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KALENDERGESCHICHTEN/064: 04-2016   Nicht umsonst ... (SB)



Vier unterirdische Baumwurzelwesen schauen erwartungsfroh auf den Essenstopf, der auf rotglühenden Steinen steht - Buntstiftzeichnung © 2016 by Schattenblick

Nicht umsonst ...

Hier unten im tiefen Grün des Waldes war es finster. Kaum ein Sonnenstrahl verirrte sich bis zu dem Wurzelwerk der großen Bäume. Feuchte Moosteppiche breiteten sich über die kleine Öffnung aus, die versteckt hinter dem Pilz mit dem riesigen Hut in die Tiefe führte. Menschen sahen einen Baum, Moos und einen Pilz - mehr nicht. Niemand war in der Lage, den Eingang zu erkennen, der zu denen führte, die sich auch nicht gern zeigten - und schon gar nicht den Menschen. Tief verborgen im sicheren Waldboden hausten, unsichtbar für alle Großen, in wilder lustiger Manier die Unterirdischen, stritten, lachten, weinten, spielten, schimpften und neckten oder ärgerten sich - aber sie blieben stets beisammen.

"Nils, verdammt, was wird das?", aufgebracht rief seine Gefährtin Krinke ihm hinterher. "Du willst doch nicht jetzt am hellerlichten Tag über den Waldboden krauchen?"

"Hörst du es denn nicht, riechst du nichts, fühlst du es nicht? Da sind Menschen, ganz in der Nähe, und ich bin sicher, sie führen nichts Gutes im Schilde. Ich muss mich näher an sie heranschleichen, um zu erfahren, was sie vorhaben!"

"Sei vorsichtig, lass dich nicht erwischen, bitte!", lenkte sie ein. Ihr war klar, wie wichtig es war, über alles Bescheid zu wissen, was im Wald vor sich ging. Besonders wichtig auch dann, wenn Menschen ihn durchstreiften.

Nils kletterte die Leiter hinauf. Er war gut darin, denn so eine Leiter zu erklimmen, die aus Heuhalmen und kleinen Zweiglein geflochten war, war schwieriger als es aussah. Als er den Eingang zur Großen Welt erreichte, drehte er sich um: "Bin gleich wieder da!" Dann war nichts mehr von ihm zu sehen.

Nachdenklich blickte Krinke auf die Stelle, an der sich eben noch ihr Gefährte befand. Schließlich wendete sie sich ab und hockte sich neben die Feuersteine. Sie hatte schon früh morgens den Topf mit Wasser darauf gestellt. Nun schnippelte sie viele verschiedene Kräuter und Beeren klein, warf sie in den Topf und rührte alles in dem köchelnden Wasser um.

"Wenn Nils wieder da ist, können wir essen", freute sie sich, "ich werde gleich mal allen anderen Bescheid sagen." Sie trat auf einen kleinen Schemel, um an die hohle Wurzel heranzureichen und rief hinein: "Sobald Nils zurück ist, gibt 's Essen!" Krinke setzte sich an die wärmenden Feuersteine und flickte ihren Mantel. Zwischendurch stand sie immer wieder auf, um in dem Topf zu rühren.

Irgendwann musste sie eingenickt sein. Ihr knurrender Magen hatte sie geweckt. "Oh je, die Suppe", rief sie laut, warf den geflickten Mantel beiseite, sprang auf die Füße und sah in den Topf. Darin befand sich aber keine Suppe mehr, denn die war mittlerweile zu einem würzigen Brei verkocht. Als sie mit dem Kochlöffel umrührte, ihn dann hinaus hob, um das Essen zu probieren, blieb ein dicker Klumpen daran kleben.

"Lecker, lecker, lass uns essen, das riecht schrecklich, scheußlich, appetitlich, köstlich", trällerte Oke in den höchsten Tönen. "Hab' auch Hunger, gib schon her, lass uns nicht länger warten, Nils kann essen, was übrig bleibt", forderte Jess, schlecht gelaunt, wie immer.

"Soll das heißen, dass Nils noch nicht zurück ist?", aufgeregt drehte sie sich zu den beiden um und legte den Kochlöffel auf den Tisch.

"Ja, er ist noch nicht wieder hier aufgetaucht. Und du hast uns schon vor einer Ewigkeit versprochen, dass es Essen gibt!", brummte Jess.

"Oh, Jess, kannst du immer nur ans Essen denken? Ich mache mir Sorgen! Wir sollten ihn suchen. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen. Immerhin wollte er die Menschen belauschen. Wer weiß?" Sie kam nicht weiter, denn Jess nörgelte dazwischen: "Ja, ja, wir gehen ihn suchen, aber vorher muss ich unbedingt was essen. Mit einem knurrenden Magen, gehe ich nicht da rauf!"

Indessen war Nils seinen guten Sinnen gefolgt, lauschte, roch und suchte die Gegend mit scharfem Blick ab. Nach einer ganzen Weile konnte er sie endlich sehen. Dort standen drei riesige Menschenmänner zusammen. Einer lehnte an einem Baum, ein anderer hielt einen Schreibblock und einen Stift in seinen Händen und der letzte redete laut. Seine Stimme dröhnte, so dass Nils sich die Ohren zuhalten musste. Dumpf klangen nun die Worte des Mannes: "Ich denke wir können bald mit den Arbeiten beginnen. Es kommt uns gut gelegen, dass der Winter dieses Jahr sehr milde war und der Boden nicht gefroren ist. Sehr gute Bedingungen, um schon bald mit dem Fällen der Bäume zu beginnen."

"Ja, Herr Bürgermeister, da kann ich Ihnen nur zustimmen. Sobald die Fläche hier von Bäumen und Sträuchern befreit ist, legen die Leute vom Straßenbau los. Vielleicht werden wir Ende des Sommers schon fertig sein. Dann können wir die Straße für den Autoverkehr freigeben." "Schön, schön, sehr gut, bin hoch erfreut", begeisterte sich der Bürgermeister.

Nils wurde ganz übel. Was musste er da hören? Die Bäume sollten gefällt werden, damit eine Menschenstraße gebaut werden konnte? Er nahm die Hände von den Ohren, drehte sich um und eilte davon. Zurück beim großen Pilz, krabbelte er in den Eingang, kletterte die Leiter hinab und landete direkt vor Krinke, die ihn schon hatte kommen hören. "Was ist passiert? Warum warst du so lange weg? Geht es dir gut? Bist du verletzt ...?"

"Halt, halt", stoppte Nils sie, "es ist mir gelungen die Menschen zu belauschen. Sie wollen alle Bäume fällen, um eine Straße zu bauen. Wir müssen etwas unternehmen - und zwar sofort!"

Neugierig hatten sich inzwischen auch die anderen des winzigen Völkchens um ihn versammelt. "Das darf nicht wahr sein. Oh je, oh weh, das dürfen wir nicht zulassen!" Alle waren sich einig. "Und, was wollen wir unternehmen?", brummte Jess. Er nahm noch einen Löffel von der dicken Suppe aus seiner Schüssel, die er immer noch in der Hand hielt. Alle sahen ihn erstaunt an. Das war ein gutes Zeichen. Wenn Jess brummte und dabei aber noch weiter essen konnte, dann arbeitete er schon an einem Plan. "Guckt mich nicht alle so an, verdammt, wie soll ich denn dabei essen, ich meine, denken?"

Etwas verlegen blickte nun jeder irgendwohin, auf den Boden, an die Wand, auf den Nebenmann, nur nicht in seine Richtung. Plötzlich warf Jess seine Schüssel auf den Boden. Sie zersprang, die Scherben verstreuten sich in der Gegend, die restliche Suppe auch, und Jess brüllte: "Ich hab 's. Ich weiß, wie wir es machen!"

Wieder sahen alle gebannt auf Jess, der sich diesmal nicht darüber beschwerte. Er setzte sich auf den Boden, die anderen taten es ihm gleich. "Nils, wie weit entfernt ist der Ort, an dem du die Menschen belauscht hast?" Nils überlegte kurz und beschrieb dann den Weg, den er gegangen war. "Gut, gut, sieht so aus, als könnten wir sie noch erwischen, wenn wir uns beeilen und hier keine Wurzeln schlagen!"

"Und dann - die sind doch zu dritt und viel, viel größer", ertönte ein leiser Protest. "Habt Geduld. Wir müssen auf jeden Fall versuchen, die Menschen von ihrem Vorhaben abzubringen, bevor sie ihre schrecklichen Maschinen holen! Gegen die haben wir es nämlich wirklich schwer. Also, wenn wir die drei jetzt noch einholen wollen ...", ungeduldig stampfte er mit dem Fuß auf. "Ja, ja, aber sag schon noch, was geschieht dann?" - "Verflucht, ich sagte: RENNEN!", fauchte Jess und tat selbiges und zwar schnell.

Die anderen folgten ihm und als sie völlig aus der Puste an dem Ort anlangten, den Nils beschrieben hatte, mahnte Jess alle zu schweigen. Er stellte sich vor sie hin, winkte die kleine Schar zu sich und flüsterte: "Jeder muss nach seinem Können versuchen, die drei Menschen am Fortgehen zu hindern, so dass sie an einem Fleck gebannt werden. Ihr wisst schon, mit Stolperfäden, Spinnweben, kleinen Erdklumpen, Beeren oder Stöckchen und Steinchen werfen - alles, was euch so in den Sinn kommt. Hört ihr, nach Herzenslust, was euch gerade so einfällt. Haben das alle verstanden?"

Eifriges Nicken war die Antwort, mit der Jess zufrieden war und weitersprach: "Ich laufe zum Bach, rufe die Waldzirpen und komme mit ihnen nach. Sie werden solange um die Menschen herum zirpen, bis die alles ganz und gar vergessen haben. Und dann stehen sie dumm da!" "O nein, Jess, du weißt doch wohl, dass die Waldzirpen nie etwas umsonst tun. Immer wollen sie etwas dafür haben!", regte Krinke sich auf.

"Psst, natürlich weiß ich das, aber nun genug davon! Lass das meine Sorge sein. Mir wird schon etwas einfallen, wie ich sie dazu überreden kann, uns zu helfen." "Die Zirpen sind schon beinahe so selbstsüchtig wie die Menschen", keifte Krinke wütend vor sich hin.

Der kleine Trupp der angriffslustigen Unterirdischen erreichte die drei Männer gerade noch rechtzeitig, bevor sie sich auf den Weg zu ihren Autos machten. Da die Unterirdischen recht unscheinbar sind und im allgemeinen von Menschen übersehen werden, konnten sie sich ungehindert bewegen und aus allen möglichen Winkeln mit Beeren, Steinchen oder Nüssen nach den Männern werfen. Einige ganz mutige sprangen auf die Menschenköpfe, krallten sich in ihren Haaren fest und ließen sich fallen, so dass es kräftig ziepte. Allerdings mussten die kleinen Furchtlosen dann schnell vom Kopf verschwinden, denn die Männer griffen sich in ihr Haar und hätten dabei bestimmt den einen oder anderen erschlagen.

Als Jess mit den Zirpen hinzu kam, freute er sich, über den heldenmütigen Einsatz seiner Kumpane. Einen kleinen Moment sah er zu, dann richtete er sich mit noch einer zusätzlichen Bitte an die Waldzirpen: "Könntet ihr den Menschen wohl noch eine gehörige Portion Angst einzirpen? Wenn die drei Männer dann in Zukunft an den Wald denken, sollten sie Furcht verspüren. Wenn sie ihn dennoch betreten, dann sollten sie große Ehrfurcht empfinden und keiner von ihnen soll es wagen, einem Lebewesen des Waldes ein Leid zuzufügen."

"Sei versichert, Jess, so wird es geschehen, ganz wie du es wünscht", antworteten die Waldzirpen mit süßlicher Stimme und begannen mit ihrer Arbeit. Als sie mit ihrem Werk zufrieden waren, zogen sie sich wieder in die Mitte des Waldes zum Bachlauf zurück.

"Was machen Sie denn hier, Herr Bürgermeister?", fragte einer der Männer. "Ich weiß auch nicht. Am liebsten würde ich nach Hause gehen. Irgendetwas piesackt mich ganz fürchterlich. Ich kann aber nichts und niemanden sehen." - "Also, meine Herren", mischte sich der dritte Mann ein, der die Bäume fällen wollte, "ich schlage vor, wir verlassen gemeinsam den Wald. Das ist mir hier entschieden zu unheimlich. Außerdem weiß ich gar nicht, wie ich hierher gekommen bin und was ich eigentlich hier will? Wissen Sie das vielleicht?"

"Nein", antwortete der Bürgermeister, "aber ich möchte den Wald auch lieber schnell hinter mir lassen, denn mir ist irgendwie mulmig zumute." - "Tse, tse, tse, das wird ja immer doller", sagte der Mann vom Straßenbau laut zu sich selber, "ich werde doch wohl nicht tüddelig, also, so etwas aber auch, nein, nein", dabei schüttelte er den Kopf, "was wollte ich nur im Wald, mitten am Tag?" Dann stapften die drei Menschen verwirrt zu ihren Autos und folgten dem Weg zurück ins Dorf.

"Und du meinst, wir haben jetzt Ruhe vor ihnen?", wagte Nils vorsichtig zu fragen und drehte sich zu Jess um, erhielt aber keine Antwort. Krinke ging ein Stück des Weges neben Jess und fragte ihn: "Was hast du eigentlich den Zirpen angeboten? Sie waren wirklich sehr hilfsbereit." Aber Jess schwieg, wandte den Blick ab und beschleunigte seine Schritte. Krinke ließ nicht locker, rannte ihm hinterher, holte ihn rasch ein und stellte ihre Frage noch einmal: "Was zum Teufel hast du den Waldzirpen versprochen?"

Jess blieb stumm. Niemand hat je erfahren, was er den Zirpen für ein Versprechen gab. Allgemein bekannt ist nur, dass Zirpen aller Art den Gesang lieben und Honig. Eines aber hatte sich nach dieser Begebenheit verändert: Jeden Morgen vor Sonnenaufgang verschwand Jess und kam erst spät des Nachtmittags zurück - brummelig und hungrig - und das ging eine ganze Weile so, bis schließlich alles wieder seine unterirdische Gewohnheit hatte.


zum 1. April 2016


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