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BERICHT/054: documenta, Fragen und Kritik - zwiebetracht ... (1) (SB)



Eine Kunstausstellung nach Leistungsdaten wie der Zahl der Exponate oder der Besucher zu beurteilen ist, zumindest dann, wenn Kunst von Ware unterscheidbar sein soll, ein Widerspruch in sich. Dennoch drängen sich die quantitativen Merkmale der Präsentation und Rezeption dessen, was sich von seiner Originalität und Aussagekraft her der Totalität marktwirtschaftlicher Verwertungslogik widersetzen sollte, dem kunstinteressierten Publikum geradezu auf. Die Bedeutsamkeit des Ereignisses documenta 14 ergibt sich nicht nur aus der zeitlichen Taktfolge von fünf Jahren, in dem dieses Großereignis zeitgenössischer Kunst ausgetragen wird. Schon seine Darstellung als weltweit bedeutendste Ausstellung für Gegenwartskunst wartet mit einem Superlativ auf, der geradezu dazu einlädt, an ihm zu scheitern. In Anbetracht der spektakulären Perspektive, in die jede documenta auf ihre Weise gerückt wird, liegt es nahe zu erwarten, daß die Macherinnen und Macher dieses Events, ob sie es wollen oder nicht, in einen regelrechten Überbietungswettbewerb geraten.

So drängt sich dem Publikum, das häufig nicht zum erstenmal zu diesem Ereignis nach Kassel reist, der Vergleich zu früheren Ausgaben der documenta auf. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, erschließt sich aus der Wahrnehmung des Events als Gesamtkunstwerk, das zu gestalten den jeweiligen Kuratorinnen und Kuratoren obliegt. Einzelne Exponate sind auch in anderen Situationen anzuschauen und zu erleben, so daß die documenta im besten Fall mehr sein müßte als die Summe ihrer Einzelteile. Für die konzeptionelle Rahmung ihrer 14. Ausgabe haben Adam Szymczyk und sein Team denn auch keine Mühe gescheut, den Eindruck erweckt zumindest die umfassende Textproduktion, die vor und während der beiden Ausstellungen in Athen und Kassel entstanden sind. Während die drei bisher zur documenta 14 erschienenen Ausgaben des Magazins South as a State of Mind auch online einsehbar sind, bleiben der documenta 14 Reader und das documenta 14: Daybook dem zahlenden Publikum vorbehalten.

Geht es um mehr als bloßen ästhetischen Erlebnistourismus, was in Anbetracht der vielen inhaltlich anspruchsvollen Exponate kaum zu vermeiden ist, dann kann die ausgiebige Lektüre des Begleitmaterials eigentlich nicht ausbleiben. Dies gilt um so mehr, als die schriftlichen Erläuterungen an den Kunstwerken selbst eher sparsam gehalten und zudem meist in recht kleiner Schrift verfaßt sind. Kurator Szymczyk ist sich dieser Problematik schon aufgrund seines Anspruchs, daß sich "in jedem Kunstwerk eine politische Dimension aktivieren" lasse, bewußt. Wer sich die documenta, wie er empfiehlt, "durch Interpretation und die kritische Betrachtung des Werks" erschließen will, benötigt dafür "eine Menge Informationen zum Kontext - der Kontext ist sehr wichtig, wenn man die Ausstellung orchestriert und eingewobene Bedeutungen oder Linien sichtbar machen will. Das Publikum bewegt sich dann sozusagen in entgegengesetzter Richtung zu Kuratoren und Künstlern: Es wird in der Ausstellung mit der Spitze des Eisbergs konfrontiert und kann dann anfangen, in die Arbeiten hinein zu lesen - was wir bereits im Vorfeld der Ausstellung gemacht haben." [1]

Faßt man einmal die Stellungnahmen Szymczyks aus Interviews und Texten zusammen, wo er einen betont herrschaftsfreien und antirassistischen, basisdemokratischen und inklusiven Ansatz für diese documenta propagiert, dann brechen diese Prinzipien schon an dem begrenzten Zugang zu dem Textmaterial und den nicht geringfügigen Eintrittspreisen. Sich an kostenpflichtigen "Spaziergängen" - "Führungen" implizieren zu viel beanspruchte Deutungshoheit - zu beteiligen, um sich von den dafür zuständigen "Choristen" darüber aufklären zu lassen, daß die eigene Erfahrung im Mittelpunkt steht und man sich den Kunstwerken so vorbehaltlos wie möglich nähern sollte, wirft denn auch die Frage danach auf, warum ein solches Gespräch mehr Aufschluß über das Gesehene und Erlebte geben sollte als der spontane Kontakt mit anderen Menschen, die sich zufällig am gleichen Ort befinden.

So gleicht der Spagat zwischen herrschaftskritischem subjektzentrierten Anspruch und den objektiven Zwängen eines staatskulturellen Legitimationsprojektes einem Hochseilakt, der zu stetem Pendeln in die eine und die andere Richtung nötigt, um den Absturz ins Nichts gesellschaftlich unverträglicher Abweichung zu vermeiden. Akrobatische Kunststücke dieser Art können auch als eigenständige Darbietung bewundert werden, reflektieren sie doch gesellschaftliche Zwangsverhältnisse, die bewußt zu machen, zu kritisieren und zu überwinden ein wesentlicher Zweck fortschrittlicher Kunst sein könnte.


SB-Autor beim Studium der Kassel Info-Karte - Foto: © 2017 by Schattenblick

Toutes directions ... wenn das Rhizom Pate bei der Kartengestaltung steht
Foto: © 2017 by Schattenblick

Kassel als integraler Bestandteil der documenta 14

Schon die Konzeption, die documenta 14 an zwei gleichberechtigten europäischen Standorten auszutragen, sprengt die Grenzen ihrer räumlichen Vermittelbarkeit. Nicht jeder hat die Möglichkeit, zum Zweck ihres Besuches nach Griechenland zu reisen, und so bleibt Athen für viele documenta-Interessierte ein fast fiktiver, lediglich in Bild und Ton repräsentierter Ort. Wie dort, wo die documenta 14 am 16. Juli zuende ging, ist sie in Kassel, wo sie noch bis zum 17. September andauert, ein Ereignis von raumsprengender Dimension. Die Werke von rund 160 Künstlerinnen und Künstlern verteilt auf etwa 35 separate Orte in der Stadt Kassel, dazu Performances, Radioaustrahlungen, Schaufensterauslagen und Straßenbetrieb mit documenta-Bezug - wohl kaum eine der seit 1955 stetig in ihrer Ausdehnung expandierenden Ausstellungen kann für sich in Anspruch nehmen, die 200.000 Einwohner starke nordhessische Verwaltungsstadt derart zur Plattform ihrer Präsentationen gemacht zu haben.

Um sich diesem komplexen Geflecht von Orten und Inszenierungen zu nähern, empfiehlt es sich durchaus, die documenta 14 regelrecht zu erwandern, sind die Distanzen zwischen den einzelnen Ausstellungsstätten doch in überschaubaren Zeiträumen zu überwinden. Da sie sich in mehreren, städtebäulich wie sozialräumlich ganz unterschiedlichen Quartieren befinden, erschließt sich das Ereignis in seiner räumlichen Gestalt auf ganz eigene, in die Normalität des Stadtbetriebs zugleich eingebettete wie aus ihr herausfallende Art. Wer über kein Fahrrad verfügt, kann ansonsten auf eine Tageskarte für 7 Euro zurückgreifen.


Hof des Postgebäudes - Foto: © 2017 by Schattenblick

Kunstferner Hinterhof der Neuen Neuen Galerie in Kassels Nordstadt
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bedient man sich dabei der eigens für die documenta 14 entworfenen, alle Ausstellungsorte enthaltenen Karte, dann beginnt die Bildinterpretation schon mit dem Dechiffrieren ihres stark formalisierten Zeichensystems. Nicht nur den SB-Autor führten die daraus entnommenen Informationen zuerst in die Irre, sondern auch andere documenta-Besucherinnen, denen er auf dem Weg begegnete, hatten den Lutherplatz als Standort der Neuen Neuen Galerie identifiziert. Durch Nachfragen bei Ortsansässigen schließlich erfolgreich an dem ehemaligen Hauptpostamt in der Nordstadt in der Unteren Königsstraße angekommen, erweist sich die "im brutalistischen Stil gebaute Neue Hauptpost", so der documenta 14-Führer Kassel Map Booklet, als Funktionsgebäude im Stil der Sechziger Jahre mit allerdings großzügigen Ausstellungsflächen. Zu verstehen, daß die dort gezeigten Arbeiten analog zur Aufgabe des Postamtes als Distributionsknotenpunkt der Aufgabe der Verbreitung bis hin zur Produktion von Geschichte dienen und so einen Ort der "sich ständig fortentwickelnden und auflösenden Heterotopie" (Kassel Map Booklet) erzeugen, bleibt der bereitwilligen Imagination des Publikums überlassen.

Vielfältig sind die in der Neuen Galerie gezeigten Exponate allemal. Das Werk des katalonischen Netzkünstlers Daniel García Andújar thematisiert "The Disasters of War" anhand einer wiederum sehr heterogenen Mischung aus Illustrationen, die sich mit technischen Voraussetzungen, ideologischen Verbrämungen und persönlichen Zeugnissen des Krieges gestern und heute auseinandersetzen. Rißzeichnungen von US-Kampfbombern wechseln sich mit Dokumenten vollzogener geheimdienstlicher Zensur und fotografischen Erinnerungen von Wehrmachtssoldaten ab, die auf der Akropolis fröhlich unter der dort flatternden Hakenkreuzflagge posierten. Das Titelbild des Strand Magazine vom Juli 1911 entwirft die düstere Vision der künftigen Bombardierung Londons, zu der es am 31. Mai 1914 tatsächlich kam. Im gleichen Bilderrahmen ist ein Plakat der Kasseler Gerhard-Fieseler-Werke zu sehen, in dem der Buchstabe "F" den Himmel wie ein Kampfflugzeug durchkreuzt. Die frappante Ähnlichkeit dieses zur Kriegswaffe stilisierten Schriftzeichens mit dem US-amerikanischen Tarnkappenbomber F-117 fällt sofort ins Auge. Weiß man zudem, daß die sogenannte Vergeltungswaffe V-1, nach deren Vorbild wiederum die Prototypen der heute bei Aggressoren so beliebten, weil ebenfalls ferngesteuerten Cruise Missile konstruiert wurden, in diesem Kasseler Rüstungsbetrieb entwickelt wurde, dann macht der Titel des Werkes "Progressus" allemal Sinn.


Ansicht der Bilderwand mit verbrannter Holzkonstruktion - Foto: © 2017 by Schattenblick

Teilansicht Daniel García Andújar "The Disasters of War"
Foto: © 2017 by Schattenblick

"Von Athen lernen" - wie neokolonialistisch ist die documenta 14?

Der Transport eines Monolithen, der einem Stein der antiken Agora Athens nachempfunden ist, von der griechischen Hauptstadt nach Kassel steht im Mittelpunkt eines Projektes der Dramaturgen Roger Bernat und Roberto Fratini. Ein aus Kunststoffen kopiertes Teil aus dem archäologischen Vermächtnis des antiken Griechenlands wird mit dem Flugzeug nach Wolfshagen bei Kassel verfrachtet, um auf dem dort von den Nazis eingerichteten Thingplatz vergraben zu werden. Der recht verklausulierte Versuch, die Kunstaktion in einen sozialkritischen Kontext zu stellen, leuchtete der Gruppe LGBTQI+ Refugees in Greece nicht ein, so daß sie sich ihrerseits gegen die Künstler und ihr Projekt positionierten. Sie warf ihnen vor, ihre Aktivistinnen und Aktivisten zwecks Inzenierung des Steines im Rahmen eines Begräbnisses, von denen sie schon mehr als genug erlebt hätten, instrumentalisiert zu haben, und entführten das Objekt schlichtweg. In dem dazu produzierten, fast 60.000 Mal aufgerufenen Video [2] tanzen sie um den Stein herum, den sie womöglich in die Türkei abgeschoben hätten, der sich vielleicht aber auch mit falschem Paß auf einem Flug nach Schweden befinde, um dort Asyl zu beantragen.

In einer ausführlichen Entgegnung [3] erklärten Roberto Fratini und Roger Bernat den Vorwurf, mit der Kunstaktion das Dasein der Flüchtling zu fetischisieren und mit dem Begraben des Steines in Deutschland auch die Erinnerung an die Flüchtlinge zu tilgen, für gegenstandslos. Sie hätten die Aktivistinnen und Aktivisten nicht für ihre Beteiligung an dem Projekt bezahlt, sondern man habe lediglich die Einnahmen zwischen allen Beteiligten geteilt, zudem sei das Objekt nicht entführt, sondern nur nicht zurückgegeben worden. Es habe ohnehin keinen Wert und man habe von Anfang an mit einer solchen Aktion gerechnet, weshalb zwei weitere Kopien des echten Monolithen angefertigt worden seien. Dennoch trug die Aktion dazu bei, der vielstimmigen Kritik an der Athener documenta 14 mehr Öffentlichkeit zu verschaffen und dieser das fundamentale Problem einer Kunst vor Augen zu führen, deren Adressatinnen und Adressaten vor allem zu den privilegierten, weder von Hunger und Armut noch staatlicher Gewalt und politischer Unterdrückung betroffenen Eliten gehören [4].


Textwand mit Monitor - Foto: © 2017 by Schattenblick

Teilansicht Roger Bernat "The Place of the Thing"
Foto: © 2017 by Schattenblick

"Von Athen lernen" - mit dem Arbeitstitel für den Export der documenta 14 in eine Metropole von geradezu signifikanter Bedeutung für die sozialen Auswirkungen des EU-europäischen Krisenmanagements hätte das Kuratorenteam die Latte ihres Anspruches kaum höher legen können. Sind schon die kulturhistorischen Beziehungen zwischen den Städten Kassel und Athen von einem philhellenisch verklärten Blick auf die Antike geprägt, demgegenüber das moderne, agrarisch geprägte Griechenland nur abfallen kann, so hätte ein solcher Schritt der umfassenden Bearbeitung des imperialistischen Verhältnisses zwischen Deutschland und Griechenland bedurft. Dem hat Kurator Szymczyk eher nicht entsprochen, das meinte zumindest der griechische Politiker und DiEM25-Begründer Yanis Varoufakis in einem Interview [5].

Anhand eines Beispiels deutscher Privatisierungspolitik in Griechenland, bei der die mehrheitlich in staatlichem Besitz befindliche Fraport einige der einträglichsten griechischen Flughäfen in ihren Besitz gebracht hat und dafür Kredite bei griechischen Banken aufnahm, die wiederum unter Kuratel der Gläubiger der Troika stehen, stellte er die Alimentierung der documenta 14 in Athen und die vielen von ihr in Anspruch genommenen lokalen Ressourcen als analoge Form der Monopolisierung dar. Zwar habe die documenta 14 einige Ressourcen aus Deutschland beigesteuert, doch alles in allem basiere ihre Anwesenheit in Athen auf einem extraktivistischen Prozeß, der auch noch von einem linken Narrativ bemäntelt werde.

Szymczyk habe zwar nur mit öffentlichen Institutionen in Athen zusammengearbeitet, doch in Griechenland handle es sich bei der Idee, daß diese ein Gegengewicht zu privatwirtschaftlichen Ausplünderung des Landes und seiner Bevölkerung darstellen könnten, um eine durchsichtige Ausrede für den Vollzug sozialfeindlicher Austeritätspolitik unter dem Fetisch nationaler Identität. Diese werde in den Ausführungen der Kuratoren und anderer kunstbeflissener Kommentatoren des antiken Griechenlands auf eine Weise gefeiert, die an den Philhellenismus des 18. Jahrhunderts gemahne, als die europäischen Kolonialmächte mit kaum weniger eigennützigen Motiven die Wurzeln der westlichen Zivilisation in Griechenland verortet hätten. Ganz generell verwahrt sich Varoufakis als Internationalist gegen die Verklärung der Verhältnisse zwischen Nationalstaaten in Form vermeintlicher Eigenschaften und Charakteristiken der jeweils als Nation präsentierten Bevölkerungen.

So war er wenig erfreut über die Aussage der documenta-Geschäftsführerin, Annette Kulenkampff, bei dem deutschen Kulturimport handle es sich um ein Geschenk an Griechenland. Derartige Geschenke seien schon aufgrund dessen unmöglich, daß Deutschland kein einheitliches, sondern höchst heterogenes Gebilde aus zum Teil ganz gegensätzlichen Gruppen wie Kapitaleliten und antikapitalistischen Gruppen sei. Tatsächlich würde die documenta von vielen Interessen alimentiert und für viele Interessen eingespannt, so Varoufakis, wozu sich ergänzen ließe, daß Handreichungen zwischen Staaten im Rahmen der europäischen Krisenkonkurrenz stets Gewaltverhältnisse befördern.

Insbesondere bemängelte Varoufakis die Abwesenheit von Kritik an der Politik der Gläubiger, namentlich der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, in der Athener documenta. Dies hätte nicht nur mögliche Förderer verschrecken können, sondern auch das gegen den Neoliberalismus gerichtete Narrativ erschüttert, der gar nicht die maßgebliche Kraft bei der Unterwerfung Griechenlands sei. Bei dieser gehe es vielmehr um eine Art moderner, von Staaten vollzogenen Kanonenbootpolitik, die mit Hilfe des Finanzkapitals vollzogen würde, was wiederum Kritik an einer modernen Form des Kolonialismus auf den Plan rufe.

Diese findet sich am ehesten bei den zahlreichen Grafitti, mit denen die documenta 14 in Athen kommentiert wurde. "Crapumenta 14 - The Crisis of a Commodity or the Commodity of Crisis?", "I Refuse To Exotisize Myself To Increase Your Cultural Capital" als Kommentar zu dem voyeuristischen Genuß, soziales Elend aus der sicheren Perspektive eigenen Wohlstands heraus betrachten zu können, oder die Anmerkung, daß es schön sein müsse, den Kapitalismus mit einem Budget von 38 Millionen Euro zu kritisieren, sind Formen von Kunst, die der so textintensiv produzierten documenta 14 eigentlich gut zu Gesicht stehen.

Bemerkenswert war zudem ein zur Eröffnung der documenta 14 in Athen am 8. April verbreiteter Text, in dem sich migrantische Hausbesetzerinnen anläßlich der Räumung ihrer Wohnungen auf das Parlament der Körper beriefen, daß die Stimmen des Widerstands und der Minderheiten beschworen habe: "Nun, wir sind diese Stimmen, wir sind genderlos, wir sind Migranten, wir sind moderne Parias, wir sind die Dissidenten des Regimes und wir sind hier. Wir laufen mit euch, wir sind auf den Parallelstraßen unterwegs, aber ihr seht uns nicht - eure Augen fixieren die blau unterstrichenen Linien eurer Google-Karte. Ihr wurdet programmiert und angewiesen, uns nicht zu sehen, einfach an uns vorbeizugucken, uns zu vermeiden - unsere Kultur wurde für euch zensiert." [6]

Der Vorwurf, zur "goldenen Ghettoisierung" der Stadt und zur Vertreibung der Migrantinnen und Migranten aus ihren Vierteln zu schweigen und damit den Krieg des Staates, der Kirche und NGOs gegen ihre Graswurzelinitiativen zu unterstützen, wiegt angesichts des progressiven Anspruchs der documenta 14 schwer. Ihr Logo, die stilisierte Eule mit dem schräg angelegten Kopf erinnert an die Redensart, laut der nichts überflüssiger sein könnte als Eulen nach Athen zu tragen. Das ist allzuleicht gesagt, verkündet das in Athen anzutreffende Grafitti, das die Eule mit abgeschlagenem Kopf zu der Frage "Can You Kill The Hierarchy Within You?" zeigt. So hat die am 16. Juli beendete documenta 14 in Athen Anlaß zu Fragen gegeben, die der weiteren, nicht nur künstlerischen Bearbeitung harren.


Bildprojektionen und weiße Säcke - Foto: © 2017 by Schattenblick

Theo Eshetu "Atlas Fractured" (links) und Dan Peterman "Kassel Ingot" (rechts) in der großen Halle der Neuen Neuen Galerie
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:

[1]http://www.deutschlandfunk.de/documenta-kurator-adam-szymczyk-die-kunst-hat-eine.911.de.html?dram:article_id=382838

[2] https://www.facebook.com/lgbtqirefugeesingreece/videos/263576050783139/

[3] http://rogerbernat.info/general/lets-put-things-in-its-place/

[4] https://hyperallergic.com/382407/lgbtq-refugee-rights-group-steals-artwork-from-documenta-in-athens/

[5] http://www.art-agenda.com/reviews/d14/

[6] https://conversations.e-flux.com/t/open-letter-to-the-viewers-participants-and-cultural-workers-of-documenta-14/6393


24. Juli 2017


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