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BERICHT/033: Fluchträume und Grenzen - politisch, aber frei (SB)


Kriterien linker Kunstkritik am Beispiel der dOCUMENTA (13)

Diskussion am 1. September 2012 in Kassel


Podium der Referentinnen und Referenten - Foto: © 2012 by Schattenblick

Klaus Stein, Thomas Metscher, Werner Seppmann, Thomas J. Richter, Heike Friauf Foto: © 2012 by Schattenblick

Die auf einer Tagung der Marx-Engels-Stiftung [1] in Kassel erörterte Frage, ob die dOCUMENTA (13) insgesamt als Bestandteil des kapitalistischen Kulturbetriebs zu verwerfen sei oder man den Kunstevent als Forum zumindest einzelner Errungenschaften zeit- und gesellschaftskritischer Art in Anspruch nehmen sollte, konnte natürlich nicht zu einem Schluß geführt werden, der alle an dem Treffen im Veranstaltungszentrum Café Buch-Oase Beteiligten befriedigt hätte. Sie war jedoch dazu geeignet, dem widersprüchlichen Charakter einer Kunst schärfere Kontur zu geben, die beansprucht, eine inhaltliche und ästhetische Auseinandersetzung mit menschenbewegenden Problemen und Herausforderungen zu führen, während sie zutiefst in diese verstrickt ist. Dabei blieb die Debatte nicht auf die Anfang September noch laufende dOCUMENTA (13) beschränkt, sondern versuchte darüberhinaus herauszufinden, wie sich eine nurmehr marginale Linke auf diesem Terrain positionieren kann, um Kunst und Kultur für emanzipatorische Zwecke nutzen zu können.

Nachdem die geladenen Referentinnen und Referenten Werner Seppmann, Thomas Metscher, Heike Friauf und Thomas J. Richter in den vorherigen Stunden bereits das Feld der Debatte abgesteckt hatten und Klaus Stein mit seinen Interventionen zugunsten einer zumindest begrenzten Inanspruchnahme dieser alle fünf Jahre stattfindenden Kunstshow zu ihrem kontroversen Verlauf beitrug, mischten sich nun auch Zuhörerinnen und Zuhörer mit eigenen Beiträgen ein.

Redebeitrag aus dem Publikum - Foto: © 2012 by Schattenblick

Reger Gesprächsbedarf im Publikum
Foto: © 2012 by Schattenblick

So wurde dafür plädiert, den eher soziologischen Begriff des künstlerischen Feldes nach Pierre Bourdieu zu nutzen, um die ästhetischen Erfahrungen des Auges ins Verhältnis intersubjektiver Erfahrung zu setzen. Niemand schaue Kunst unberührt von jeglichem Kontext an, niemand bewege sich außerhalb von Machtzusammenhängen, die gerade auch in Großausstellungen aktiv würden, wo über die Frage, wer ausgestellt werde und wer nicht, mit hohem Einsatz befunden werde. Wie Kriterien im ästhetischen Feld zu entwickeln seien, habe Thomas Metscher bereits erklärt, doch sei dabei auch an Georg Lukács und Leo Kofler zu denken. Zwar sei die Linke nicht in der Lage, mit Kunst gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern, doch ginge es darum, die Kunst aus ihrer Sicht zu thematisieren und das Verhältnis der kapitalistischen Gesellschaft zu ihr genau zu analysieren.

Thomas Metscher bestätigte, daß es sich um ein vergebliches Unterfangen handle, anhand irgendeiner Kunstausstellung die Totalität von Gesellschaft erfassen zu wollen. Die Aufgabe linker Kunstkritik könne darin bestehen, das ästhetische Feld, in dem ein Kunstevent wie die Documenta verortet sei, im historischen Wandel und der sozialen Bedeutung dort verlaufender Kunstprozesse zu untersuchen, wie auch die künstlerische Leistungsfähigkeit einzelner Werke daraufhin zu überprüfen, was sie an Wissen, Dispositionen, Haltungen und Emotionen ästhetisch vermitteln können. So könne ein kritischer Diskurs auch an einzelnen Exponaten wie etwa den Wandteppichen der norwegischen Künstlerin Hannah Ryggen, die mehrfach anerkennend gewürdigt wurden, ansetzen.

Thomas Richter blieb seiner zuvor geäußerten Fundamentalkritik an der Documenta treu. Der späte Imperialismus zerstöre die Natur, die Kulturleistungen und die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse. Da der Imperialismus objektiv die Kunst abschaffe, handle es sich bei der Documenta nicht mehr um eine Kunstausstellung. Auch wenn die dort präsentierten, großflächig angelegten Bastelarbeiten mit künstlerischen Mitteln erstellt wurden, mache das noch lange kein Kunstwerk aus ihnen.

Thomas Richter - Foto: © 2012 by Schattenblick

Streitbare Stellungnahme
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ihn interessiere die Maschine und der Massenzirkus namens Documenta. Zu den Bewegungsformen des späten Imperialismus gehöre der Krieg ebenso wie der Event, daher sei die Documenta für ihn eine große Gehirnwaschmaschine, die die Menschen im Zustand erwartungsfroher Ratlosigkeit gleichschaltet und von den wesentlichen Problemen, die sie angehen, ablenkt. Der Imperialismus raube ihre Lebenszeit und lösche ihr Gedächtnis aus, um sie zu Konsumenten zuzurichten. Bei der Documenta, die ein Meilenstein bei der Abschaffung der Kunst sei, gehe es nicht um freie Persönlichkeitsentfaltung. Das Publikum werde nicht als Subjekt, sondern Objekt aus ihr entlassen. Er wolle die politische und gesellschaftliche Funktion der Documenta untersuchen, um dieser Angstgesellschaft entgegenzutreten. Dazu sei es auch erforderlich, die Angst in sich selbst zu erkennen und sich nicht zur Marionette machen zu lassen, endete der mit Applaus bedachte zornige Beitrag Richters.

Werner Seppmann antwortete auf einen Einwand zu seiner Kritik an abstrakter Malerei, ihm ginge es darum herauszustellen, daß diese Stilform absolut gesetzt und alles andere weggewischt worden wäre. Dies stehe im Gegensatz zum Anspruch der Documenta, auf plurale Weise das globale Kunstschaffen zu dokumentieren. Dabei habe die marxistische Kunstkritik abstrakte Malerei sehr differenziert untersucht, allerdings änderte das nichts an dem Problem, daß man ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr anders malen durfte, um ein Minimum an existentieller Sicherheit zu bewahren.

Werner Seppmann - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eloquent und raumgreifend
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ihn interessiere, was auf der Documenta mit systematischem Nachdruck nicht gezeigt werde. An der Ausstellung etwas zu retten, indem man nach einzelnen Beispielen fortschrittlicher und hochwertiger Kunst suche, liefe darauf hinaus, die tägliche Lektüre der Bild-Zeitung damit zu rechtfertigen, daß die Leute immerhin lesen könnten. Seppmann untermauerte seine grundsätzliche Kritik an dieser Art von Kunstbetrieb mit dem Verweis darauf, daß dem künstlerischen Nachwuchs die handwerkliche Ausbildung regelrecht verweigert werde. An den meisten Hochschulen werde kein Zeichnen mehr gelernt, und wer dies dennoch tun wolle, werde verlacht, so der Soziologe unter Verweis auf einschlägige Literatur zu dieser Entwicklung. Auf den Jahresausstellungen der Kunstakademien könne man sehen, daß sich die Kunst in einer regressiven Spirale nach unten befinde und nichts geringeres als ihre Zerstörung betrieben werde. Dies erfolge vor dem Hintergrund weltweiter Verarmung, die dann auch noch mit geradezu zynischen Beiträgen garniert werde. Als Beispiel führte er in Kassel von einer englischen Künstlergruppe angebotene Hubschrauberflügen über der Documenta an, deren 150 Euros teure Tickets angeblich aus sozialen Gründen verlost wurden.

Was den von ihm angestellten und ebenfalls aus dem Publikum heraus kritisierten Vergleich der Documenta mit faschistischer Kunstpolitik betraf, so verwies Seppmann darauf, daß so gut wie keiner der Maler, der von den Faschisten als entartet denunziert wurde, auf der Documenta gezeigt worden wäre. Die gleichen Leute, die die Ausstellung Entartete Kunst organisiert hätten, wären im kulturindustriellen Komplex der Bundesrepublik - nicht anders als in ihrem Staatsapparat - wieder aktiv gewesen.

Klaus Stein auf dem Podium - Foto: © 2012 by Schattenblick

Vorschlag zur praktischen Analyse
Foto: © 2012 by Schattenblick

Klaus Stein schlug zur Untersuchung der Documenta vor, Maßstäbe für ästhetische Wirkungen zu bilden, die als Frühwarnsysteme fungierten. So seien ihm bei der letzten Fünfjahresausstellung in Dresden 1987 die vielen Täuschungsmetaphern wie Masken und Clowns aufgefallen. Sie hätten ihm dazu gedient, einen Maßstab für die ästhetische Wahrnehmung der Wirklichkeit in der DDR zu entwickeln. Dies könne man auch bei der Documenta tun, um gesellschaftliche Widersprüche aufzuzeigen, anstatt immer nur das Fortschrittliche zu suchen.

Heike Friauf griff einen Beitrag aus dem Publikum zu den materiellen Bedingungen der Kunstproduktion auf, indem sie darauf verwies, daß Ausstellungen im Frauenkunstbereich immer auch unter Kuratel der Sponsoren ständen. Die Kuratorinnen müßten sich fragen, was sie zeigen dürften, um ihrer Karriere nicht zu schaden. Sie bestätigte zudem Seppmanns Kritik an den Ausbildungsbedingungen an den Kunsthochschulen, würden doch konventionelle Techniken der Kunst kaum noch vermittelt. Statt dessen habe sich etabliert, daß man sich selber managen muß. Kunstmanagement werde als Teil der Fachausbildung für Kunststudenten angeboten, und wer dies nicht belege, brauche gar nicht erst anzutreten.

Eine Zuhörerin stellte ein Zitat aus einem Interview der taz mit der vielfach für ihren "erweiterten Kunstbegriff", ihre demonstrative Konzeptionslosigkeit und die damit einhergehende Beliebigkeit im Umgang mit politischen und ästhetischen Kriterien kritisierte künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13), Carolyn Christov-Bakargiev, zur Diskussion:

"Aber der Verzicht auf ein theoretisch ausgefeiltes Konzept ist bei mir mehr eine Form des Widerstands gegen den Wissenskapitalismus. Der genau damit arbeitet. Eine Form des Widerstands gegen die Art und Weise, in der in unserer digitalen Welt Macht durch die Beherrschung des Wissens ausgeübt wird.

Was meinen Sie damit?
Die Produkte kognitiver Arbeit, ob Sie nun Genetiker sind und DNA-Codes kodieren, ob Sie Mathematiker sind und für eine Softwarefirma arbeiten oder ob Sie Künstler sind, werden oft genug sofort in ein System der Macht kooptiert. Diese Übernahme findet in allen Bereich der sogenannten Kreativität statt. Das ist die Basis von Macht und Profit im 21. Jahrhundert. Fragen wie die des Intellektuellen-Streiks, den die italienischen Operaisten bis hin zu Negri und Hardt dann entwickelt haben, also so etwas wie Wissensverweigerung, das war zu Jan Hoets Zeiten noch kein Thema. Deshalb hat er den Satz: 'Ich habe kein Konzept' aus anderen Gründen gesagt." [1]

Für Werner Seppmann handelte es sich bei diesen Worten keineswegs um eine kritische Gegenposition zur herrschenden Wissens- und Kulturproduktion. Seiner Ansicht nach setze die Kuratorin gegen deren Imperative nicht die Wiederaneignung des Wissens, sondern dessen Zerstörung. Dahinter stehe eine Philosophie, die schon der Künstler Günther Uecker vor 40 Jahren vertreten habe, als er ein Seil auf dem Boden in der Kunstsammlung NRW als Manifestation gegen die Herrschaft der Rationalität zu erklären versuchte. Diese Art der postmodernistischen Rationalitätskritik reiche zurück bis zur faschistischen Ideologie und habe dort ihre Wurzeln, meinte der Soziologe mit der ihm eigenen kategorischen Schärfe. Es gebe durchaus alternative Formen der rationalen Weltaneignung, auch wenn sie unter jetzigen Bedingungen von der bürgerlichen Gesellschaft absorbiert würden. Im Bereich des Ästhetischen gebe es keine anderen Widerstandsmomente als Kreativität in einem progressiven Sinne zu entfalten, was das Gegenteil dessen sei, was Christov-Bakargiev praktiziere. Sie zerstöre die Mittel, die zu ergreifen gegen diese kapitalistische Instrumentalisierung notwendig seien.

Metscher attestierte der Kuratorin Scheinrationalität und verwies auf die eminente Bedeutung des Wissens für die hochtechnologische Produktionsweise des Kapitalismus. Wissen erfülle die Aufgabe einer wesentlichen Produktivkraft des Systems der imperialistischer Reproduktion, weshalb man daraus nicht den Schluß ziehen könne, keine Kritik der politischen Ökonomie des Imperialismus mehr zu entwickeln, weil das ja eine Theorie sei. Konzeptionslosigkeit als Antwort darauf, daß der Gegner Wissen und Konzepte verwendet, sei eine Fehlleistung. Man könne darauf nur mit einem Wissen antworten, das dem entgegensteht, und dies betreffe nicht nur Kreativität, sondern Wissen selbst. Andernfalls ende man bei der Konzeptionslosigkeit des Anything Goes.

Thomas Metscher - Foto: © 2012 by Schattenblick

Plädoyer gegen die Konzeptionslosigkeit
Foto: © 2012 by Schattenblick

Als Beleg dafür, daß es auch im bürgerlichen Feuilleton anders gehe, verlas Metscher ein Zitat aus einem Artikel der Kunstkritikerin der Süddeutschen Zeitung, Kia Vahland, vom 26. Juli 2012:

"Früher war in Kassel jeder Mensch ein Künstler. Heute ist es jedes Tier und jede Tomate. Sollte wirklich dies der bleibende durchschlagende Gedanke dieser Documenta werden, dann bliebe dem nächsten Kurator nur noch ein Back to the roots. Die Ausstellung 2017 müßte wieder eine Bundesgartenschau sein wie die Veranstaltung, aus der die erste Documenta hervorgegangen war. Damit hätte sich die Kunst aus dem gesellschaftlichen Diskurs verabschiedet und auch aus dem emanzipatorischen Anspruch, den Betrachtern zu neuem Denk- und Freiraum zu verhelfen. Kunst wäre so nur noch das kurzlebige Zeug, das es in Galerien und auf Auktionen zu kaufen gibt. Ein Heros des Marktes, Jeff Koons, hätte dann die Zeichen der Zeit bereits erkannt. Nicht die Kunst tradiere sich ewig, bekundet er in Interviews, sondern das menschliche Erbgut. Was zählt, ist Biologie. Den Rest machen wir gleich zu Geld. Wer die Kunst als freie Disziplin für austauschbar erklärt, arbeitet auf lange Sicht an ihrer Abschaffung."

Metscher nahm diesen erfrischenden Beitrag zum Anlaß, zur Untersuchung der inneren Widersprüche in den Institutionen der herrschenden Klasse zu ermutigen, so daß Linke sich auf eine Weise positionieren können, die sich nicht den Maßgaben und Normen des imperialistischen Kunstbetriebs unterwirft. Thomas Richter erinnerte daran, daß die bürgerliche Klasse mit dem Unwohlsein am Kapitalismus auf eine Weise umgehen müsse, die das Ausbrechen sozialer Unruhen verhindert. Die antikapitalistisch anmutenden Äußerungen Christov-Bakargievs seien demagogische Taschenspielertischs, auf die sie sich allerdings bestens verstehe.

Podium mit Moderator am Stehpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Moderator Hermann Kopp (rechts) führt durch die Veranstaltung
Foto: © 2012 by Schattenblick

In einem weiteren Beitrag aus dem Publikum wurde auf die Praxis der Situationisten verwiesen, die destruiert hätten, was sie am Kunstbetrieb für wertlos erachteten, um damit der Auffassung entgegenzutreten, mit den Mitteln der Kunst keine gesellschaftliche Veränderung vollziehen zu könne. Es gebe eine Vielzahl neuer ästhetischer Formen, doch sei die Form-Ausdruck-Sprache letztendlich durchdekliniert, so daß es sich bei vielen Formen, die technisch möglich und machbar wurden, eher um illusorische Konstrukte handle. Zwar diene die Kenntnis dieser Mechanismen Künstlern dazu, sich dieser Formsprache zu bedienen, um Inhalte zu transportieren, doch versetze sie sie nicht in die Lage, die generelle gesellschaftliche Begrenztheit der Kunst zu überschreiten. Um so wichtiger sei es, sich dieser Einschränkungen kompromißlos klar zu werden. Man laboriere in der Hoffnung, Bewußtsein durch ästhetische Interventionen zu verändern, werde aber zurückgeworfen auf das soziale Netz, in das man eingebunden sei. Daher gelte es, sehr sorgfältig analytischen Kriterien zur Beurteilung der Kunstproduktion zu entwickeln, sich einer positiven Bestimmung des Kunstbegriffs zu nähern und produktive positive Alternativen zu entwickeln.

Thomas Richter schränkte diese Aufforderung dahingehend ein, daß Linke nicht jeden einzelnen Versuch verstehen müßten, ein Kunstwerk zu schaffen. Dies sei nicht unbedingt mit dem üblichen Tempo gesellschaftlicher Produktivität kompatibel. Er rede lieber von Menschen statt von Künstlern, für die sich die Frage stelle, wie sie dazu zu gewinnen seien, ihre künstlerischen Fähigkeiten und einen Teil ihrer Arbeitskraft für den antikapitalistischen Kampf fruchtbar zu machen.

Klaus Stein schilderte an einem Beispiel aus der eigenen politischen Praxis als Kreisvorsitzender der DKP in Köln den Prozeß der Erarbeitung ästhetischer Kriterien. Er sei mit Thomas Richter insofern einer Meinung, als daß es nicht nur darum gehe, Lücken und Widersprüche auszumachen, sondern auch Alternativen zu organisieren, indem man die Bereitschaft zur kollektiven Bewußtseinsbildung fördert und sich selber ästhetisch weiterbildet.

Darauf warf Werner Seppmann die Frage auf, wie man denn mit der eigenen verfahrenen Situation umgehe. Er spreche sich durchaus selbstkritisch dafür aus, Bestandssicherung zu leisten und damit auch zu propagieren, was an erwägenswerter Kunst heute geschaffen werde. Es gebe noch viel mehr Gründe, einen Angriff auf die kulturelle Identität zu diagnostizieren, als er bisher genannt habe, daher sei die Konzentration auf die Documenta kontraproduktiv. Dort werde nicht gezeigt, was es weltweit wie in Deutschland an bedeutender Kunst gebe. Es gehe viel mehr darum, so etwas ähnliches zu schaffen wie eine Arche Noah des kulturellen Gedächtnisses. Zwar wurde Noah beim Bau der Arche verlacht, doch sollte man sich immer daran erinnern, daß seinen Zeitgenossen das Lachen ganz schlecht bekommen ist.

Anstelle eines Schlußwortes beantwortete Thomas Metscher einige Fragen zu den Kriterien der Kunst. Die dialektische Beziehung von Inhalt und Form erklärte er mit dem Apriori der formalen Gestaltung. Sie sei immer das erste in der Kunst, führte Metscher am Beispiel der Vorarbeiten zum bildnerischen Antikriegsepos "Guernica" aus. Pablo Picasso habe im langwierigen Entstehungsprozeß des Gemäldes Inhalte zum Teil so verändert, daß sie am Ende auf gegenteilige Weise in Erscheinung traten. So hatte der Stier in den Vorstudien des Bildes anfänglich die Rolle des Aggressors inne, während er schließlich zur unzerstörbaren Kraft des Volkes geworden wäre. Der Künstler gehe mit Inhalten formal um, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Bertolt Brecht sei ein Meister darin gewesen, mit simplen Mitteln hochkomplexe Inhalte zu transportieren, so daß umfassende Erfahrungszusammenhänge am Ende mit großer Einfachheit in Erscheinung traten.

Kontextunabhängigkeit sei ein Kriterium qualitativ hochwertiger Werke, die auch außerhalb des Umfeldes, in dem sie entstanden sind, auf bestimmte Weise rezipier- und erfahrbar seien. So habe William Shakespeare Stücke geschaffen, die große Zeiträume überbrücken und in andere historische Situationen übersetzt werden könnten. Wenn man versuche, Werke aus anderen Epochen unmittelbar zu verstehen, um dann die Vielfalt ihrer Bedeutungen in ihrer historischen Kontextualisierung zu erschließen, verschaffe dies größte Reichweite an historischer Geltung.

Hinterhof im Café Buch-Oase - Foto: © 2012 by Schattenblick

Das Gespräch geht weiter ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

Mit der Ankündigung des 4. Kulturpolitischen Forums der DKP am 16. und 17. November in Hannover [2] ging eine Veranstaltung zu Ende, die ihren Sinn und Zweck weniger als Begleitveranstaltung zur dOCUMENTA (13) denn als eigenständiges Treffen zur gesellschaftskritischen Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur erfüllte. Die unerläßliche Positionierung Linker zu diesem Komplex kapitalistischer Vergesellschaftung gewinnt an Wirksamkeit und Schlagkraft nicht dadurch, daß auf den bürgerlichen Kulturbetrieb reagiert, sondern die eigene Schaffenskraft zu einer Waffe der Kritik und der Parteinahme für die Ausgebeuteten und Unterdrückten entwickelt wird. In diesem Sinne sei das dem vermeintlich abflauenden Charakter des eigenen Kampfes ohne Not Raum gebende Motto des DKP-Forums "Immer noch gegen den Wind" in das Bemühen darum verkehrt, den Wind wider alle Erwartung und Wahrscheinlichkeit in die eigenen Segel zu lenken, also das Unmögliche zu wagen, ohne das kein künstlerischer Mut bestehen kann.

BUBL: Treppenhaus im Veranstaltungszentrum Café Buch-Oase - Foto: © 2012 by Schattenblick

Regressive Spirale im Verhältnis von Kunst und Kapitalismus
Foto: © 2012 by Schattenblick

Kunstproduktion im Widerschein kapitalistischer Herrschaft

Im Grund genommen kann die Frage des Umgangs mit kulturellen Megaevents unter Menschen, die die revolutionäre Überwindung herrschender Verhältnisse für unabdinglich halten, da der Kapitalismus zugunsten einer von humanistischen und egalitären Idealen bestimmten Zukunft niemals zu retten war und es immer offensichtlicher nicht sein wird, keinen großen Dissens erzeugen. Der bürgerliche Kulturbetrieb war stets ein Legitimationsvehikel bourgeoiser Herrschaft, und die Brüche und Risse, die sich in seiner beschwichtigenden und gefälligen Oberfläche auftaten, wiesen über die Steigbügelhalterdienste auch fortschrittlich erscheinender Kunstproduktion nur hinaus, wenn diese Instrumentalisierung radikal aufgedeckt wurde.

Im postfordistischen Kapitalismus hat sich die sogenannte Kultur- und Kreativwirtschaft zudem zu einem veritablen Wirtschafts- und Standortfaktor entwickelt. Die Bruttowertschöpfung von 36 Milliarden Euro 2007 allein in der Bundesrepublik wird zu einem Gutteil auf dem Rücken eines Prekariats aus Kulturschaffenden erwirtschaftet, das die erhoffte Ungebundenheit und Vielfalt dieses Bereichs gesellschaftlicher Produktivität mit harten Zugeständnissen an sein physisches Wohlergehen erkauft. Unterhalb der vom Marketingjargon professioneller Motivationsingenieure zum Ausbund individueller Freiheit verklärten Jobkultur einer "digitalen Boheme" bestimmen materielle Not und permanenter Akquisitionszwang das Leben vieler Künstlerinnen und Künstler. Ihre Arbeitskraft durch hochgradige Flexibilisierung und scharfe Konkurrenz zu kostengünstigen Bedingungen verfügbar zu machen gelingt desto besser, wenn die Mittel, die für die Kuratierung einer Ausstellung, das Stipendium an der Kunsthochschule, die Produktion eines Theaterstücks oder den Erwerb bildender Kunst freigesetzt werden, der selektiven Effizienz der dadurch vermittelten Interessen unterworfen werden.

Der Bedarf an sinnstiftender, die Totalität kapitalistischer Verwertungslogik bunt bemäntelnder Kultur steigt in dem Maße an, in dem die Substanz der industriellen Wertschöpfung zerstört wird und immer größere Brachen des sozialen Elends und der gesellschaftlichen Ausgrenzung hinterläßt. Wo sich angesichts des unterstellten Primats der Märkte zeigt, daß die politischen Funktionseliten als bloße Staffage der Kapitalmacht fungieren und reale Handlungsspielräume kaum mehr vorhanden sind, bieten sich Kunst und Kultur zur Inszenierung sinnstiftender Erlebnisse und Identifikationsangebote in besonderer Weise an. Insbesondere im Rahmen postmoderner Stadtpolitik schmücken sich Politiker gerne mit den Spektakeln der Event- und Unterhaltungskultur, der ihrerseits maßgebliche Bedeutung bei der Aufwertung urbaner Räume zu attraktiven Investitionszielen zukommt.

Wie auch die dOCUMENTA (13) zeigte, bedienen sich Industrie- und Finanzkapital des Kultursponsorings zur Pflege des eigenen Markenimages und zur Simulation einer gesellschaftlichen Verantwortung, der sie im Bereich harter Wirtschaftsfaktoren wie dem Preis der Arbeit und der Erzwingung einer kapitalfreundlichen Standortpolitik desto weniger nachkommen müssen. Die Entkoppelung von künstlerischer Kreativität und materiellen Gewaltverhältnissen ist gewissermaßen Programm einer Kunst- und Kulturförderung, deren Sachwalter die Dialektik revolutionärer Widerspruchsentwicklung zur reaktionären Adaption symbolpolitisch inszenierter Sinnaggregate auf den Kopf stellen.

Wie hochentwickelt die Strategie ist, die von Richard Florida als Surrogat neoliberaler Expansionsstrategien beworbene "kreative Klasse" als Subjekt gesellschaftlicher Widerspruchsregulation einzusetzen, zeigt auch die in den USA geübte Kritik am destruktiven Einfluß der "Non-Profit-Industrie" [3] auf sozial fortschrittliche Initiativen und Bewegungen. Die im Bereich sogenannter Nichtregierungsorganisationen verbreitete Professionalisierung und Neutralisierung anfänglich von idealistischen Gründen bewegter Aktivistinnen und Aktivisten findet auch im Kunst- und Kulturbereich statt. Staatliche Institutionen, gemeinnützige Organisationen und finanzkräftige Stiftungen alimentieren den Kulturbetrieb nicht, um die unbestechliche Freiheit der Kunst zu garantieren, sondern nehmen Einfluß auf die dort verhandelten Inhalte schon dann, wenn nur die Möglichkeit im Raum steht, die künstlerische Artikulation streitbarer Anliegen könnte zum Entzug der finanziellen Bemittelung führen.

So ist die materielle Basis künstlerischer Produktivität auch in den Institutionen der Kulturförderung zu einem Thema von vordringlicher Bedeutung geworden, wie etwa die diesjährige Konferenz "radius of art" der Heinrich-Böll-Stiftung [4] belegte. Zäumt man die Frage nach der notwendigen Kritik eines Kunstevents wie dem der dOCUMENTA (13) von der Seite ihres Nutzens für die Schlagkraft des kulturindustriellen Legitimationsapparats auf, dann kommt man an den den konstitutiven Bedingungen künstlerischer Arbeit nicht vorbei. Die der herrschenden Eigentumsordnung geschuldete Not individueller Reproduktion setzt dem Streben nach autonomem Kunstschaffen eherne Grenzen, die nicht wahrhaben, eingestehen und überwinden zu wagen den vermeintlichen Ausweg in Fluchträume eröffnet, wo der bloße Schein freier Bewegung in der Dauerrotation aufgeregter Betriebsamkeit und dem zwanghaften Streben nach konsensorientierter Vergewisserung das Vergessen dessen bewirkt, was den Menschen erst zum Schritt über den Tellerrand des Naturzwangs veranlaßt hat.

Blick auf den Auepark von oben - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kasseler Horizonte
Foto: © 2012 by Schattenblick


Fußnoten:
[1] http://www.taz.de/!94461/

[2] http://www.dkp-online.de/kulturforum/

[3] BERICHT/009: Gefesselte Kunst - Im Schatten des Schattenstaates (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0009.html

[4] BERICHT/024: Gefesselte Kunst - Über die Kommodifizierung hinausdenken ... (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0024.html

13. November 2012