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INTERNATIONAL/006: Kolumbien - Kunst! Mit Pinseln gegen das Vergessen (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Kolumbien
Kunst! - Mit Pinseln gegen das Vergessen

Von Elena Rusca und M.A.L.-Kollektiv


(10. Dezember 2018, Colombia Informa) - Die künstlerische Bewegung M.A.L. ist ein Künstler*innen-Kollektiv. M.A.L. steht sowohl für Freie Kunstbewegung (Movimiento Artístico Libre), als auch für: Beweg dich Lateinamerika! (Muévete América Latina) und für: Mach es zu etwas Verrücktem! (Muévelo a lo Loco). M.A.L. hat sich während des Kongresses der Völker 2010 in Bogotá zusammengefunden, um die Minga des sozialen und gemeinschaftlichen Widerstandes zu unterstützen. Minga bezeichnet eine gemeinsame solidarische Aktion oder einen Arbeitseinsatz für die Gemeinschaft. Nach getaner Arbeit wird gemeinsam gefeiert. Die Künstler*innen hatten im Vorfeld des Kongresses Wände bemalt, um die Landbevölkerung - Indígenas, Bäuerinnen und Bauern - bei ihrer Ankunft in der Stadt willkommen zu heißen. Nach dem Kongress haben sie sich als Gruppe konsolidiert und sind weiterhin auf die Straße gegangen, um gemeinsam zu malen.


Manuel Quintín Lame Chantre

Während der ersten Minga 2010 haben sie ein Wandgemälde von Manuel Quintín Lame Chantre (1880 - 1967), einem indigenen Anführer der Nasa, gemalt. Diese kollektive Arbeit hat dazu geführt, dass sie sich mit dem Volk der Nasa auseinander gesetzt haben: 2012 haben sie dann die Fassade der Nationalen Universität mit "bastones de mando" bemalt (ein bastón de mando ist ein Stab, der der Person, die ihn trägt, Autorität zuspricht, etwa einer indigenen Anführerin), um die Nasa darin zu unterstützen, dass alle bewaffneten Akteur*innen ihre Territorien verlassen müssen. 2013 ist M.A.L. nach Toribío und Tacueyó gereist und war Teil der Ersten Minga der Wandmaler*innen der Völker (Primera Minga de Muralistas de los Pueblos).

M.A.L. malt gigantisch große Bilder auf leere Flächen von Gebäuden. Mit Hilfe von ausziehbaren Pinseln, langen zusammengesetzten Stöcken mit Farbrollen, erreichen sie die Flächen in der Höhe, die im Gegensatz zu den Wänden weiter unten noch frei sind.

Zuerst malten sie Bilder von riesigen Tieren: Wale, Gockel, Frösche. Im Laufe der Zeit veränderten sie sich. Durch die Verbindung zu anderen Kollektiven und sozialen Organisationen verließ M.A.L. seine gewohnte Umgebung und lernte so andere Wirklichkeiten innerhalb der Stadt kennen: "Malen ermöglicht an andere Orte zu gelangen, an die man so nie kommen würde", erzählt Fonso und er fährt fort: "Es gibt Viertel, wo man nicht hingeht, wenn man keinen speziellen Grund hat. Aber wenn du wegen der Malerei oder der Arbeit hingehst, hast du freie Fahrt: Durch die Zusammenarbeit werden wir alle gleich."


"Würdiges Leben"

Mit einer multikulturellen Aktion im Westen von Bogotá im Jahr 2012 eröffnete sich dem Kollektiv die Möglichkeit, an verschiedene Orte der Stadt zu gelangen, um Aktivitäten wie Rap, Zirkus, Musik, Workshops über Nahrungssicherheit und natürlich Malerei anzubieten. Gemeinsam nahm das M.A.L.-Kollektiv auch am Tag der Recycler*innen [1] 2013 teil und organisierte mit anderen Gruppen ein Programm aus Theater, Musik, Zirkus und Ernährung.

Ein weiteres Beispiel für die Arbeit des Kollektivs ist das Wandbild "Würdiges Leben" von 2012. Auf Einladung von Guache, einem international bekannten urbanen Künstler aus Kolumbien, bemalte das Kollektiv die Mauer in Altos de la Estancia, Bogotá. Diese Mauer wurde gebaut, um den Berg abzustützen, nachdem einer der zerstörerischsten Erdrutsche von Lateinamerika mehrere Viertel unter sich begraben hatte.

Häufig arbeiten die Anwohner*innen mit dem Kollektiv zusammen, so können sie sich mit dem Pinsel in der Hand ihren Raum aneignen. Die Aktionen beleben die Orte, sie werden besser gepflegt und als eigene Räume wahrgenommen. Das ist nicht nur künstlerische, sondern auch soziale Arbeit. Die Aneignung von Räumen hat für das Kollektiv auch mit einem Gefühl von Gleichheit zu tun: M.A.L. besorgt die Werkzeuge und die Gemeinden können sich selbst erschaffen. Was die Werke von M.A.L. von den aktivistisch-politischen Wandgemälden unterscheidet, ist, dass sie niemals direkt oder eindeutig sind.

"In diesem Land muss das kritische Denken gestärkt werden, um der ständigen Manipulation durch die Medien einen Riegel vorzuschieben. In Kolumbien fördern weder das Bildungssystem noch die Medien kritisches Denken", kommentiert Fonso und weiter: "Die Idee ist doch, die benötigten Samen zu säen, damit eine Person eine eigene Haltung entwickelt und nicht, dass sie jeden Quatsch glaubt, den man ihr erzählt". Kritisches Denken baut man auf, indem man Werke erschafft, die ihr Fundament in den sozialen Gegebenheiten haben. M.A.L. arbeitete auch mit dem Zentrum für Erinnerung, Frieden und Wiedergutmachung [2] zusammen, dessen Aufgabe darin besteht, mit Hilfe der Opfer des bewaffneten Konflikts ein Geschichtszeugnis zu erstellen. Diese Arbeit ist sehr wichtig, da schon der Prozess der geschichtlichen Aufarbeitung auf viel Protest stößt: es ist schwierig die Dinge so erzählen zu können, wie sie wirklich geschehen sind.


Barrancabermeja

Herausragend sind die Arbeiten in Barrancabermeja, auf dem Platz des Viertels Campin. 1998 fand hier ein Massaker statt. Eine paramilitärische Gruppe und Mitarbeiter des ehemaligen Geheimdienstes DAS (Departamento Administrativo de Seguridad) griffen sich wahllos Menschen, um ihnen Gewalt anzutun, sie zu ermorden und verschwinden zu lassen. Und das in einer wegen der angrenzenden Ölförderung durch ECOPETROL hoch militarisierten Stadt. Zu diesem Platz in Campin sind Künstler*innen von M.A.L. gereist, um ihn gemeinsam zu renovieren.


Massaker an den Arbeiter*innen der Bananenplantagen

Eine Arbeit erinnert an das Massaker an den Arbeiter*innen der Bananenplantagen [3] vom 5. und 6. Dezember 1928 in der Gemeinde Ciénaga, Magdalena. Die kolumbianische Armee unter General Carlos Cortés Vargas schützte damals die Interessen des US-amerikanischen Unternehmens United Fruit Company, heute Chiquita Brands, und ermordete tausende Arbeiter*innen, die sich zu einem Streik zusammengefunden hatten. Die USA hatten damit gedroht, Kolumbien anzugreifen, wenn sich die Regierung nicht vor die United Fruit Company stellen würde.

Dieses Werk entstand in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Erinnerung, Frieden und Wiedergutmachung und zielt auf zwei Punkte ab: einer bezieht sich auf die Sensibilisierung für die geschichtliche Erinnerung und zum zweiten sollte mit Hilfe der Marmor-Steinmetze vom Hauptfriedhof ein persönlicheres Denkmal erschaffen werden, randvoll mit Zuneigung. Auch hier hat die Gemeinschaft bei der Umsetzung der Projekte mitgemacht. Die Integration ist einer der Grundpfeiler der Arbeit des M.A.L.-Kollektivs, denn eine Kunst, die Werkzeuge zur Reflexion anbietet, ist eine Kunst, die mit den Leuten arbeitet - im Kollektiv und an Orten und mit Themen, die nicht einfach sind.


Falsos Positivos

Ein weiteres schwieriges Thema, das M.A.L. bearbeitet, sind die sogenannten Falsos Positivos [4]: Das sind junge, unschuldige Menschen, die während des Bürgerkrieges vom Militär wahllos erschossen wurden und als gefallene Guerilla-Kämpfer*innen ausgegeben wurden. Unter der Regierung von Álvaro Uribe Vélez, mit Manuel Santos als Verteidigungsminister, wurde der Armee für jede*n tote*n Guerilla-Kämpfer*in eine Kopfgeldprämie in Form von Sonderurlaub, Beförderungen usw. versprochen.

So entwickelte sich ein System aus "Gefälligkeiten", in dem die Militärs nicht nur Guerilla-Kämpfer*innen ermordeten, sondern auch junge Menschen, vor allem aus ärmeren Bevölkerungsschichten. Ihnen wurden Arbeitsplätze auf dem Land vorgetäuscht, um sie aus der Stadt zu locken, sie zu ermorden und zu ihrer Liste der ermordeten Gueriller*s hinzuzufügen, um die Quoten zu erreichen. Soacha, im Süden von Bogotá, war eines der Epizentren der Falsos Positivos. In 2018 reiste M.A.L. in Zuammenarbeit mit Usted Mismo (Du selbst) gemeinsam mit den Müttern von Soacha nach Ocaña, einem Landkreis im Norden von Santander, wo viele Leichen ihrer ermordeten Kinder aufgetaucht waren. Ein Ort, der für die Mütter mit Erinnerungen und Schmerzen aufgeladen ist. Einige waren schon dort, um die Überreste ihrer Söhne zu identifizieren, andere hatten sich nicht getraut, aber nun reisen sie gemeinsam und geben dem ganzen mit Hilfe der Kunst eine weitere Bedeutung. Sie reisen, um die Nachricht der bedingungslosen Liebe an die Wand zu malen, während der Suche und der Verzweiflung, und um daran zu erinnern, dass dieses Vorgehen zwar nicht mehr so systematisch betrieben wird wie zwischen 2006 und 2009, aber immer noch aktuell und Teil der traurigen Realität in Kolumbien ist.


Jaime Garzón

Eines der größten und anerkanntesten Wandbilder ist Jaime Garzón gewidmet. "Das M.A.L.-Kollektiv sieht den Prozess der Erinnerung als etwas Lebendiges und Kollektives, der die Kraft hat etwas zu verändern, um die "offizielle" Geschichtsschreibung zu erweitern. Wir glauben, dass andere Ergebnisse möglich sind, dass die Ideen Wurzeln sind und wir in die Machtstrukturen eindringen werden, damit Gedanken wie die von Jaime Garzón erblühen und den Hokuspokus, der unsere Gesellschaft korrumpiert und bedroht, in den Schatten zu stellen." Eine Kunst, die dafür sorgt, dass das Lachen weiter ertönt, hin zu einer bewussten Welt.


Elena Rusca ist Journalistin und Fotografin. Sie ist Korrespondentin von Colombia Informa in Genf, Schweiz.

Ein Video zur Entstehung eines Wandbildes kann aufgerufen werden unter [5].

Mehr Informationen in den Sozialen Medien:
www.facebook.com/malcrewoficial/
https://www.instagram.com/malcrewoficial/
https://www.behance.net/MALCREW


Anmerkungen:
[1] https://www.npla.de/poonal/welttag-1-maerz-recycling-ohne-recyclerinnen-ist-muell
[2] http://centromemoria.gov.co
[3] https://www.npla.de/poonal/vor-90-jahren-massaker-an-den-arbeiterinnen-der-bananenplantagen
[4] https://www.npla.de/poonal/kolumbien-nachforschungen-bringen-zehntausend-staatliche-verbrechen-unter-der-regierung-uribe-ans-licht-teil-1
[5] https://www.npla.de/wordpress/wp-content/uploads/2019/01/el-valor-de-la-palabra-mural-homenaje-a-jaime-garzon-bogota-2012-2018.jpg


URL des Artikels:
https://www.npla.de/wordpress/wp-content/uploads/2019/01/el-valor-de-la-palabra-mural-homenaje-a-jaime-garzon-bogota-2012-2018.jpg


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https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Quelle:
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Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin
Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: poonal@npla.de
Internet: http://www.npla.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2019

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