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KALENDERGESCHICHTEN/071: 11-2016   Netzgeflüster ... (SB)


Zwei junge Pilze stehen ängstlich im Moos, sie erblickten soeben zwei Pilzsammler - Buntstiftzeichnung © 2016 by Schattenblick

Die Herbstzeit nahm ihren Anfang. Die älteren Pilze wurden unruhig und - das ahnten die jüngsten der Pilzgemeinschaft - bald würde etwas geschehen. Doch was mochte das sein? Es schien fast so, als würden sich die Großen fürchten.

Giftchen und Knolle waren sehr neugierig. Um in Erfahrung zu bringen, was hier unter der Erde vor sich ging, was der Grund für die Unruhe sein mochte, suchten die beiden die Älteste, die Urmutter des Pilzgeflechtes auf. Von ihr sagte man, dass sie alles wusste. Da Pilze im Allgemeinen nicht so gut zu Fuß waren, hatten sie in ihrem Heim, dem Pilzgeflecht, eine einfache Methode entwickelt, um zueinander zu gelangen oder Nachrichten auszutauschen. Man musste sich einfach überall hindenken. Und genau das taten die beiden und gerieten sofort in die Nähe der Alten.

"Hey, also hallo, warum sind die Erwachsenen so aufgeregt?", platzte Giftchen mit der Frage heraus. "Ja, was geht hier vor?", schloss sich Knolle gleich an. Die Urmutter Pilz sah die beiden an, schwieg aber beharrlich und regte sich kein bisschen. "Vielleicht ist sie schwerhörig?", mutmaßte Giftchen und brüllte ihre Frage noch einmal. Knolle schüttelte den Kopf und erinnerte sich, dass Urmutter Pilz nicht mit jedem sprach. Nur jenen, die eine wirklich aufrichtige Frage hatten, die nicht aus purer Neugier entstand, gab sie hilfreiche Antworten.

"Sei still, sie kann uns hören!", fuhr Knolle Giftchen an. "Pah, und warum sagt sie dann nichts?", ärgerte sich Giftchen. "Weil sie nur mit denen spricht, die eine wirkliche Frage haben." "Aber wir haben doch eine!", begehrte Giftchen auf, "eine wirkliche Frage, hä? Was soll das sein?"

"Woher soll ich das wissen? Komm, lass uns verschwinden, wir finden selber raus, was hier los ist!", kommandierte er Giftchen und schon dachten sie sich zurück an ihren Platz.

Wie der Zufall es so wollte, kamen sie gerade zur rechten Zeit, um ein Gespräch zu belauschen. Mehrere Pilze redeten durcheinander und die beiden mussten sich schon sehr bemühen, um zu begreifen, wovon da die Rede war. Es drehte sich um die Oberwelt und die Gefahren, die dort lauerten. Zuletzt hörten sie noch: "Es hilft ja nichts, wir müssen hinauf, wie jedes Jahr. Aber es ist größte Vorsicht geboten, denn die Menschen werden immer ..." Der Rest des Satzes ging im allgemeinen Geraune unter.

"Mist, jetzt wissen wir nicht viel mehr als vorher!", beschwerte sich Giftchen. "Doch, immerhin ist jetzt klar, dass alle auf die Oberwelt gehen und dass das gefährlich ist, weil dort Menschen sind", stellte Knolle klar und grinste bedeutungsvoll, "ich liebe Gefahren, also, kommst du mit nach oben?"

"Du bist ja verrückt?", raunzte Giftchen ihn an. Ihr war doch unbehaglich zumute. "Aber ich lass dich nicht allein in so ein Abenteuer aufbrechen! Klar komme ich mit!"

Wenig später dachten sie sich bis kurz unter die oberste Erdschicht. Weiter funktionierte das mit dem Hindenken nicht und schon gar nicht auf der Oberwelt. Den verbleibenden kurzen Weg mussten sie selbst zurücklegen, indem sie wuchsen. Das war zwar sehr, sehr anstrengend, aber eine andere Möglichkeit gab es nun einmal nicht. Leider war es auch ziemlich lange sehr, sehr anstrengend. Als sie es endlich geschafft hatten und ihre Köpfe aus dem Waldboden ragten, staunten sie nicht schlecht über diese völlig neue Aussicht. Bäume ragten unendlich weit in den Himmel, von dem nur wenig auszumachen war, da Blätter die Sicht verdeckten. Büsche und Gräser, Moose und Farne - was war das für eine grüne Pracht! Ab und zu erreichte ein Sonnenstrahl den Waldboden und streichelte auf seinem Weg die beiden jungen Pilzköpfe. Sie schüttelten sich vor Lachen, denn es kitzelte. Und dann blickten sie nach unten und sahen ihre Körper weiter aus dem Erdboden sprießen. Nach einer Weile boten sie den eindrucksvollen Anblick frischer Pilze, die den ausgewachsenen glichen, nur eben noch von viel kleinerer Statur.

Plötzlich zischte Knolle, der auf einmal ganz erstarrt dastand: "Pssst, hörst du das?" Giftchen tat es ihm gleich, regte sich nicht und lauschte. Was geschah hier? Was krabbelte denn da auf sie zu und um sie herum? Was flog hier und dort um ihre Köpfe und warum raschelte es in den trockenen Blättern und Tannennadeln? Wer schlug sich da durchs Unterholz? Den beiden Abenteurern wurde schwindelig. Das war eindeutig zu viel Neues auf einmal. Doch es sollte noch weitaus schlimmer kommen für Giftchen und Knolle. Noch bevor sie sich wirklich richtig fürchten konnten, begann der Erdboden zu beben. Ein rhythmisches Stampfen schien die Ursache zu sein. Die beiden sahen sich fragend an, doch keiner wusste einen Rat. Eine Flucht würde zu lange dauern, so schnell konnten sie nicht wieder in den Boden verschwinden. Also, was tun?

"Erinnerst du dich noch an die Geschichte von unseren Verwandten, den Giftpilzen und den Tarnern?", wollte Knolle plötzlich wissen, während das Beben sich weiter in ihre Richtung fortsetzte. "Ja, doch, aber wie soll uns das weiterhelfen?", fauchte Giftchen. "Denk doch mal nur an die Tarner, ich hab nicht mehr alles im Gedächtnis! Wie war das noch, was haben die getan?", drängte Knolle sie.

"Ah, Moment, ich hab 's gleich - verdammt, jetzt weiß ich, was du vorhast. Warte noch, ich komme gleich drauf. Ganz sicher erinnere ich mich daran, dass die Tarner so getan haben, als wären sie tödlich giftig. Wie aber haben sie das gemacht? Verflixt und tausend verhedderte Fäden noch mal, mir fällt es nicht ein!", schimpfte Giftchen.

"Wir haben keine Zeit mehr", jaulte Knolle auf, doch gleich darauf jubelte er los: "Jetzt, ja, ich glaube, ich hab' s! Was hast du da gerade herumgezetert?" Giftchen verstand überhaupt nichts, wiederholte aber ihren Fluch, "verflixt und tausend verhedderte Fäden noch mal?" "Das ist es!", lachte Knolle und sang laut:

"Faden um Faden, ein Pilzgeflecht.
Der von mir isst,
dem geht es schlecht.
Ich werde rot,
dann ist er tot.
Ich werde braun,
er landet im tödlichen Traum
Das ist der Bann!
Keiner rührt mich an"

Giftchen hörte die erste Zeile und stimmte sofort ein. Sie wiederholten den Vers und tatsächlich verwandelten sie sich - sie hatten den richtigen Tarnvers gesungen. Und gerade rechtzeitig. Denn vor ihnen bauten sich zwei riesige Gestalten auf - und bückten sich zu ihnen hinab. Aus ihren bösen Gesichtern blickten neugierige und hungrige Augen, ihre Münder öffneten sich und zwischen ihren Zähen leckte eine rosa Zungenspitze ihre Lippen. Knolle und Giftchen erstarrten. Inständig hofften sie, dass sie nun wie furchtbar giftige Pilze aussahen. "Die nehmen wir mit, die sehen doch lecker aus." -

"Meinst du, ich weiß nicht, auf mich machen die eher einen üblen Eindruck, giftig oder aber mindestens ungenießbar." - "Ach, was! Seit ich mich nur noch von Pflanzen ernähre, kann ich nicht mehr so wählerisch sein", sagte der andere. Er zückte aber trotzdem sein Smartphone und seine Pilz-App zeigte ihm deutlich, dass es sich bei diesen beiden Pilzen um Giftpilze handelte. "Tja, du hattest recht, sie sind ungenießbar. Ach, Karl, es ist gar nicht so einfach, nur Grünzeug zu verspeisen. Aber Tiere will ich auch nicht essen. Die tun mir leid."

Dann verließen die beiden Menschen den Ort, und Knolle und Giftchen standen wieder allein in dem Moos. Jetzt hatten sie aber nichts Eiligeres zu tun, als sich auf den Heimweg zu machen. Sie wollten lieber unter der Erde leben, hier oben war es ihnen zu gefährlich. Es dauerte seine Zeit, bis sie wieder ihren Platz im Pilzgeflecht eingenommen hatten.

"Wieso haben diese Menschen mit den Tieren Mitleid und wollen sie nicht mehr essen? Und warum stört es sie kein bisschen, uns und die anderen Pflanzen zu verschlingen? Verstehst du das?", ereiferte sich Giftchen. "Vielleicht denken sie, dass wir gar nicht lebendig sind. Aber woher soll ich wissen, was in ihnen vorgeht. Ich bin jedenfalls froh, dass wir uns tarnen und uns retten konnten. Und eines noch: So schnell brauche ich kein Abenteuer mehr", seufzte Knolle.

"Weißt du", überlegte Giftchen, "ich denke, dass wir nun eine richtige Frage haben, die wir der Ur-Pilzmutter stellen können. Sie weiß bestimmt etwas über Menschen und was sie denken, warum sie Mitleid mit Tieren, aber nicht mit uns Pilzen und den Pflanzen haben." "Gut, dann wollen wir sie morgen aufsuchen und fragen. Jetzt aber will ich mich ausruhen."

Ende


zum 1. November 2016


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