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BERICHT/018: Kunstverein Haus 8 Kiel zeigt Tamer Serbays "fairy tales" zur Eröffnung der Ausstellungen 2012 (SB)


Der neue Kieler Kunstverein Haus 8 e.V. stellt seit dem 28. April 2012 in zwei großen Ausstellungsräumen seines hell renovierten und im November 2011 eröffneten Atelierhauses die aktuellen Arbeiten des türkisch-deutschen Künstlers Tamer Serbay aus. Damit eröffnet der Verein um die engagierten Vorstandsmitglieder Anke Müffelmann, Organisatorin der von der Heinrich-Böll-Stiftung veranstalteten Berliner Konferenz "radius of art", Verena Voigt, Kunsthistorikerin, und den Künstler Tamer Serbay sein neues Programm für 2012, das zusammen mit den im Haus 8 ansässigen Künstlern und Designern entwickelt wurde.

Das basisdemokratisch organisierte Ausstellungshaus befindet sich im ersten renovierten Gebäude des ehemaligen Marine- und Garnisonslazaretts im Kieler Stadtteil Wik, Weimarer Straße/Heiligendammerstraße 15. In den einstigen Räumen einer Großküche und einer Wäscherei im Erdgeschoss und dort, wo in den oberen Etagen vormals Speisesäle, eine Plättstube und die Wohnung des Plättmeisters zu finden waren, haben sich nun 14 in Kiel ansässige Künstler und die Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein einquartiert. Unterstützt wird die Initiative von der Muthesius Kunsthochschule, der Muthesius Gesellschaft, der Design-Initiative, dem Verein Haus 8, der Projektentwicklungsfirma Conplan und dem Kieler Unternehmer Thomas Kersig.

Die drei Vorstandsmitglieder Anke Müffelmann, Tamer Serbay und Verena Voigt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Den Dialog über zeitgenössische Kunst bereichern
(von links) Anke Müffelmann, Tamer Serbay und Verena Voigt
Foto: © 2012 by Schattenblick

Dieses Konsortium, das betont Kunsthistorikerin Verena Voigt im Gespräch mit dem Schattenblick, taucht jedoch "hier in den Organisationszusammenhängen gar nicht auf. Sie delegieren das sehr gerne an die Gesellschaft und an den Verein, weil sie sagen, das Leben muss aus dieser Gemeinschaft heraus entstehen. Deswegen ist hier auch keine Leitung hereingesetzt worden." Im Gegenteil, "man hatte das Gefühl, das war ein so langer Prozess, bis es das wurde, was es jetzt ist, bis man das seit 2006 leer stehende Haus gerettet hatte, das ist aus etwas gewachsen und der nächste Schritt muss genauso vollzogen werden." Wichtig sind den aktiv Beteiligten vor allem die Vermittlung zeitgenössischer Kunst und das Künstlergespräch, so Voigt weiter. Es gebe zwar bereits unterschiedliche Vortragsreihen der Muthesiusschule und der Stadtgalerie Kiel, insbesondere der Dialog über zeitgenössische Kunst mit einem auf Kieler Künstlern liegenden Fokus sei aber noch ausbaufähig und ein lang gehegter Wunsch der Vereinsgründer.

Tamer Serbay vor 'Pferd und Halter', 2012 - Fotografie und Mischtechnik - 6-teilig, 100 x 190 cm - Foto: 2012 by Schattenblick © by Tamer Serbay

Tamer Serbay vor 'Pferd und Halter', 2012
Fotografie und Mischtechnik
6-teilig, 100 x 190 cm
Foto: 2012 by Schattenblick
© by Tamer Serbay

Die Renovierung zweier weiterer Gebäude des ehemaligen Militärkomplexes, die für die Entwicklung künstlerischen Arbeitens zur Verfügung stehen werden, ist geplant, außerdem wird im Garten von Haus 8‍ ‍ein Gardening Projekt entstehen. Der Kunstverein Haus 8 hat sich zum großen Ziel gesetzt, die Landeshauptstadt Kiel als Lebens- und Produktionsort für Künstler und Künstlerinnen zu stärken und durch internationale Kooperationen und interdisziplinäre Projekte zum Ausstellungsort für zeitgenössische bildende Kunst zu machen. Dabei wird eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Partnern aus Kultur, Design, Wissenschaft, Bildung und Wirtschaft angestrebt. Die Kooperation mit den skandinavischen Nachbarländern in grenzübergreifenden Projekten ist ein besonderes Anliegen.


Von Drachen, Feen und Pferdeträgern - Tamer Serbays "fairy tales"
Ich fühle mich den orientalischen Miniaturkünstlern des dreizehnten, vierzehnten, fünfzehnten Jahrhunderts gegenüber, die mit ihren huldigenden Erzählungen die Bücher ihrer Herrscher beschmückt haben, nicht in einer Position der Rebellion. Aber ich benutze ihre Bilder, ich trage diese Sachen auf meine Weise in unser Jahrhundert und vielleicht belebe ich sie noch mal. Das ist meine Kultur und ich schöpfe daraus, warum nicht?
(Tamer Serbay)

Da raucht die Frau eine Wasserpfeife, vielleicht sogar ein bisschen Haschisch? Und was ist in diesem kleinen Krug? Man sieht einen Kopf, könnte er zu ihr gehören oder eher zu einem Dschinn? Oder ist es eine Wahrsagerkugel? Was ist mit diesen Engeln, erst könnte man meinen, sie führten einen Kampf, doch schaut man genauer hin, so schaufeln sie in einer Wolke ein Grab, aber für wen nur? Welche historischen Zusammenhänge hinter diesen Bildern stecken, das ist schwer zu erahnen, doch Tamer Serbay schreibt, fasziniert von der Kunstfertigkeit der Miniaturmaler, seine ganz eigenen Geschichten aus "Tausendundeine Nacht". Bilder von Feen, Wahrsagern, Liebe und den vielen kleinen Dingen, die man so oft erst unter dem Vergrößerungsglas und bei näherem Hinsehen erkennt.

Wie zuvor wohl kaum jemand, benutzt Tamer Serbay die uralten und nur selten erhaltenen osmanischen Miniaturmalereien, die die Heldengeschichten türkischer und iranischer Sultane, Paschas oder Wesire illustrierten, als Arbeitsmaterial für seine Werke. Er vergrößert die circa fünf mal fünf Zentimeter großen Grafiken, um ihnen unter diesem neuen Blickwinkel mit bunten Farben zeitgenössisches Leben einzuhauchen und um sich selbst und den Betrachtern seiner Bilder Phantastisches zu erzählen, das mit dem Herrschaftskult der Originale nicht mehr verknüpft werden muss. Serbay hat die osmanischen Miniaturbilder vor Jahren beim Stöbern in einem Antiquariat in Antalya wiederentdeckt, als ihm durch Zufall ein illustriertes Geschichtsbuch in die Hände fiel, das sein ehemaliger Geschichtsprofessor aus Schülerzeiten verfasst hatte. Besonders störte ihn die herablassende und monotone Darstellung der Sultansfrauen in der Herrscherchronik . "Die Geschichten", so Tamer Serbay,

waren wie eine Ahnentafel. Sie erzählten, wo der Sultan geboren wurde, wer Vater und Mutter waren, wie lange er regiert und wieviele Frauen er geheiratet hatte und dann ging es los mit den Frauen, die erste, zweite, dritte, vierte und welche Kinder von ihnen kamen. Das war sehr interessant zu lesen, aber das kam mir irgendwie so komisch vor, wieso erzählt man nur, die Frau ist geboren, sie hat geheiratet, zwei, drei Kinder bekommen, sie ist gestorben und sie liegt da und da auf dem Friedhof?
Erzählerin, 2012 - Fotografie und Mischtechnik - 3-teilig, 50 x 150 cm - Foto: 2012 by Schattenblick - © by Tamer Serbay

Erzählerin, 2012
Fotografie und Mischtechnik
3-teilig, 50 x 150 cm
Foto: 2012 by Schattenblick
© by Tamer Serbay

Nachdem er sich von dieser und anderen anhand der Miniaturabbildungen entwickelten Fragen im Zuge des Künstlerprojektes "Sultan & Rosinen. Fremdbilder und Selbstreflexionen zum 'Orient'" (2007) zu der "ketzerischen" Videoinstallation "Lale Devri (Tulpenzeit)" (2007) inspirieren ließ, in der er tradierte Geschichtsauffassungen des Orients hinterfragt, kam Serbay auf die Idee, im Berliner Pergamonmuseum ausgestellte Originalminiaturen "für die Wand" abzufotografieren und per digitaler Bildbearbeitung zweidimensional zu vergrößern. Der Künstler isoliert die einzelnen, ihm interessant erscheinenden Figuren aus dem eigentlichen Bildzusammenhang und hebt so ihren enormen Detailreichtum und die Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer hervor, die sich einer Legende zufolge dem Höhepunkt ihres Könnens mit goldenen Nadeln das Augenlicht nahmen, um fortan als blinde Meister ihrer Berufung nachzukommen. Dabei legt er seinen Fokus auf die besonders klein gezeichneten Leute, die in den Miniaturbildern oft nur Nebenrollen spielten, doch als zierendes Beiwerk in ihrer Winzigkeit genauso liebevoll ausgearbeitet wurden wie die größer gemalten einflussreichen Personen dieser Zeit. Besonders überrascht war der Konzept- und Landartkünstler Serbay, für den seine aktuellen Arbeiten einen wichtigen Entwicklungsschritt darstellen, davon, dass durch die Vergrößerung und Einfärbungen Elemente zutage treten, die vorher kaum oder gar nicht zu sehen waren.

Im Osmanischen Reich, im Orient, war es durch den Islam eigentlich verboten, Menschen abzubilden. Die Maler haben aber trotzdem einige gemalt, die sind jedoch so klein, dass man sie kaum sieht. Und ich habe das vergrößert, und dann haben wir gesagt: 'Mensch, dieser Maler, der das gemalt hat, muss ja wirklich ein Schlawiner gewesen sein!'
Tamer Serbay im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Im Gespräch
Foto: © 2012 by Schattenblick

So finden sich in den vergrößerten Miniaturen, die im Atelierhaus im Anscharpark zu Tryptichen gehängt sind, manchmal erotische Details, die eigentlich als Affront der Künstler gegen die Herrscher hätten gewertet werden können. "Aber", so führt Tamer Serbay augenzwinkernd weiter aus,

es gibt Miniaturen von damals, die sind fast so wie das Kamasutra. Diese Schriften waren jedoch geheim, das heißt, nur solche Leute wie der Wesir und der Großwesir haben sie bekommen, aber das Volk durfte das nicht sehen. Und diese Bücher gibt es im Topkapi-Museum in Istanbul, dort kann man die Erlaubnis bekommen, daran zu arbeiten und das werde ich auch nochmal machen.

Tamer Serbay, der 1947 in Malatya in der Türkei geboren wurde und mit Unterbrechungen seit 40 Jahren in Kiel lebt, hat sich nur für eine sehr kurze Zeit seiner künstlerischen Laufbahn politisch mit dem Problem der türkischen, jugoslawischen und griechischen Gastarbeiter, die in den sechziger und siebziger Jahren nach Deutschland kamen, auseinandergesetzt. Da Serbay als Student der Agrarwissenschaften in Kiel nicht unmittelbar von dem Schicksal betroffen war, das viele Gastarbeiter unterschiedlichster Herkunft bis heute teilen, verließ er dieses Feld und überließ es jenen, die "wirklich etwas dazu zu sagen hatten"; so zum Beispiel dem jugoslawischen Zeichner Dragutin Trumbetas, der als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen war und aus der Sicht Serbays "authentischere" Bilder schuf, als er selbst es mit seinen "Erfahrungen aus zweiter Hand" jemals hätte erreichen können.

Mischtechnik in Bettdeckenoptik auf Papier - Foto: 2012 by Schattenblick - © by Tamer Serbay 'Blumen wie auf einer Bettdecke' - Foto: 2012 by Schattenblick - © by Tamer Serbay

links: Mischtechnik in Bettdeckenoptik auf Papier
Foto: 2012 by Schattenblick
© by Tamer Serbay
rechts: 'Blumen wie auf einer Bettdecke'
Foto: 2012 by Schattenblick
© by Tamer Serbay


Einige Arbeiten aus dieser kurzen Zeit der sozialkritischen Auseinandersetzung, mit dem Serbay das Leben der Gastarbeiter reflektierte, werden in der aktuellen Ausstellung mit den Fotografien der Miniaturbilder kombiniert. Auf die meist zweifarbig leuchtenden Gemälde aus Papier sind Blumenmuster aufgetragen, die an Bettdecken erinnern, ein intensives Symbol, das Serbay damals für das Übersiedeln gewählt hatte.

Also nicht Koffer, sondern die Decke, weil sie einem am nächsten ist, darin schläft man, man fühlt sich geborgen, man versteckt sich darin und darin liebt man. Das ist die Sehnsucht und die habe ich damit eben bearbeitet. Ich habe gesagt, das gehört irgendwie zusammen und habe meine zwei Arbeiten dann hier zusammengesetzt.

Durch die beiden zueinander in Beziehung gesetzten Werkgruppen entstehen vielschichtige Erzählungen von Entrückung und Vertrautheit, aber auch von Identitätssuche und Heimatverbundenheit. Je nachdem, wo die konkreten Arbeiten Serbays zwischen seinen figürlichen Motiven angeordnet sind, wird die von den Bildern erzählte Geschichte neu beeinflusst. "Weil wir Lust am Experiment haben und weil es so spannend ist zu gucken, was diese jeweiligen konkreten, farbig-ornamentalen Objekte mit der Geschichte der Figuren machen, was für ein Omen sie der Story geben, hängen wir sie zur Finissage am 30. Mai 2012 noch einmal um!" so die Kunsthistorikerin Verena Voigt. Zu diesem Anlass wird dann im Atelierhaus um 19.00 Uhr ein Künstlergespräch mit Tamer Serbay stattfinden.

Obwohl er die politische Unterdrückung bestimmter Gruppen und vor allem die kriegerischen Auseinandersetzungen, die im osmanischen Reich geführt wurden, in vielen Punkten kritisch betrachtet, arbeitet Serbay, um die Zeitlosigkeit seiner Werke zu erhalten, nicht politisch kommentierend. Dennoch scheint es, als unterlaufe er mit seinen anmutigen, zeitgenössischen Arbeiten des öfteren die osmanischen Herrschergeschichten und die Geschichte von Herrschaft überhaupt, denn er hebt mit Vorliebe jene Figuren und Fabelwesen hervor, die über die Ränkespiele im Palast oder die geschichtliche Realität der osmanischen Historie hinausweisen und die heute auch uns von anderen, befreiten und befreienden Gefilden träumen lassen.

Haus 8 im Anscharpark Kiel - Foto: © 2012 by Schattenblic

Haus 8 im Anscharpark Kiel
Foto: © 2012 by Schattenblick

28.‍ ‍April 2012