutschland gesegnet. Das gibt es nirgendwo auf der Welt, das ist ein Schatz, und den muß man halten. Und die Leute müssen zusammenkommen und im Theater wieder ihren Kommunikationspunkt finden. Wenn sie das nicht brauchen, wird es untergehen, weil kein Bedarf dafür vorhanden ist. Die Menschen, die miteinander oder in der Gemeinde oder in der Stadt so etwas wollen, müssen es verteidigen.

SB: Herr Stillmark, vielen Dank für das Gespräch.

Kammerspiele links, Deutsches Theater Berlin rechts - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ehemalige Wirkungsstätte des Regisseurs vis-à-vis zur Heinrich-Böll-Stiftung Foto: © 2012 by Schattenblick

16.‍ ‍Mai 2012