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BERICHT/058: documenta, Fragen und Kritik - notästhetisch ausgewichen ... (5) (SB)


"Spaziergangswissenschaft" nannte der seit 1973 in Kassel lehrende und 2003 verstorbene Stadtforscher Lucius Burckhardt die von ihm propagierte kritische Aneignung des urbanen Raumes per pedes. Die Stadt zu Fuß zu erschließen, ihre Straßen, Gebäude, Verkehrswege, Parks und Brachen auf ganz körperliche Art und Weise wahrzunehmen, empfahl er auch seinen Studierenden, um das Empfinden der künftigen Stadtplaner und Architekten für eine menschengerechte Stadt zu wecken. In Kassel, das aufgrund der großflächigen Zerstörungen ein ideales Erprobungsfeld für die städtebaulichen Visionen der Nachkriegszeit war, wurde das damalige, unter anderem an der industriellen Produktivitätsentwicklung der BRD orientierte Leitbild der "autogerechten Stadt" in die Tat umgesetzt. Noch heute fühlt man sich in großen Teilen des nordhessischen Verwaltungszentrums an die unwirtliche und uniforme BRD-Urbanität der 1960er und 1970er Jahre erinnert, wurden dem möglichst unbehinderten Fließen des automobilen Individualverkehrs doch die Bedürfnisse aller anderen Menschen im öffentlichen Raum nachgeordnet.

Burckhardt, der diese Entwicklung schon in den 1950er Jahren kritisierte, wird auf der documenta 14 zum einen mit einem kleinen, in der Neuen Galerie gezeigten Ensemble seiner 800 Aquarelle gewürdigt, das Interesse an seiner theoretischen Auseinandersetzung mit "Landschaft und Idylle" wecken könnte. Zum andern standen seine stadtforscherischen Exkursionen Pate bei der Neuerung, auf dieser documenta anstelle konventioneller Führungen "Spaziergänge" anzubieten. Bleibt die Frage, wozu es der rund 160 Mitglieder des sogenannten Chorus bedarf, die diese kostenpflichtigen Gänge nach dem antiken Vorbild der Stimme aus dem Off begleiten, sollen dabei doch die "Besucher_innen ihre eigenen Perspektiven einbringen, hinterfragen und miteinander ins Gespräch kommen, während sie die Ausstellung entdecken und enträtseln", so das offizielle Begleitprogramm. Wäre es nicht ein höchst demokratisches, emanzipatorisches und zudem kommunikatives Ansinnen, lediglich strukturelle Anhaltspunkte für die Bildung derartiger Gruppen zu geben, während es den Kunstinteressierten selbst überlassen bliebe, ihre Spaziergänge über die documenta zu gestalten und zu organisieren?



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Yael Davids "A Reading That Loves - A Physical Act" - Installation und Performance in der Neuen Galerie
Foto: © 2017 by Fred Dott

Gewaltverhältnis Arbeit

Möglicherweise gelangten sie dabei an Grenzen, deren Überwindung nicht stellvertretend durch Kunstexperten vollzogen werden müßte, sondern die sie selbst mit der Frage konfrontierten, worum es bei der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Werken bildender, performativer und audiovisueller Künste überhaupt gehen könnte. Vielleicht entdeckten sie auch die existentielle Entschiedenheit jenseits von Konsum und Unterhaltung, die in Angriff zu nehmen sich als fruchtbarer erweisen könnte als die bloße Animation durch ästhetische Reize und provokative Anstöße. Nicht wenige Besucherinnen und Besucher der documenta dürften feststellen, daß der Versuch, den Dingen mit den Mitteln der Kunst auf den Grund zu gehen, anstrengender als erwartet ist und den Charakter von Arbeit annehmen kann. Arbeit allerdings nicht als fremdbestimmter Zwang zum Tausch von Lebenszeit und Lohn, sondern als selbstbestimmter Zugang zu produktiver Erkenntnis.


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Antonio Vega Macotela "The Mill of Blood"
Foto: © 2017 by Liz Eve

Arbeit im ausschließlich fremdbestimmten, ja versklavten Sinn ist das Thema der Installation "The Mill of Blood" des mexikanischen Künstlers Antonio Vega Macotela. Er gelangte in den Besitz einiger historischer Aufzeichnungen, die Anweisungen zur Konstruktion einer Maschine zur Bearbeitung von Silber- und Goldbarren, die den berühmten Silberminen des Berges Cerro Rico in der Nähe der bolivianischen Stadt Potosi entstammten, zwecks Herstellung von Geldmünzen enthielten. Dieser nun in überdimensionaler Gestalt in der Karlsaue errichtete Apparat transformiert die mechanische Kraft von Menschen oder Tieren in eine Arbeitsleistung, deren pekuniäres Resultat der Transformation von Blut in Wert geschuldet ist. Überall dort, wo Menschen in Lohnarbeit ihnen nicht gehörende und nicht eigentümliche Produkte herstellen, um die unternehmerische Mehrwertproduktion anzukurbeln, wird diese verlustreiche Alchemie des Wertes praktiziert. Mit dem Titel "Blutmühle" gelangt man auf kurzem Weg zu einer wesentlichen Quelle jener Bedeutung von Edelmetallen, der sich nicht aus ihrer handwerklichen oder industriellen Verarbeitung, sondern ihrer Funktion als materielle Träger abstrakten Wertes erschließt.

Der Reichtum des europäischen Kolonialismus, den die indigenen Bevölkerungen Lateinamerikas unter brutalem Verbrauch ihres Lebens den Bergwerken der Anden entrissen, bildet heute noch das Fundament eines Entwicklungsvorsprunges, der in direkter Versklavung der dadurch doppelt betroffenen - verurteilt zu einer Arbeit, die nichts als Armut und Leid hervorbringt - Bevölkerungen Lateinamerikas erzielt wurde. Die wertstiftende Knappheit von Gold und Silber symbolisiert mithin auch die Verfügungsgewalt über Menschen, deren Schmerzen den Wert der metallenen Ressource maßgeblich konstituieren, sind die Verluste des einen doch der Gewinn des anderen. Die "Blutmühle", als hölzernes Artefakt zu ordentlich und perfekt konstruiert, um diesem Titel Reverenz zu erweisen, und in die strenge Geometrie der Herrschaft dieses fürstlichen Parkes eher wie eine Installation der Lustbarkeit denn das Symbol kolonialistischer Ausbeutung eingepaßt, hätte ein großer Wurf werden können, wenn sein Urheber in der Kritik des Geldes und Wertes einige Schritte weiter gegangen wäre.


Gemälde im Navajo-Stil neben lesendem Publikum - Foto: © 2017 by Schattenblick

Yves Laloy "Montez (uma)", 1953 in der Neuen Galerie
Foto: © 2017 by Schattenblick

Hunger als machtstrategisches Mittel

Zwischen den Ausstellungsorten am Friedrichsplatz, der Orangerie in der Karlsaue und der Neuen Galerie verströmt die documenta die Aura eines großbürgerlichem Publikum vorbehaltenen Ausflugszieles und Amüsierbetriebes. Die gastronomische Eventkultur bietet Luxuskonsum konventioneller Art, weder wird der in den Ausstellungen selbst thematisierten sozialen und ökologischen Probleme durch die präsentierten Gaumenfreuden Rechnung getragen, noch sollten einkommensarme Menschen einen Blick auf das ihnen unerschwingliche Angebote werfen. Wie in jedem Kulturtempel zwischen New York, Venedig, London und Paris wird flaniert, posiert und geguckt, als sei die Welt ein Laufsteg und die dargebotene Kunst bunte Ware einer Fassadenschieberei, mit der die Ordnung der Dinge sofort wiederhergestellt wird, sollte sie einmal in Frage gestellt sein.

Der äußere Eindruck ändert jedoch nichts daran, daß insbesondere in der Neuen Galerie Exponate von großem Interesse für die Bearbeitung all derjenigen Fragen gezeigt werden, um die die sozialen Kämpfe der Gegenwart und Zukunft maßgeblich geführt werden. So eine wenig bekannte Arbeit der großen Fotografin der Kommunistischen Internationale, Tina Modotti, die allemal auf der Höhe der Zeit ist. Auf die agrarwissenschaftlichen Forschungen des indischen Freiheitskämpfers Pandurang Khankhoje stieß sie im Mexiko der 1920er Jahre, wo Khankhoje zusammen mit anderen Landsleuten die Unabhängigkeit Indiens vorbereitete und dabei die Ernährungsfrage in den Mittelpunkt seines Wirkens stellte. Indem mit diesem und anderen Exponaten an die zentrale Bedeutung selbstbestimmter gesellschaftlicher Entwicklung erinnert wird, leistet die documenta einen Beitrag zu den avancierten Fragestellungen sozialer Bewegungen, die sich gegen die monopolistische Kontrolle über Nahrungsmittel durch transnationale Agrar- und Saatgutkonzerne richten und die Bedeutung von Ernährungssouveränität auch ins Bewußtsein gut versorgter Metropolengesellschaften rücken. Der mit Fotos Tina Modottis versehene Aufsatz von Savitri Sawhney [1] über das Leben und Wirken Pandurang Khankhojes macht die historische Dimension einer Frage greifbar, die sich heute, da der Klimawandel zusätzlich zu den Klassenantagonismen der indischen Gesellschaft den Hunger im Land derart forciert, daß sich allein 2015 über 12.600 Bauern in Indien aus Verzweiflung das Leben nahmen [2], mit großer Dringlichkeit stellt.


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Cecilia Vicuña "Lenin" "Karl Marx" (1972)
Foto: © 2017 by Mathias Voelzke

Wie wenig die Geißel des Hungers als gottgegebener Apokalyptischer Reiter über die Menschen kommt, sondern als Gewaltmittel der Wahl christlicher Schwestern und Brüdern eingesetzt werden kann, läßt sich anhand von Zeichnungen des Lehrers Zainul Abedin studieren, die in der Neuen Galerie unter dem Titel "Famine Sketches" ausgestellt werden. Sie bezeugen die bengalische Hungersnot, die zwischen 1943 und 1944 Millionen Menschen dahinraffte, nicht aufgrund einer Naturkatastrophe, sondern kriegswirtschaftlicher Entscheidungen der britischen Kolonialverwaltung, namentlich verfügt von Premierminister Winston Churchill. In ihrer prosaischen Eindrücklichkeit vermitteln die Zeichnungen Abedins die Ahnung von einer Monstrosität, die keine Vergangenheit und Zukunft kennt, denn ihre Gegenwart ist so erdrückend, daß kein Platz für Perspektiven bleibt.

"Was wäre, wenn wir das Paradigma der Moderne als einen Hungerindex betrachteten? Hunger und Freiheit sind als Teil einer abstrakten sozialen Konstellation menschlicher Prinzipien miteinander verflochten; Hungersnot und Politik wirken in Geschichten der Unterdrückung auf festerer, gemeinsamer Basis. Hunger ist eine Reduktion des Vernünftigen, eine Methode, aufsässiges Bewusstsein in Gefügigkeit zu verwandeln und den Staat und seine herrschende Klasse in Apathie zu versetzen." [3]

Die Autorin und Kuratorin Natasha Ginwala beleuchtet in ihrem Text "So viele Hunger: Die Hungersnot in Bengalen, 1943-1944" die machtstrategische Dimension des Hungers unter Einbeziehung historischer Katastrophen von der irischen Famine Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur systematischen Aushungerung Leningrads durch Wehrmacht und SS. Fast zweieinhalb Jahre währte das Martyrium der hermetisch eingeschlossenen Stadtbevölkerung. Rund 1,1 Millionen Menschen starben an der deutschen Hungerpolitik, die ein herausragendes Zeugnis genozidaler Biopolitik darstellt.

Im Wahlkampf bekennt Bundeskanzlerin Angela Merkel, von den positiven Auswirkungen der Globalisierung im Sinne einer weltweiten Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen überzeugt zu sein. Wäre es so, dann hätte der Hunger - frei nach der neoliberalen Devise, das ansteigende Wasser hebe alle Boote in die Höhe - längst eliminiert sein müssen. Die Steigerung der Wachstumsraten beruht jedoch auf einer Wettbewerbsfähigkeit, die das Niederringen potentieller wie tatsächlicher Konkurrenten mit dem Ergebnis einer Kapitalkonzentration bezweckt, deren monopolistischer Charakter das Preisdiktat des Weltmarktes in jede noch so entlegene Nische der Welt hineinträgt. Die Menschen werden von Preisen in den Hunger getrieben, die die Kapitalakkumulation in den Metropolen Nordamerikas, Westeuropas und Ostasiens reflektiert und damit jedes Anliegen genügsamer Subsistenz zunichte macht. Erschwerend hinzu kommt die monopolistische Kontrolle über das Saatgut und andere Strategien der Inwertsetzung notwendiger Bedürfnisbefriedigung durch die Patentierung und Lizensierung des Lebens. Was immer wächst und gedeiht, soll tributpflichtig gemacht werden für die Nutznießer von Renten, die die bloße Existenz von Menschen in eine ihnen gegenüber abzuleistende Schuld verwandelt. Die von Krediten befeuerte Wachstumslogik tut ein übriges dazu, daß sogenannte Cash Crops der Ernährung der eigenen Bevölkerung vorenthalten werden, um Schuldendienst bei den internationalen Gläubigern leisten zu können.

Wenn sich Künstler derart elementarer Gewaltverhältnisse annehmen und sie auf unkonventionelle Weise sichtbar machen, dann tun sie es eher selten auf herablassende Weise. Das Wort des Kasseler Kunstwissenschaftlers Harald Kimpel von der "'Mitleidsdocumenta', bei der einem 'die Traumata von Menschen aus aller Welt kommentarlos vor die Füße geworfen werden'", [4] verrät allerdings eine Distanz zu den dort angesprochenen Problemen, die bei der Rezeption mitzudenken wären, anstatt sie als Ruhestörung zu erleben. Was sonst sollten Menschen tun, wenn sie sich nicht damit zufriedengeben wollen, vom Kunstbetrieb auf das Erleben ästhetischer Sensationen konditioniert zu werden, als sich auf diejenigen Dinge zu besinnen, die ihnen selbst an die Nieren gehen?


Schrumpfköpfe und Fotowand - Fotos: © 2017 by Schattenblick Schrumpfköpfe und Fotowand - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Sergio Zevallos "A War Machine"
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Ausgrenzung und Selektion aus Sicht der Ohnmächtigen

Die in der Neuen Galerie an zentralem Ort installierte Arbeit "A War Machine" von Sergio Zevallos ist ein solcher, auf elementarer Ebene mit archaischen Reflexen arbeitender Versuch. Der peruanische Künstler nimmt Maß an den Schädeln von Menschen, die in einer Fotogalerie als "geborene Verbrecher" und "menschenfressende Persönlichkeiten" ausgewiesen werden. Unter ihnen finden sich prominente Manager, Banker, Generäle, Politiker, von denen einige schließlich als Schrumpfköpfe enden. Was auf der Erläuterungstafel ein "Akt der Mimesis" geheißen und der Praxis der "Shuar-Kultur des Amazonas zwischen Ecuador und Peru" zugeschrieben wird, ist im kolonialistischen Blick allemal als "primitiv" zu setzen. Wie primitiv - im verächtlich gemeinten Sinn - kann eine solche Form biologistischer Kategorisierung und Exposition sein, wenn sie an die lange Tradition sozialer Selektion anhand physiognomischer Merkmale anknüpft?

Als der Hirnforscher Franz Joseph Gall mit seiner Schädellehre Anfang des 19. Jahrhunderts anhand der Untersuchung psychisch Kranker den Beweis anzutreten versuchte, daß die Kopfform die Psyche spiegele, tat er im Prinzip nichts anderes als die Verfechter der Theorie, mit Hilfe humangenetischer und neurowissenschaftlicher Vergleichsstudien lasse sich die Veranlagung zu Kriminalität physiologisch nachweisen. Die aus den Gallschen Forschungen hervorgehende, Phrenologie genannte Schädellehre begründete die medizinisch-anthropologische Wissenschaftstradition der Physiognomik, deren zivilisatorische Errungenschaft in der Ausgrenzung und Internierung als abweichend und krank stigmatisierter Menschen bestand. Der als Begründer der Eugenik bekannte britische Erbforscher Francis Galton fand sich mit der von ihm begründeten Biometrik ebenso in dieser Linie rassistischer Wissenschaft ein wie der italienische Arzt Cesare Lombroso, der die Urheberschaft auf den Begriff des "geborenen Verbrechers" reklamieren kann und als Professor für forensische Medizin und Psychiatrie die Kriminalanthropologie begründete. Er schuf die ersten Karteien mit Fotos straffällig gewordener Menschen, die später in Form sogenannter Verbrecheralben gar nicht anders konnten, als den Blick neugieriger Beamter auf vermeintliche Übereinstimmungen bei Gesichtsform und -ausdruck ihrer Zielpersonen zu lenken. Heute feiern biometrische Methoden bei der Etablierung avancierter Formen der Sozialkontrolle Triumphe sicherheitsstaatlicher Ermächtigung, der sich der einzelne Mensch in gefühlter Ohnmacht unterwirft.

So krude und provokant die Arbeit Zevallos' auch sein mag, hat sie, wenn sie etwa von Cornelius Tittel in der Welt der "Geschmacklosigkeit" bezichtigt wird, womöglich doch ins Schwarze getroffen. Wie sehr muß man gegen den goût bourgeoiser Wohlanständigkeit verstoßen, um die Aufmerksamkeit auf das häßliche und verzerrte Gesicht des Elends zu lenken, das zutiefst mit dem verbreiteten Ekel vor allem vermeintlich Degenerierten korrespondiert?


Herabhängende Stoffbahnen, Exponate mit Text, Publikum - Fotos: © 2017 by Schattenblick Herabhängende Stoffbahnen, Exponate mit Text, Publikum - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Pélagie Gbaguidi "The Missing Link. Dicolonisation Education by Mrs Smiling Stone"
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Im Widerspiel zwischen alten Schulbänken und transparenten Stoffbahnen ästhetisch beeindruckend ist die Arbeit der senegalesischen Künstlerin Pélagie Gbaguidi "The Missing Link. Dicolonisation Education by Mrs Smiling Stone", doch auch dieser sinnliche Genuß ist mit einem Stachel versehen. Ihre in einem lichtdurchfluteten Gang der Neuen Galerie präsentierte Installation dreht sich um den Code Noir, ein von Ludwig XIV. 1685 verfügtes Dekret über die Bedingungen der Sklaverei im französischen Kolonialreich. In dem, was Sklaven und ihre Besitzer auch und gerade im persönlichen Kontakt zu tun und zu lassen hatten und zudem gegen die Anwesenheit jüdischer Menschen in französischen Kolonialterritorien gerichtet, den Nürnberger Rassegesetzen der Nazis nicht unähnlich, stellt der Code Noir ein exemplarisches Dokument eurozentrischer Welt- und Menschenaneignung dar.

Auch die französische Revolution emanzipierte Sklaven nicht zu Schwestern und Brüdern. Napoléon Bonaparte schließlich integrierte den Code Noir in jenes Bürgerliche Gesetzbuch, das in der Bundesrepublik als Errungenschaft bei der Etablierung des bürgerlichen Rechtstaates gilt. Die Befreiung der Sklaven von dem Joch, Eigentum anderer Menschen zu sein und zu ihrem Gebrauch zur Verfügung zu stehen zu haben, war denn auch kein erklärtes Ziel der bürgerlichen Aufklärung, sondern eher ein beiläufiges Nebenprodukt des Projektes, feudale Leibeigenschaft in kapitalistische Lohnarbeit zu überführen und den Arbeitssubjekten dabei jeden Gedanken an die soziale Revolution auszutreiben.


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K. G. Subramanyan "Anatomy Lesson 1-5"
Foto: © 2017 by Mathias Völzke

Am 29. Juni 2016 verstarb der indische Künstler Kalpathi Ganpathi Subramanyan im Alter von 92 Jahren. Die Kuratorin Natasha Ginwala hatte ihn in Vorbereitung auf die documenta 14 noch am hauptsächlichen Ort seines Wirkens, der von Rabindranath Tagore gegründeten Visva-Bharati Universität in Santiniketan in Westbengalen, aufgesucht und einen Nachruf auf ihn verfaßt. Neben seinen Terrakottareliefs und Gemälden schuf der Mitstreiter Mahatma Gandhis auch kleine Geschichten, die er selbst illustrierte. Auf die Frage Ginwalas nach der Verträglichkeit dieser Geschichten für junge Menschen antwortete er lächelnd: "Diese Geschichten sind für alle und jeden, denn die Wirklichkeit, die wir erleben, ist noch viel finsterer." [5]


Exponate und Gebäude des Museums - Fotos: © 2017 by Schattenblick Exponate und Gebäude des Museums - Fotos: © 2017 by Schattenblick Exponate und Gebäude des Museums - Fotos: © 2017 by Schattenblick

documenta-Ausstellung im Museum für Sepulkralkultur
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Auf der Höhe der documenta 14

Gegen Abend führt der Weg noch einmal zum Ausgangspunkt des sonntäglichen Spazierganges durch die documenta-Stadt Kassel. Das auf einem Weinberg gelegene Museum Grimmwelt ist ein Tempel deutscher Sprachkultur, enthält es doch eine ständige Ausstellung zu dem von Jacob und Wilhelm Grimm 1838 begonnenen und erst 1961 beendeten, 32 Bände umfassenden Mammutwerk Deutsches Wörterbuch (DWB). Unweit von der Grimmwelt mit dem temporären Ausstellungsraum zur documenta 14 liegt das Museum für Sepulchralkultur, das ebenfalls einige Exponate der documenta mit, dem Ort angemessen, besonderem Bezug zur menschlichen Physis und körperlichen Präsenz zeigt. Doch nicht nur an einem Ort, an dem der Tod in seiner rituellen Gestalt gewürdigt wird, ist das Vergessen mit den Händen zu greifen. In der Flüchtigkeit sinnlicher Impulse und der Vergeblichkeit, den Dingen auf welchen Grund auch immer zu gehen, erweisen sich die Zugänge der Kunst als nicht weniger relevant und beständig denn der Versuch, die Wirklichkeit positivistisch zu bestimmen und erst recht an ihr abzugleiten. Was offen zutage liegt, muß nicht angestarrt, sondern ergriffen werden, um etwas daraus zu machen, bevor es zu spät ist, was als Grundverfaßtheit reflexiver Aneignungsversuche eigentlich immer der Fall ist. Viel Platz also, der Vergeblichkeit Paroli zu bieten und die Eigentumsfrage vielleicht noch grundsätzlicher als in einem kapitalismuskritischen Kontext zu stellen.


Blick auf Kassel - Foto: © 2017 by Schattenblick

Auf den Weinbergterrassen ...
Foto: © 2017 by Schattenblick


Kubus mit Spiegelflächen, Steinarchitektur - Fotos: © 2017 by Schattenblick Kubus mit Spiegelflächen, Steinarchitektur - Fotos: © 2017 by Schattenblick

... das Dach der Grimmwelt ...
Fotos: © 2017 by Schattenblick


Kubus mit Spiegelflächen - Foto: © 2017 by Schattenblick Kubus mit Spiegelflächen - Foto: © 2017 by Schattenblick

... in alle Himmelsrichtungen
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.documenta14.de/de/south/903_revolutionaere_arbeit_pandurang_khankhoje_und_tina_modotti

[2] https://www.theguardian.com/environment/2017/jul/31/suicides-of-nearly-60000-indian-farmers-linked-to-climate-change-study-claims

[3] http://www.documenta14.de/de/south/888_so_viele_hunger_die_hungersnot_in_bengalen_1943_1944

[4] http://www.zeit.de/news/2017-07/30/kunst-halbzeit-der-documenta-erfolgreich-trotz-kritik-30130805

[5] http://www.documenta14.de/de/notes-and-works/1049/zum-gedenken-an-k-g-subramanyan-1924-2016-

15. August 2017


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